Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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II
Jung Powell sieht und hört

»Du erinnerst dich,« fuhr Marlow fort, »daß ich gefürchtet hatte, Herrn Powells Mangel an Erfahrung würde ihn hindern, das Ungewöhnliche zu begreifen. Das Ungewöhnliche, das ich dabei im Sinne hatte, war besonders heikler Art: das Ungewöhnliche in ehelichen Beziehungen. Ich konnte wohl mit Recht die Beobachtungsgabe eines jungen Mannes bezweifeln, der von der genauen Erfüllung seiner Berufspflichten zu stark in Anspruch genommen war, um manches bemerken zu können, was an und für sich schwer und unter den gegebenen Umständen doppelt schwer erkennbar war. Auf den meisten Schiffen hat ein Zweiter Offizier wenig Berührungspunkte mit der Frau des Kapitäns. Er sitzt bei den Mahlzeiten mit ihr an einem Tisch, mag vielleicht dann und wann mehr oder weniger freundlich wegen gleichgültiger Dinge angesprochen werden und vielleicht auch die Möglichkeit haben, ihr auf Deck einige kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen. Und das ist alles. Unter solchen Umständen sind gewisse Anzeichen nur einem sehr scharfen und geübten Auge erkennbar. Dabei spiele ich auf Verwicklungen an, die oft so heikel sind, daß nicht einmal die unmittelbar Betroffenen sich ihrer stets bewußt sind.

Jawohl. Herr Powell, den der Zufall seines Namens auf die schwimmende Bühne dieser Tragikomödie geführt hatte, wäre für meine Zwecke völlig nutzlos gewesen, wenn nicht das auffallend Ungewöhnliche seine Aufmerksamkeit vom ersten Augenblick an geweckt hätte.

Wir wissen schon, wie er an Bord des Schiffes kam, das sich seinem ängstlichen Bestreben, seine Laufbahn richtig zu beginnen, so unverhofft dargeboten hatte. Er war, atemlos nach der Hetzjagd seiner letzten Besorgungen, an Bord erschienen, von zwei schauerlichen Nachtvögeln begleitet und unter der Bedeckung eines Schutzmanns auf der Ronde, war von einem asthmatischen, kümmerlichen Schiffslieger mit der Warnung empfangen worden, er solle keinen Lärm in dem dunklen Gang machen, weil der Kapitän und seine Frau schon an Bord wären. Schon das an sich war etwas Ungewöhnliches. Kapitäne und ihre Frauen kommen im allgemeinen keinen Augenblick früher als unbedingt nötig an Bord. Sie ziehen es vor, die letzten Stunden mit ihren Freunden und Bekannten zuzubringen. Ein Schiff in einem der älteren Docks von London, mit seinen Beschränkungen wegen des Brennens von Licht usw., ist nicht der Platz für einen heiteren Abend. Da aber die Ebbe um sechs Uhr morgens einsetzen sollte, so schien es immerhin verständlich, daß sie schon abends zuvor an Bord gekommen waren.

Gerade damals war Jung Powell sehr zu der Annahme geneigt, daß jedermann froh sein müßte, mit dem Land abgeschlossen zu haben. Wir wissen, daß er von jung auf Waise war, ohne Brüder und Schwestern – ohne alle näheren Verwandten, glaube ich, mit Ausnahme jener Tante, die sich mit seinem Vater gestritten hatte. Kein Trennungsschmerz stand der ruhigen Genugtuung im Wege, mit der er bedachte, daß nun alle Sorgen vorbei waren, daß nichts mehr als Pflichten vor ihm lagen und daß er nun vom Tagesgrauen an und für eine lange Reihe von Tagen immer wissen würde, was er zu tun hatte. Eine sehr beruhigende Gewißheit. Er freute sich daran, im Dunklen, während er ausgestreckt in seiner Koje lag, die neuen Decken über sich. Eine Uhr an Land, jenseits der Docktore, schlug zwei. Dann hörte er nichts mehr, weil er in einen leisen Schlaf verfiel, aus dem er mit einem Satze auffuhr. Er hatte sich nicht ausgezogen, es war kaum der Mühe wert erschienen. Er sprang auf und ging an Deck.

Der Morgen war klar, farblos, grau gedeckt; das Dock lag wie eine Rauchglasscheibe, erfüllt von den Spiegelbildern der Warenschuppen, der Rümpfe und Masten schweigender Schiffe. Wenige Menschen zeigten sich da und dort auf den fernen Kais. Längsseits stand eine Gruppe von Männern mit Bettsäcken und Seekisten. Andere kamen die Zufahrtsstraße herunter, zwischen hohen, blicklosen Mauern, und umgaben einen Handkarren, der mit noch mehr Bündeln und Kisten beladen war. Es war die Mannschaft der Ferndale. Sie kam allmählich an Bord. Powell sah sich die Gesichter an, während sie an ihm vorbei achtern gingen und das geräumige Deck mit dem Scharren ihrer Tritte und dem Murmeln ihrer Stimmen erfüllten; es war wie das Erwachen einer Welt, die in den Raum hinausgeschleudert werden sollte.

Weitab, am Ende des glasklaren Streifens inmitten des langen Docks, sah Herr Powell die Schlepper ruhig durch die offenen Schleusen einfahren. Eine gedämpfte, feste Stimme hinter ihm unterbrach seine Betrachtungen. Es war Franklin, der stämmige Erste Offizier, der ihn aus seinen vorstehenden Augen gespannt musterte und dabei sagte: ›Sie nehmen sich am besten gleich ein paar Leute mit und sehen achtern nach dem Rechten. Wir werfen los.‹

›Jawohl, Herr‹, sagte Powell dienstfertig; doch blieben sie noch einen Augenblick stehen und sahen einander unverwandt an. Etwas wie ein leises Lächeln umspielte die Lippen des Ersten Offiziers, kurz bevor er mit seinem raschen Schritt nach vorn ging.

Als Herr Powell an die Hütte kam, griff er grüßend vor Kapitän Anthony, der dort allein war, an die Mütze. Er sagte mir, er habe damals zum erstenmal seinen Kapitän richtig gesehen. Der Tag zuvor im Heuerkontor hatte nicht gezählt, wegen des schlechten Lichtes und seiner eigenen Aufregung über den durch ein so jähes Wunder erhaltenen Posten. Der Kapitän war ihm damals viel älter und wuchtiger erschienen. Nun war er überrascht über die schlanke Gestalt, breit in den Schultern, schmal in den Hüften, über das Feuer der tiefliegenden Augen und den elastischen Schritt. Der Kapitän sah ihn fest an, nickte leicht und fuhr fort, das Hüttendeck mit einem Ausdruck auf und ab zu schreiten, als sähe er nichts, was vorging; den Kopf gereckt, rasch in jeder Bewegung.

Powell blickte ihn mehrmals verstohlen an, mit einer Neugier, die unter diesen Umständen sehr natürlich war. Er trug eine kurze, graue Jacke und graue Mütze. In dem Frühlicht, das nur klarer, nicht heller wurde, konnte Powell die leicht eingefallenen Wangen unter dem gestutzten Bart erkennen, die senkrechte Stirnfalte und einen Zug harter Entschlossenheit um den Mund.

Es war noch zu früh, als daß die Arbeit im Dock schon begonnen haben konnte. Das Wasser glänzte ungetrübt, nirgends auf den langgestreckten Kais zeigte sich irgendeine Bewegung, bis auf die paar Dockarbeiter, die längsseits der Ferndale am Werke waren, ihre Arbeit gut kannten und also ganz stumm blieben, oder nur gelegentlich ein paar halblaute Worte wechselten, als wüßten auch sie von der Dame, ›die nicht gestört werden sollte‹. Die Ferndale war das einzige Schiff, das mit dieser Ebbe abgehen sollte. Die anderen schienen noch zu schlafen, lautlos, und nur da und dort kam ein Mann auf das Vorderkastell, lehnte sich an die Reling und sah dem Manöver müßig zu. Ohne Aufregung und Lärm und fast ohne Laut verließ die Ferndale das Land, als wollte sie sich fortstehlen. Sogar die Schlepper, die nun ihre Maschinen gestoppt hatten, näherten sich ihr fast ohne das Wasser zu kräuseln; das stämmige Radboot scherte langsam voraus, während der andere Schlepper, mit Schraube, kleiner und schlanker gebaut, achteraus fuhr, so ruhig, daß er das glatte Wasser nicht zu teilen, sondern über seine Oberfläche wie über einen Spiegel wegzugleiten schien; ein Mann stand im Bug, der Besitzer am Steuer, nur vom Gürtel aufwärts über dem weißen Brückengeländer zu sehen, und beide so reglos, daß sich dem jungen Powell die stille Selbstvergessenheit mitteilte. Er sank ganz darin unter, erinnerte sich nur an die Worte: ›Sie ist eine Dame, die nicht gestört werden darf‹, und wiederholte gedankenlos: ›Nein, sie wird nicht gestört werden, sie wird nicht gestört werden.‹ Dann ließen ihn die ersten lauten Worte zusammenfahren, die an jenem Morgen die merkwürdige Ruhe dieser Abfahrt zerschnitten: ›Klar von dem Tau dort.‹ Das Tau schwirrte ihm am Kopfe vorbei, einer der Matrosen hinter ihm fing es auf, und dann war der Zauber gebrochen und die Gemütsruhe verflogen, die sich seiner im Augenblick der Abfahrt bemächtigt hatte. Von diesem Augenblick bis zwei Stunden nachher, als das Schiff irgendwo an der unteren Themse an einer scheinbar unbewohnten Uferstrecke festgemacht war, in der Nähe einer kleinen Bucht, in der zwei Barken mit roten Wimpeln vor Anker lagen, – bis dahin also hatte Powell zu viel zu tun, um an die Dame denken zu können, ›die nicht gestört werden sollte‹, oder an seinen Kapitän oder an sonst etwas, das nicht mit seinen Pflichten unmittelbar zusammenhing. Tatsächlich fand er keine Gelegenheit, auf das Hüttendeck zu kommen oder auch nur viel in jene Richtung zu sehen; während das Schiff aber vor Anker ging, warf er doch einen Blick dahin und hatte den widersinnigen Eindruck, daß sein Kapitän (der natürlich dort oben war) zugleich auf beiden Seiten des hinteren Deckfensters saß. Er war zu sehr beschäftigt, um über diese merkwürdige Sinnestäuschung nachdenken zu können, daß er doppelt sah, als hätte er ein Glas zuviel getrunken. Er lächelte nur über sich selbst.

Wie es nach einer grauen Morgendämmerung öfters der Fall ist, war die Sonne mit warmem, strahlendem Glanz über der ungeheuren Weite der Flußmündung aufgegangen. Nebelstreifen wehten wie leuchtende Staubwolken. Im Abglanz von Wasser und Dunst verschwammen die Ufer in halber Dämmerung, wie geheimnisvoll auftauchende Schattenrisse. Powell, der die Strecke von London hinunter während seines ganzen, kurzen Seemannslebens befahren hatte, sagte mir, daß sich ihm damals, in dem Anblick etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, der Strom ein für allemal enthüllt habe; so wie man in einem lieben Gesicht, das man oft zuvor gesehen hat, plötzlich den Ausdruck innerer, ungeahnter Schönheit entdeckt, diesen einzigen und ihm ganz eigenen Ausdruck, der leidenschaftliche Bewunderung und Treue auslöst und die unauslöschliche Erinnerung an seinen Zauber. Der Rumpf der Ferndale, die mit der Nase nach Osten schwaite, zog das Licht auf sich. Ihre schlanken Spieren und die Takelung waren in rotgoldenem Licht gebadet. Das Schiff stand von der Wasserlinie bis zu den schlanken Mastspitzen strahlend gegen das weite Blau des Himmels.

›Es wäre Zeit, einen Bissen zu essen‹, sagte eine Stimme neben ihm. Es war Herr Franklin, der Erste Offizier, mit den traurigen Augen in einem Kopf, der tief zwischen den Schultern steckte. ›Lassen Sie die Leute frühstücken, Bootsmann!‹ fuhr er fort, ›und in spätestens einer halben Stunde das Feuer in der Kombüse löschen, damit wir die Barken mit Sprengstoff längsseit rufen können. Kommen Sie, junger Mann. Ich kenne Ihren Namen nicht. Habe mit dem Kapitän kein Wort reden können, seit gestern nachmittag, als er davonsauste, um irgendwo einen Zweiten Offizier aufzugabeln. Wie ist er an Sie gekommen?‹

Jung Powell, etwas schüchtern, trotz der freundlichen Stimmung des anderen, antwortete ihm lächelnd; er war sich wohl der unterstrichenen Neugier in der Fragestellung bewußt, fühlte sogar eine gewisse Besorgnis heraus. Er hieße Powell und sei zu seinem Posten durch Herrn Powell, den Heuerbas, gekommen. Dabei errötete er.

›Oh, ich verstehe. Nun, Sie sind rasch fertig geworden. Der Schiffslieger hat mir, bevor er wegging, gesagt, daß Sie um eins an Bord gekommen sind. Ich habe die letzte Nacht nicht an Bord geschlafen. Ich nicht. Es hat eine Zeit gegeben, wo es mir nie eingefallen wäre, dieses Schiff abends länger als für ein paar Stunden zu verlassen, sogar wenn wir in London waren; aber jetzt, seit . . .

Er unterbrach sich, mit einem Rollen seiner vorstehenden Augen nach dem jungen Untergebenen, dem Fremden. Dabei ging er über das Achterdeck voran und in den langen Gang unter der Hütte hinein, an dessen Ende die Türe zum Salon lag. Sie war geschlossen. Aber Herr Franklin ging gar nicht bis hin. Nachdem er an der Bottlerei vorbei war, öffnete er plötzlich zu Powells großer Überraschung eine Türe zur Linken.

›Unsere Messe‹, sagte er und betrat dabei die kleine, weißgestrichene Kabine, die ihr Licht von einem Teil des vorderen Deckfensters empfing, als Einrichtung nur einen Tisch und zwei Ruhesessel mit beweglichen Lehnen aufwies und sonst ganz kahl war. ›Das überrascht Sie? Nun, es ist sonst nicht der Brauch. Und war auch sonst auf diesem Schiffe nicht so, früher. Es ist erst, seit . . .

Er unterbrach sich abermals. Jawohl, hier sollen wir also essen, Sie und ich, und uns für die nächsten zwölf Monate oder länger – Gott weiß, wieviel länger – ins Gesicht sehen. Bei gutem Wetter bleibt der Bootsmann während der Mahlzeiten auf Deck.‹

Er sprach nicht gerade keuchend, aber wie ein Mann, dessen Atem kurz und dessen Geist (Jung Powell konnte nicht umhin, das festzustellen) von irgendeinem geheimen Schmerz umdüstert ist.

In alledem lag Ungewöhnliches genug, um sich selbst Powells Unerfahrenheit aufzudrängen. Die Offiziere gegen allen Dienstbrauch von der Kajüte ausgeschlossen, und dann der merkwürdige Ton in den Worten des Ersten Offiziers. Franklin schien von seinem Untergebenen keine besondere Unterhaltungsgabe zu erwarten. Er machte verschiedene Bemerkungen über den Vorgänger und bedauerte den Unfall. Scheußlich. Ganz scheußlich, daß einem das am Abend vor der Abfahrt geschehen mußte.

›Schlüsselbein und Arm gebrochen‹, seufzte er. ›Traurig, sehr traurig. Haben Sie bemerkt, ob es dem Kapitän irgendwie naheging, wie? Man sollte doch meinen!‹

Vor dem roten Gesicht und den Kugelaugen, die forschend auf ihn gerichtet waren, gestand Jung Powell (man muß immer bedenken, daß er damals noch ganz jung war), der sich an keinerlei sichtbare Zeichen von Kummer erinnern konnte, mit einem verlegenen Lachen, daß er bei der Plötzlichkeit, mit der das Glück ihm in den Schoß gefallen sei, keine Zeit gefunden habe, sich über den Gemütszustand anderer Leute Gedanken zu machen.

›Ich war so froh, schließlich zu einem Schiff zu kommen‹, murmelte er, noch mehr verwirrt durch den vertieften Ernst in Herrn Franklins Zügen.

›Eines Mannes Nahrung, des andern Mannes Gift‹, sagte der Erste Offizier. ›Das ist wahr, noch über das bloße Essen hinaus. Ich glaube, es ist Ihnen gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß es eine verdammt armselige Art für einen Mann war, ausgeschaltet zu werden.‹

Herr Powell gab offen zu, daß er daran nicht gedacht hatte. Er bestritt nicht, daß das recht häßlich von ihm gewesen sei. Doch Franklin hatte offenbar keine Absicht, zu moralisieren. Er schwieg auch nicht. Seine nächste Bemerkung ging darauf hinaus, es habe einmal eine Zeit gegeben, da sich Kapitän Anthony um die kleinste Kleinigkeit, die einen seiner Offiziere betraf, gründlich bekümmert hatte. Jawohl, eine solche Zeit hatte es gegeben.

›Und bedenken Sie,‹ fuhr er fort, legte plötzlich ein halb verzehrtes Butterbrot vor sich auf den Tisch und erhob die Stimme, ›der arme Mathews war der Mann, der am zweitlängsten an Bord war; am längsten bin ich da. Er kam einen Monat später, ein paar Tage vor dem Steward. Der Bootsmann und der Zimmermann kamen eine Reise später. Ruhige Leute. Noch hier. Kein guter Mann hätte je daran zu denken brauchen, von der Ferndale wegzugehen, wenn er nicht ein ganzer Narr scheinen wollte. Manche guten Männer sind ja Narren. Wissen nicht, wann es ihnen gut geht. Ich meine, die Besten unter ihnen. Männer, für die man gerne alles tun möchte. Sie machen es jahrelang, dann auf einmal . . .

Unser junger Freund hörte dem Ersten Offizier zu und fühlte dabei ein wachsendes, eigenes Unbehagen. Denn es machte den Eindruck, als dächte Herr Franklin laut, und dadurch brachte er Powell in die peinliche Lage eines unfreiwilligen Horchers. In der Messe war aber noch ein anderer Zuhörer. Es war der Steward, der mit einer zinnernen Kaffeekanne mit langem Stiel hereingekommen war und nun lächelnd dabeistand: ein Mann mit einem ältlichen, blassen Langgesicht, schweren Augenlidern und einem grauen Soldatenschnauzbart. Er steckte in einer kurzen schwarzen Jacke mit engen Ärmeln, die langen Beine in sehr knappen Hosen, und dies machte ihm eine gelenkige, jugendlich schlanke Figur. Er trat plötzlich vor und unterbrach das Selbstgespräch des Ersten.

›Noch etwas Kaffee, Herr Franklin? Ganz frisch gekocht. Glühheiß. Ich werde sofort im Salon Frühstück auftragen und der Koch löscht eben sein Feuer. Das ist der rechte Augenblick für Sie.‹

Der Erste, der infolge seiner merkwürdigen Bauart den Kopf nicht frei wenden konnte, drehte seinen stämmigen Oberleib ein wenig und richtete seine schwarzen Augen aus den Winkeln nach dem Steward.

›Und sind die beiden Herrschaften schon auf?‹ knurrte er.

Der Steward goß den Kaffee in des Ersten Tasse und murmelte dabei finster, aber deutlich: ›Die Dame war es noch nicht, als ich den Tisch deckte.‹

Powells Ohr war fein genug, um etwas Feindliches aus der Art herauszuhören, wie hier des Kapitäns Frau erwähnt wurde. Denn von wem sonst konnte die Rede sein? Der Steward fügte wie mit betonter Unparteilichkeit hinzu: ›Aber sie wird da sein, bevor ich die Schüsseln auftrage. Hierin macht sie einem niemals Umstände. Das tut sie nicht.‹

›Nein, hierin nicht‹, stimmte Herr Franklin bei, und dann schwiegen sie beide, er und der Steward, nach einem Blick auf Powell – der auf dem Schiff ja noch ein Fremdling war.

Doch hatte auch dies genügt, um seine Neugier wachzurufen. Neugier ist bei einem Mann sehr natürlich. Allerdings war es keine übelwollende Neugier, die, wenn auch vielleicht nicht natürlich, so doch ziemlich oft in Männern und vielleicht noch öfter in Frauen anzutreffen ist – ganz besonders, wenn eine Frau im Spiel ist; und diese Frau noch dazu in Bedrängnis, sozusagen. Denn es war Flora de Barrals Schicksal, in Bedrängnis zu sein, sogar noch auf hoher See. Ja. Sogar die Dunkelheit schwebte über ihr, wie sie Frauen erwartet, für die es kein lichtes Plätzchen auf der Welt gibt. Ja. Sogar auf hoher See.

Und dies ist die Tragik eines Frauenschicksals. Ein Mann kann kämpfen, um sich einen Platz zu erringen oder unterzugehen. Das Schicksal einer Frau aber ist es, zu leiden, sag', was du willst, und drehe die Tatsachen um und um, oder nenne mir Mangel an Energie, Klugheit oder Mut als Grund. Nebenbei bemerkt, fehlt nämlich alles das keiner Frau. Sie haben es alle, wenn auch in ihrer eigenen Art. Aber sie sind nicht zum Angriff geschaffen. Sie müssen warten. Dabei spreche ich von Frauen, die wirklich Frauen sind. Es hat auch keinen Wert, von Gelegenheit zu reden. Ich weiß, daß einige davon sprechen. Aber nicht die echten Frauen. Die wissen es besser. Niemand kann klareren Blick für die Wirklichkeit haben als eine Frau. Ich möchte sagen: einen zynischeren Blick, wenn ich nicht fürchten müßte, dein ritterliches Gefühl zu verletzen, für das aber, beiläufig gesagt, Frauen den Burschen deines Schlages nicht so dankbar sind, wie du wohl glaubst . . .«

»Auf mein Wort, Marlow,« rief ich, »warum fährst du gar so auf mich los? Natürlich möchte ich kein böses Wort gegen Frauen gebrauchen. Aber mit welchem Recht nimmst du an, daß ich auf Dankbarkeit rechne?«

Marlow hob beschwichtigend die Hand. »Schon gut! Schon gut! Ich nehme das üble Wort zurück, mit der Bemerkung allerdings, daß mir der Ausdruck Zynismus von Heuchlern erfunden zu sein scheint. Aber lassen wir das. Die Frauen wissen recht gut, daß ihr Geschrei, man sollte ihnen Gelegenheit geben, etwas zu werden, was sie nicht sein können, genau so vernünftig ist, wie wenn die ganze Menschheit die Gelegenheit verlangen wollte, in dieser Welt Unsterblichkeit zu erringen. In dieser Welt, in der der Tod die wahre Vorbedingung für das Leben ist. Du mußt verstehen, daß ich hier nicht vom nackten Leben rede. Das kann man ihnen zugestehen; du wirst mir aber nicht sagen wollen, daß eine Frau, die sich, sagen wir, zum Beispiel anwerben ließ (es hat ja solche Fälle gegeben), einen Platz in der Welt errungen hat. Sie hat sich nur ihr Leben verdient – was ja recht verdienstvoll, aber doch nicht ganz dasselbe ist.

Alle diese Erwägungen, die sich mir aufdrängen, während ich den Faden von Flora de Barrals Geschichte verfolge, kamen, wie ich mit Sicherheit annehme, Herrn Powell nicht in den Sinn. – Nicht dem Herrn Powell, den wir während seiner einsamen Kreuzerfahrten in der Themsemündung kennenlernten, sondern Jung Powell, der durch Zufall Zweiter Offizier des Schiffes Ferndale geworden war – der Ferndale, die unter dem Kommando (und größtenteils auch im Besitz) von Roderick Anthony war, ›dem Sohn des Dichters, Sie wissen ja‹. Einem Herrn Powell also, der viel schlanker war, als es unser rüstiger Freund jetzt ist, der noch den Schmelz der Unschuld auf den glatten Wangen trug und der wohl danach angetan war, sich durch die Erfahrungen, die das Leben für ihn in Bereitschaft hatte, nicht nur überraschen, sondern auch gefangennehmen zu lassen. Das erklärt wohl, warum er die Erinnerung an so vieles ganz frisch bewahrt hat. So zum Beispiel standen ihm die Eindrücke während seines ersten Frühstücks an Bord der Ferndale, die äußeren wie die inneren, so klar vor Augen, als hätte er sie tags zuvor empfangen.

Die Überraschung entsteht begreiflicherweise aus der Unfähigkeit, Zeichen zu deuten, die die Erfahrung (etwas in sich Geheimnisvolles) unserem Begriffs- und Gefühlsvermögen macht. Denn nie ist es mehr als das. Unsere Erfahrung geht uns nie in Fleisch und Blut über. Sie bleibt immer außerhalb unserer selbst. Darum sehen wir mit Verwunderung auf die Vergangenheit. Und das bleibt sogar bestehen, wenn wir schließlich durch Gewohnheit und Dickfelligkeit an einen Punkt gekommen sind, wo nichts, auf das wir stoßen, uns mehr überraschen kann – während dieses schnellen Hinstolperns quer durch einen Sonnenfleck, das unser Leben ist. Ich meine, nicht sofort überraschen . . .«

Ich war daran, Marlow ins Wort zu fallen, als er sich selbst unterbrach, die Augen ins Leere, oder vielleicht auch (ich möchte nicht zu hart gegen ihn sein) auf eine Vision gerichtet. Er hat die Gewohnheit, oder besser die Unart schadhafter Kaminuhren, die plötzlich mitten im Ticken innehalten. Wenn du jemals mit einer Uhr zusammengelebt hast, die diese Unart hatte, dann wirst du wissen, wie ärgerlich diese Unterbrechungen sind. Ich ärgerte mich über Marlow. Er lächelte schwach, während ich wartete. Er lachte sogar ein wenig. Und ich sagte gehässig:

»Habe ich daraus zu entnehmen, daß du etwas Komisches in Fräulein de Barrals Geschichte entdeckt hast?«

»Komisches!« rief er aus. »Nein. Wie kommst du darauf . . . Oh, weil ich gelacht habe? Aber weißt du denn nicht, daß Leute über Dummheiten lachen, die weit davon entfernt sind, lustig zu sein? Hast du nicht die letzten Bücher gelesen, die Philosophen und Psychologen über das Lachen geschrieben haben? Es gibt eine Menge davon . . .«

»Ich darf wohl sagen, daß eine Menge Unsinn über das Lachen geschrieben worden ist. – Über das Weinen nicht minder übrigens«, sagte ich ungeduldig.

»Sie behaupten,« fuhr Marlow unbeirrt fort, »daß wir aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus lachen. Darum, achte darauf, werden Einfalt, Ehrlichkeit, Gefühlswärme, Herzenstakt, Selbstvertrauen und Großmut verlacht, weil diese Wesenszüge einen Mann häufig in schwierige, grausame oder sinnlose Lagen bringen und uns, der Mehrheit, die wir gemeinhin von solchen Eigenheiten frei sind, das Gefühl erfreulicher Überlegenheit vermitteln.«

»Sprich für dich selbst«, sagte ich. »Doch hast du alle diese schönen Dinge in der Geschichte entdeckt, oder hat sie dir Herr Powell in seiner kunstlosen Art enthüllt? Habt ihr beide herzlich miteinander gelacht? Sag' nur, tun dir noch die Seiten weh, Marlow?«

Marlow nahm meinen Spott nicht übel. Er blieb ganz ernst.

»Ich möchte nicht ohneweiters sagen, wieviel davon zutrifft«, fuhr er mit scherzhaftem Bedacht fort. »Doch es war eine Sachlage, allem Anschein nach schwierig genug, um Herrn Powell mancherlei Überraschungen bereiten zu können, von denen zwar keine überwältigend war, deren Gesamtwirkung aber doch hingereicht hat, die Entwicklung der Vorgänge seinem Hirn einzuprägen. Und die erste Überraschung kam sehr bald, sobald die Sprengstoffe, denen er seine unerwartete Anstellung verdankte – Dynamit in Kisten und Sprengpulver in Fässern – an Bord genommen waren, die Hauptluke verschalkt, der Koch wieder in der Kombüse eingesetzt, der Anker aufgeholt und der Schlepper voran; sie fuhren um South Foreland herum, und als die Sonne klar und rot hinter der purpurnen Bläue des Kanals versank, ging Powell auf das Hüttendeck, auf Wache allerdings, aber doch mit der Möglichkeit, an diesem übergeschäftigen Abfahrtstage zum ersten Male freier Atem zu holen. Der Lotse war noch an Bord, warf ihm erst einen stummen Blick zu und dann eine nebensächliche Bemerkung, bevor er seine Wanderung zwischen dem Steuerrad und dem Kompaß wieder aufnahm. Powell wählte bescheiden seinen Platz beim Vorderschott. Er hatte über das Deckfenster weg einen Kopf mit grauer Mütze gesehen. Als er aber nach einer Weile das Deck querte, entdeckte er, daß es gar nicht des Kapitäns Kopf war. Er sah graue Haare, die sich im Nacken ringelten. Wie hatte er nur den Fehler machen können? Doch an Bord eines Schiffes auf See erwartet man ja nicht, auf einen Fremden zu stoßen.

Powell ging an dem Mann vorbei. Aus einem hageren, beinahe verfallenen Gesicht mit festgeschlossenem Mund starrten zwei Augen nach der fernen französischen Küste, die wie die Wiege der Nacht jenseits des letzten Lichtstreifens zu liegen schien, den die stillen Wasser noch spiegelten. Ein starrer Blick, den Powell kreuzen mußte und auch wirklich kreuzte, wobei er durch rasches Hinsehen die stiere Reglosigkeit feststellte. Sein Vorübergehen störte diese Augen nicht mehr, als wäre er ein körperloser Geist gewesen. Und es berührte ihn merkwürdig, daß seine Erscheinung so ganz unfähig sein sollte, irgendwelchen Eindruck hervorzurufen. Wer konnte der alte Mann sein?

Er war so neugierig, daß er sogar den Lotsen halblaut zu fragen wagte. Der Lotse erwies sich als ein gutartiger Vertreter seines Berufs, herablassend und gesetzt im Urteil. Er war zu den Mahlzeiten drunten in der Hauptkajüte gewesen und hatte einiges mitzuteilen.

›Das? Komischer Kauz, wie? Frau Anthonys Vater. Ich bin ihm beim Frühstück in der Kajüte vorgestellt worden. Heißt Smith. Möchte wissen, ob er alle Fünfe beisammen hat. Sie nehmen ihn überallhin mit, scheint's. Sieht nicht sehr fröhlich aus, wie?‹

Dann änderte er unvermittelt den Ton und wünschte, daß Powell alle Mann an Deck rufen und Segel setzen lassen solle. ›Ich werde Sie in einer halben Stunde verlassen. Sie werden Zeit genug haben, alles über den alten Herrn herauszubringen‹, fügte er mit einem fetten Lachen hinzu.

 

In der geheimen Erregung, als vollverantwortlicher Offizier seinen ersten Befehl geben zu sollen, vergaß Jung Powell im Augenblick das Dasein des alten Mannes völlig. Auch noch während der nächsten Tage schlummerte seine Neugier, während er sich mühte, in Fühlung mit dem Schiff zu kommen, mit den Leuten darin, mit seinen Pflichten, und sich überhaupt einzurichten; denn natürlich hatten ihn die wenigen Worte des Lotsen nicht befriedigt.

Diese Eingewöhnung wurde ihm durch die freundliche Art seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Ersten Offiziers, erleichtert. Powell konnte sich einer Zuneigung für den dicken, kahlköpfigen, komisch gebauten Mann nicht erwehren mit den eindringlich rollenden schwarzen Augen in dem sonst unbeweglichen, roten Gesicht, der so zartfühlend bereit war, die Vollwertigkeit des Jungen als erwiesen hinzunehmen.

Nichts ist so sehr geeignet, einem jungen Mann an der Schwelle seines Lebensberufes Selbstsicherheit zu geben. Herr Powell, mit sich selbst im reinen, fand Zeit, die Leute in seiner Umgebung mit freundlicher Anteilnahme zu beobachten. Schon sehr bald zu Beginn der Reise hatte er mit einiger Belustigung entdeckt, daß von denen, die er (wohl wissend, daß er selbst als Außenseiter galt) stillschweigend ›die Alten‹ nannte, die Ehe des Kapitäns Anthony mißbilligt wurde.

Sie hatten komische, bedauernde Blicke, Ausrufe und das Kopfnicken von Leuten, die andere, bessere Zeiten gekannt haben. Welchen Unterschied es für den Bootsmann und den Zimmermann machen konnte, leuchtete Powell nicht ein. Und doch zogen die beiden lange Gesichter und schossen böse Blicke nach der Hütte. Den Koch und den Steward konnte es ja unmittelbarer angehen; aber der Steward pflegte gelegentlich hervorzuheben Oh, sie macht keine besonderen Umstände‹, mit einer betonten Unparteilichkeit von der düstersten Art. Er war ein ziemlich schweigsamer Mann, durchdrungen vom Bewußtsein seines eigenen Wertes und daher vorsichtig in seinen Reden. Der Koch, ein netter Kerl mit blondem Backenbart, erst drei Jahre an Bord, schien am wenigsten berührt. Man wußte sogar, daß er sich ein- oder zweimal danach erkundigt hatte, wie einzelne seiner Gerichte von der Frau des Kapitäns aufgenommen worden wären. Das wurde als eine Art Untreue gegen das festgelegte allgemeine Gefühl aufgefaßt.

Die Mißstimmung des Ersten Offiziers war noch am leichtesten zu verstehen. Er äußerte sich darüber zu Powell, bevor noch die erste Woche der Reise um war: ›Sie können natürlich nicht verlangen, daß ich mich freue, aus der Kajüte ausgeschlossen zu sein, als wäre ich nicht gut genug, mit der Frau da zu Tisch zu sitzen!‹ Doch beeilte er sich, hinzuzufügen: ›Aber glauben Sie ja nicht, daß ich den Kapitän tadle. Er ist nicht der Mann, an dem ein Fehler zu finden wäre! Sie, Herr Powell, sind noch zu jung, um das zu verstehen.‹

Ziemlich lange nachher, gegen Ende eines Gesprächs dieser trüben Art, ließ er sich etwas deutlicher aus und wiederholte: ›Jawohl, Sie sind zu jung, um diese Dinge zu verstehen. Ich will nicht sagen, daß Sie etwa nicht verständig wären. Sie tun ganz gut hier. Ein gut Stück besser, als ich es erwartet hatte, obwohl mir Ihr Aussehen gleich gefallen hat.‹

Es war im Passat, bei Nacht, unter dem samtigen, bestirnten Himmel; ungezählte Sterne blickten auf die weite See hernieder, die sich in Schatten und Lichtern um das Kielwasser des Schiffes breitete; die Wellen in Lee schienen die Fahrt rauschend zu begleiten. Herr Powell äußerte seine Genugtuung durch ein halb verschämtes Lachen. Der Erste brütete weiter: ›Und natürlich haben Sie das Schiff nicht gekannt, wie es früher einmal war. Da war die Ferndale einem Menschen ein rechtes Zuhause. Sie war nicht wie irgendein anderes Schiff; und Kapitän Anthony war nicht wie irgendein anderer Schiffer, unter dem man sonst wohl dient. An dem Schiff fehlt ja auch heute noch nichts. Aber früher einmal hatte man eben keine andere Sorge in der Welt, als das Schiff – und ihn. Nein, wirklich, es gab sonst nichts zu klagen.‹

Jung Powell sah nicht ganz ein, was jetzt zu klagen sein sollte. Der klare Friede der Nacht schien endlos wie der Raum und ewig. Es ist wohl wahr, daß die See ein ungewisses Element ist, doch kein Seemann denkt daran, angesichts ihrer bezaubernden Pracht, so wenig wie je ein Verliebter an die sprichwörtliche Unbeständigkeit der Frauen. Da Powell so jung war, so dachte er in aller Unschuld, daß der Kapitän ja verheiratet und daher jede Sorge um sein Befinden überflüssig sei. Ich nehme an, daß ihm noch das Leben, nicht so sehr sein eigenes, wie das seiner Mitmenschen, im Lichte der Kindermärchen erschien, mit einem ›und sie lebten noch lange glücklich miteinander‹ als notwendigem Schluß. Wir hängen sehr stark von unserer Unterhaltungslektüre ab, viel stärker, als allgemein angenommen wird, in dieser Welt, die sich rühmt, wissenschaftlich, praktisch und im Besitz unwiderleglicher Grundsätze zu sein. Powell neigte um so stärker zu dieser Auffassung, als ja der Kapitän eines Schiffes auf See ein abgeschlossenes, unzugängliches Wesen ist, ähnlich einem Märchenprinzen, einzig in seiner Art, von niemandem abhängig, von niemandem auch zur Rechenschaft zu ziehen, außer von Mächten, die tatsächlich unsichtbar und so fern sind, daß sie recht wohl als übernatürlich gelten können; nach allem wenigstens, was der Rest der Bemannung von ihnen weiß.

So verstand er also das bekümmerte Gehaben des Ersten nicht – oder vielmehr, er empfand es dunkel als Ausfluß sehr einfacher Gründe, die ihm nicht ganz stichhaltig schienen. Er hätte sich das alles mit einem verächtlichen »Was Teufel kümmere ich mich darum« aus dem Kopf geschlagen, wäre nicht die Frau des Kapitäns gar so jung gewesen. Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als er sie zum ersten Male gesehen hatte. Er hatte einige vorgefaßte Meinungen über die Frauen von Kapitänen, glaubte darum seinen Augen nicht und riß sie doppelt weit auf. Er hatte die Frau angestarrt, bis sie es bemerkte und den Kopf abwandte. Frau des Kapitäns! Das Mädel unter den vielen Decken in dem Liegestuhl! Des Kapitäns . . .! Er schnappte innerlich nach Luft. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß die Frau eines Kapitäns etwas anderes sein konnte als eine Frau, die als dick oder dünn, brummig oder fidel bezeichnet werden konnte, aber doch immer als reif und sogar, im Vergleich zu seinen eigenen Jahren, als richtig alt. Das aber! Er fühlte eine Art sittlicher Entrüstung, als hätte er einen Fall von Verführung Minderjähriger oder etwas ähnlich Anstößiges entdeckt. Du wirst ja auch wissen, daß nichts mehr angreift, als die Umstürzung einer vorgefaßten Meinung. Jeder von uns macht sich ein Bild der Welt nach seinen eigenen Begriffen von Schicklichkeit. Ein Mädchen anzutreffen, wo die gesunde Durchschnittsphantasie eine verhältnismäßig alte Frau erwartet hätte, kann leicht zu den schlimmsten Erschütterungen führen . . .«

Marlow unterbrach sich und lächelte vor sich hin.

»Powell zeigte sich noch jetzt, nach so vielen Jahren, von dem Eindruck nicht frei«, fuhr er in einem Tone fort, der vielleicht belustigt, doch nicht spöttisch klang. »Ganz kürzlich erst sagte er mir noch – und etwas wie der erste Schrecken jener Entdeckung klang noch in seiner Stimme nach –: ›Sie kam mir so jung, so mädchenhaft vor, daß ich mich ringsum nach einer anderen Frau umsah, die hätte des Kapitäns Frau sein können, obwohl ich natürlich wußte, daß während jener Reise keine andere Frau an Bord war.‹ – Die Reise zuvor war, wie es schien, die Frau des Stewards als Zofe für Frau Anthony mitgenommen worden. Bei jener Reise aber hatte man sie zu Hause gelassen, aus Gründen, die er nicht kannte. Frau Anthony . . .! Wäre sie nicht die Frau des Kapitäns gewesen, so hätte er sie bei sich einen Backfisch genannt. Ich glaube, die Frau des Kapitäns muß, so unglaublich es klingen mag, ein gewisser Schauer von Göttlichkeit umwittern, der Jung Powell abhielt, ihrer unter der wenig ehrfurchtsvollen Bezeichnung zu gedenken.

Ich fragte ihn, wann dies alles geschehen sei; und er sagte mir, es sei drei Tage gewesen, nachdem der Schlepper sie verlassen hatte – am Ausgang des Kanals, um genau zu sein. Ein Gegenwind mit häßlichem, nassem Wetter hatte eingesetzt. Powell war um sechs Uhr abends nach Lee auf die Brücke gekommen, um seine Wache anzutreten; er fühlte sich noch recht fremd und als unfertiger Offizier. Als er die Frau sah, war es ihm wie eine Erscheinung. Als sie den Kopf abwandte, faßte er sich und senkte den Blick. Daraufhin konnte er nur noch nahe bei dem Liegestuhl, in dem sie lag, zwei lange, dünne Beine sehen, in schwarzen Tuchpantoffeln, die eng an den Sitz auf dem Deckfenster gepreßt waren. Er schloß daraus, daß der alte Herr, der eine graue Mütze trug wie der Kapitän, neben ihr, seiner Tochter, saß. In der ersten Überraschung war Powell kurz stehengeblieben und schämte sich nun ein wenig, sich verraten zu haben. Er konnte aber doch nicht gut umdrehen und vom Hüttendeck weglaufen. Er war ja auf Wache hingekommen. So ging er also, immer noch mit gesenkten Augen, an ihnen vorbei. Erst als er auf den Lattenrost vor dem Steuerrad gekommen war, sah er auf. Sie war ihm durch die Rücklehne ihres Liegestuhls verborgen. Doch konnte er den Eigentümer der dünnen, alten Beine sehen, der auf dem Deckfenster saß; die glattrasierten Wangen, den dünnen, zusammengepreßten Mund mit einer Grube in jeder Ecke, die schütteren, grauen Locken, die unter der Tuchmütze hervorkamen und sich leicht auf dem Rockkragen ringelten. Er lehnte sich etwas zu Frau Anthony vor, doch sprachen sie nicht zusammen. Kapitän Anthony ging auf der anderen Seite der Hütte mit raschen Schritten auf und ab und sah starr vor sich hin. Jung Powell hätte meinen können, daß sein Kapitän seine eigene Anwesenheit gar nicht bemerkt hatte. Er wußte aber wohl, daß es nicht so war, und brachte also unbeweglich vor dem Kompaß eine sehr ungemütliche Stunde zu, bevor sein Kapitän in seinem schnellen Wandern innehielt und mit fast sichtlicher Anstrengung irgendeine Bemerkung über das Wetter machte. Bevor noch Powell, ganz bestürzt, eine Antwort hatte finden können, hatte der Kapitän schon sein endloses Hin und Her mit starrem Blick wieder aufgenommen. Schweigen lag auf dem Hüttendeck, wie ein böser Bann, bis die Glocke zum Abendessen läutete. Der Kapitän ging auf und ab und sah gerade vor sich hin, der Mann am Ruder steuerte und sah nach den Segeln hinauf, der alte Herr auf dem Deckfenster sah auf seine Tochter hinunter – und Powell, so gestand er mir, wußte nicht, wohin er sehen sollte, und kam sich vor, als wäre er irgendwo eingedrungen, wo er nichts zu tun hatte was ja natürlich töricht war. Schließlich heftete er seinen Blick auf die Windrose, suchte sozusagen in dem Kompaßhäuschen Zuflucht. Er fröstelte mehr als nötig, obwohl ein naßkaltes Dämmern von dem leicht umzogenen Himmel sich auf die schmutziggrüne See niedersenkte. Ein böiger Wind durchwehte die düstere Einöde, und das Schiff, so hart aufgeholt, daß es fast keine Fahrt mehr machte, schien sich in trägen Rucken und Stößen gegen die kurzen Seen vorzukämpfen, die murrend an seinen Seiten entlang strichen.

Jung Powell empfand es als die trübste Abendstimmung auf See, die er je erlebt hatte. Er war froh, als die anderen Gäste das Hüttendeck beim Klang der Glocke verließen, zuerst der Kapitän, mit einer jähen Wendung gegen die Kajütentreppe, mitten aus seinem Wandern heraus und ohne einen Blick nach seiner Frau und deren Vater. Diese beiden standen auf und gingen auf die Kajütentreppe zu, der alte Herr sehr aufrecht; seine dünnen Locken wehten leise über dem Rockkragen; er trug die Decken über dem Arm. Das Mädchen, das also Frau Anthony war, ging voran. Das trübe Zwielicht hatte sich auf ihrem Gesicht zu dunklen Schatten vertieft. Sie sah Herrn Powell im Vorbeigehen an. Er fand sie sehr blaß. Vor Kälte wohl. Der alte Herr blieb einen Augenblick, mager und steif, vor dem jungen Mann stehen und sagte mit einer Stimme, die zwar leise, aber recht deutlich und im übrigen merkwürdig ausdruckslos war – nicht einmal fragend sogar:

›Sie sind der neue Zweite Offizier, glaube ich.‹

Herr Powell bejahte und fragte sich erstaunt, ob das wohl eine freundliche Anknüpfung wäre. Er hatte bemerkt, daß Herrn Smiths Augen sozusagen nach innen gerichtet waren, als mißbilligte er seine Umgebung oder verachtete sie. Die Frau des Kapitäns war schon am Fuße der Kajütentreppe verschwunden. Herr Smith sagte: ›Oh‹ und verweilte ein wenig länger, um in seiner neugierlosen Stimme noch eine andere Frage zu stellen:

›Und haben Sie den Mann gekannt, der vor Ihnen hier war?‹

›Nein,‹ sagte Jung Powell, ›ich kannte niemanden auf diesem Schiff, bevor ich an Bord kam.‹

›Er war viel älter als Sie. Doppelt so alt. Vielleicht noch älter. Sein Haar war eisengrau. Ja. Gewiß noch älter.‹

Die leise, gedämpfte Stimme brach ab, der alte Mann rührte sich aber nicht vom Fleck. Er fügte hinzu: ›Ist das nicht ungewöhnlich?‹

Herr Powell war überrascht. Nicht nur, weil er überhaupt ins Gespräch gezogen wurde, sondern auch über die Art dieses Gesprächs. Vielleicht war es die Nachwirkung der Worte dieses alten Mannes, doch kam es Powell jedenfalls in jenem Augenblicke zum Bewußtsein, daß etwas Ungewöhnliches nicht nur in dieser Begegnung, sondern überhaupt rings um ihn lag, in jedem der Menschen, in der Luft sozusagen. Die See sogar, mit den kleinen Schaumkronen, die da und dort in der dunklen Weite aufblitzten, die unveränderlich heilige See, die einen Mann vor allen Leidenschaften schützt, seinen eigenen Zorn ausgenommen, die See sogar erschien ihm verändert, als er einen raschen Blick nach Luv warf, wo der schon in Nacht begrabene Horizont dem Auge keinen tröstlichen Ruhepunkt mehr bot. In dem vergehenden, ungewissen Zwielicht, eben bevor die trübe Nacht ihren geheimnisvollen Schleier niedersenkte, sah er, greifbar fast, das Abbild der Unendlichkeit. Jung Powell empfand es im plötzlichen Bewußtsein seiner Einsamkeit: das treue, starke Schiff, sein erstes, zu einem Fleck entwürdigt, zu etwas kaum Wahrnehmbarem; kaum noch, daß es den Sohlen seiner beiden Füße Halt bot, vor dem alten Mann, der sich so unerwartet angesichts des nächtigen Raumes verlautbarte.

Er brauchte eine kleine Weile, um den Sinn der Frage zu verstehen. Dann wiederholte er langsam: ›Ungewöhnlich . . . Oh, Sie meinen, für einen älteren Mann, Zweiter Offizier auf einem Schiff zu sein? Ich weiß nicht. Es gibt ziemlich viele unter uns, die es nicht weiter bringen. Er gehörte wohl zu denen, nehme ich an.‹

Der andere stand mit gesenktem Kopf da und sah aus, als hörte er gespannt zu.

›Und jetzt ist er ins Spital gebracht worden‹, sagte er.

›Ich glaube, ja. Ich erinnere mich, daß Kapitän Anthony im Heuerkontor davon gesprochen hat.‹

›Vielleicht liegt er jetzt im Sterben‹, fuhr der alte Mann in seinem überlegten Ton fort. ›Und vielleicht ist er recht froh, sterben zu können.‹

Powell war jung genug, um über die Andeutung bestürzt zu sein, die im Dämmerlicht doppelt geheimnisvoll und haarsträubend wirkte. Er gab scharf zurück, das sei nicht sehr wahrscheinlich – als wollte er damit das abwesende Opfer eines Unfalls vor Mißdeutung schützen. Er war ehrlich aufgebracht. Der andere lachte ein heiseres Lachen, das wohl versöhnlich klingen sollte. Die Glocke unten läutete zum zweitenmal. Der alte Herr machte bei ihrem Klang eine Bewegung, blieb aber weiter stehen.

›Was ich gesagt habe, war nicht ernst gemeint‹, murmelte er, immer noch in der merkwürdigen Art, als fürchtete er, belauscht zu werden. ›Nicht in diesem Falle. Ich kenne den Mann . . .

Der Anlaß dieses Gesprächs, oder vielmehr der Mangel eines Anlasses dazu, hatte die Fassungsgabe des unverdorbenen Zweiten Offiziers der Ferndale geschärft. Er achtete auf die leisesten Abstufungen im Ton und erwartete dieses ›ich kenne den Mann‹ von einem ›und er war nicht mein Freund‹ gefolgt zu hören. Nach der denkbar kürzesten Pause aber fuhr der alte Herr mit seinem eintönigen Murmeln fort:

. . . während Sie ihn nie gesehen haben. Trotzdem werden Sie, wenn Sie erst einmal so viele Jahre hinter sich haben wie ich, auch verstehen, daß ein Unfall, der das Leben endet, nicht durchaus unwillkommen zu sein braucht. Natürlich gibt es dumme Unfälle. Aber auch dann braucht man sich nicht zu kränken. Was ist denn dabei, wenn man das Leben verliert? Es ist schnell geschehen. Was würden Sie aber zu den Gefühlen eines Mannes sagen, dem sein Leben gestohlen worden ist? Der geradezu darum betrogen worden ist?‹

Er brach unvermittelt ab und blieb noch lange genug stehen, daß der verblüffte Powell hervorstammeln konnte: ›Was meinen Sie? Ich verstehe nicht!‹ Dann glitt der alte Herr mit einem leisen ›Gute Nacht‹ ein paar Stufen hinunter und tauchte durch das Dunkel der Kajütentreppe in den Lampenschein unten, der nur bis zur ersten Wendung der Treppe reichte.

Die merkwürdigen Worte, der vorsichtige Ton, die ganze Persönlichkeit hinterließen in Jung Powell das Gefühl lebhaften Unbehagens. Er begann in großer Verwirrung das Hüttendeck abzuschreiten. Er war ganz in Aufruhr. Ein merkwürdiges Gerede, weiß Gott! Und merkwürdiger als alles war der vorsichtige, leise Ton, als fühlte sich der andere ständig beobachtet. Der junge Zweite Offizier zögerte, gegen den festgelegten Grundsatz jeder Schiffsdisziplin zu verstoßen, schließlich aber konnte er der Versuchung nicht widerstehen, irgendein anderes menschliches Wesen festzukriegen, und sprach zu dem Mann am Steuer.

›Haben Sie gehört, was der Herr mir gesagt hat?‹

›Nein, Herr‹, gab der Matrose ruhig zurück. Dann wagte er, ermutigt durch die offenbar undienstliche Haltung seines Offiziers, den Nachsatz: ›Ein komischer Kauz, Herr!‹ Das war wie tastend gesagt, und als Herr Powell, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nichts erwiderte, wagte sich der andere weiter vor: ›Sie sind eher wie Passagiere. Man sieht manchmal merkwürdige Passagiere.‹

›Wer ist wie Passagiere?‹ fragte Powell knurrig.

›Nun, diese beiden, Herr!‹«

 


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