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Ich habe gesagt, daß mir Fräulein de Barrals Geschichte in Abschnitten erzählt wurde. Nach diesem Abschnitt sah ich Marlow einige Zeit nicht. Schließlich tauchte er eines Abends gleich nach dem Essen in meiner Wohnung auf.
Ich hatte längst schon auf seinen Besuch gewartet, da mich eine Bemerkung drückte, die mir erst nach unserem letzten Zusammensein eingefallen war.
»Sag' mir,« ging ich ihm sofort zu Leibe, »wieso kannst du so sicher wissen, daß Flora de Barral überhaupt auf See gegangen ist? Schließlich konnte ja die Frau des Kapitäns der Ferndale, ›die Dame, die nicht gestört werden sollte‹, wie der alte Schiffslieger gesagt hatte, gar nicht Flora gewesen sein.«
»Nun, ich weiß es,« sagte er, »und wenn nicht anders, so deswegen, weil ich mit Herrn Powell in Fühlung geblieben bin.«
»Bist du das?« rief ich aus. »Das erste Wort, das ich davon höre! Und seit wann?«
»Nun, seit dem ersten Tage. Du bist in die Stadt gefahren und hast mich in dem Gasthaus gelassen. Ich schlief an Land. Am nächsten Morgen kam Herr Powell zum Frühstück herein; und nachdem wir die Verlegenheit überwunden hatten, die sich immer beim ersten Zusammentreffen zwischen Männern einzustellen pflegt, die einander abends zuvor ihr Herz ausgeschüttet haben, da entdeckten wir, daß wir einander gerne mochten.«
Da ich das früher als sie beide entdeckt hatte, so war ich nicht überrascht.
»Und ihr bliebt also in Fühlung?« sagte ich.
»Das war nicht gar so schwer. Da er sich immer auf dem Fluß herumtrieb, so mietete ich Dingles als Schaluppe getakelten Dreitonner, um ihm besser gewachsen zu sein. Powell zeigte sich freundlich, aber ausweichend. Ich will nicht sagen, daß er mir wirklich ausweichen wollte; aber zuweilen verschwand er doch in einer höchst geheimnisvollen Weise vom Flusse. Nun mag ja ein Mann irgendwo anlegen und ins Land hineingehen – aber was wird aus seinem Fünftonnenkutter? Den kann er doch nicht in der Hand mit sich nehmen wie eine Reisetasche?
Dann pflegte er, wenn man ihn schon aufgegeben hatte, ebenso plötzlich auf dem Flusse wieder aufzutauchen. Ich wollte mich nicht schlagen lassen. Darum mietete ich Dingles gedecktes Boot. Es war gerade Platz genug darin, daß ein Mann und ein Hund schlafen konnten. Ich hatte aber keinen befreundeten Hund, den ich hätte einladen können. Der Hund der Fynes, der Flora de Barrals Leben gerettet hatte, war mein letzter Freund gewesen. So war ich während meines Kreuzens ziemlich einsam. Doch auch das hat, auf dem Flusse, seinen eigenen Reiz. Ich spürte dem Geheimnis von Powells Verschwinden gemächlich nach, sah mir ringsum die Schiffe an, dachte an das Mädchen Flora, an die Zufälle des Lebens – und, weißt du, es war ganz einfach.«
»Was war ganz einfach?« fragte ich verständnislos.
»Das Geheimnis.«
»Das sind sie meistens«, sagte ich.
Marlow sah mich einen Augenblick lang eigen an.
»Nun, ich habe also das Geheimnis von Powells Verschwinden entdeckt. Der Bursche pflegte in eine der kleinen Flutbuchten auf dem Essexufer einzulaufen. Diese Buchten sind so unauffällig, daß ich von ihrem Dasein nichts wußte, bevor ich nicht die Karte ziemlich gründlich studiert hatte. Eines Tages machte ich Powells Boot aus, das gerade aufs Ufer zuhielt. Eben als ich das schlammige Vorland erreicht hatte, war sein Boot landeinwärts verschwunden. Die Flut war eben am Ablaufen, aber ich fuhr doch weiter, auf die Gefahr hin, im Schlamm auf Grund zu kommen. Meinen einzigen Richtungspunkt bildete der Dachfirst irgendeines kleinen Gebäudes. Ich kam mehr aus Glück als durch geschicktes Manövrieren hinein. Die Sonne war vor einiger Zeit untergegangen; mein Boot glitt in einer Art Graben hin, der sich zwischen niedrigen Grasbänken hinschlängelte; zu beiden Seiten dehnte sich die weite Essexmarsch in völliger Ruhe. Das einzig Lebende, was ich sah, war ein Reiher; er flog niedrig und verschwand in der Dunkelheit. Nach kaum einer halben Meile war ich in gleicher Höhe mit dem Gebäude, dessen Dach ich vom Flusse aus gesehen hatte. Es sah wie eine kleine Scheune aus. Eine Reihe von Pfählen, die davor in die weiche Uferbank getrieben waren, bildeten, mit ein paar Planken darüber, eine Art Landungssteg. Alles dies lag ganz schwarz in der einfallenden Dämmerung, und ich konnte eben noch die grauschimmernden Geleise eines Fahrwegs wahrnehmen, die sich über die Marsch weg weithin gegen das höher gelegene Land zu zogen. Kein Laut war zu hören. Gegen einen schmalen Lichtstreifen am Himmelsrand konnte ich den Mast von Powells Kutter sehen, der an der Bank, kaum fünfzehn Meter von der schwarzen Scheune weg, festgemacht war. Ich rief ihn laut an. Keine Antwort. Nachdem ich mein Boot unmittelbar dahinter festgemacht hatte, ging ich längs des Ufers vor, um nach Powells Boot zu sehen. Da es so viel größer war als das meine, so saß es schon auf Grund. Seine Segel waren beschlagen. Der Schiebedeckel der Luke war mit einem Vorhängeschloß verschlossen. Powell war fort. Er war irgendwohin in die stille, dunkle Marsch hineingegangen. Ich hatte nirgends in der Nähe ein einziges Haus entdecken können; auf Meilen in die Runde schien es keine menschliche Behausung zu geben; und auch jetzt, als die Dunkelheit schneller einfiel, konnte ich nirgends einen Lichtschimmer entdecken; dennoch nahm ich an, daß nicht allzuweit weg ein Dorf oder ein Weiler liegen mußte; oder vielleicht auch nur eines der geheimnisvollen kleinen Gasthäuser, an die man plötzlich an den unerwartetsten, einsamen Stellen gerät.
Die Stille war bedrückend. Ich ging zu meinem Boot zurück, machte mir auf einem Spiritusbrenner ein bißchen Kaffee, aß ein paar Biskuits dazu und streckte mich dann lang aus, um zu rauchen und nach den Sternen zu sehen. Die Erde war nur noch ein Schatten, formlos und still und leer, bis von irgendwoher, auch ganz schattenhaft, ein Ochse auftauchte. Er kam ganz keck bis hart an die Uferkante, als wollte er an Bord, streckte sein Maul bis über mein Boot, schnaubte schwer und tauchte dann verächtlich wieder in das Dunkel zurück, aus dem er gekommen war. Ich hatte den Besuch eines Ochsen nicht erwartet, obwohl mich ein kurzes Nachdenken darüber belehrt haben müßte, daß auf der Marsch natürlich Mengen von Rindern und Schafen weideten. Dann wurde alles wieder still wie zuvor. Ich hätte glauben können, daß ich auf einer einsamen Insel angekommen sei. Tatsächlich überkam mich, während ich mich so rauchend zurücklehnte, ein Gefühl völliger Einsamkeit. Gerade als es seinen Höhepunkt erreicht hatte, hörte ich ganz plötzlich und ohne jedes vorhergehende Geräusch feste, schnelle Schritte auf dem kleinen Landungssteg. Jemand, der den Fahrweg entlang gekommen war, hatte mit schwingendem Schritt die Planken betreten. Dieser Jemand konnte nur Herr Powell sein. Plötzlich hielt er kurz an, da er wohl zwei Masten längs des Ufers entdeckt, wo er nur einen verlassen hatte. Dann kam er lautlos auf dem Grase näher. Als ich ihn ansprach, war er überrascht.
›Wer hätte daran gedacht, Sie hier zu sehen‹, rief er aus, nachdem er meinen Gruß erwidert hatte.
Ich sagte ihm, daß ich der Gesellschaft halber hergekommen sei. Das war die reine Wahrheit.
›Wußten Sie denn, daß ich hier war?‹ rief er aus.
›Natürlich!‹ gab ich zurück. ›Ich sage Ihnen ja, daß ich der Gesellschaft wegen hergekommen bin.‹
Er ist ein wirklich guter Bursche«, fuhr Marlow fort, »und seine Fähigkeit, sich zu wundern, ist scheinbar schnell erschöpft. Er sagte mir in der selbstverständlichsten Art: ›Dann kommen Sie also zu mir an Bord. Ich habe hier Abendessen genug für zwei.‹ Er hielt ein bauchiges Paket unter dem Arm. Ich ließ mich nicht zweimal bitten, wie du dir denken kannst. Sein Kutter hat eine sehr nette, kleine Kajüte, groß genug, daß zwei Männer darin nicht nur schlafen, sondern auch sitzen und rauchen können. Natürlich ließen wir die Luke weit offen. Seine Einkäufe fürs Abendessen allerdings waren nicht sehr großartig. Er beklagte sich, daß die Läden im Dorf gar so kümmerlich wären. Ein großes Dorf lag anderthalb Meilen weit weg. Mir drängte sich der Gedanke auf, daß er zu seinen Einkäufen reichlich viel Zeit gebraucht hatte; aber natürlich sagte ich nichts darüber. Ich hatte überhaupt nicht die Absicht, etwas zu sagen, außer zu dem Zweck, ihn zum Reden zu bringen.«
»Und hast du ihn zum Reden gebracht?« fragte ich.
»Das tat ich«, sagte Marlow und legte sein Gesicht in undurchdringliche Falten, was mich aber von seinem Sieg mehr überzeugte, als es vielleicht ein frohlockendes Lachen vermocht hätte.
»Du hast ihn also zum Reden gebracht«, sagte ich nach einem Schweigen.
»Ja. Das tat ich . . . Über ihn selbst.«
»Und über den Kernpunkt?«
»Wenn du damit«, sagte Marlow, »die Reise auf der Ferndale meinst, dann sage ich dir nochmals ja. Ich holte ihn ein wenig über die Reise aus, die, beiläufig, nicht Flora de Barrals erste gewesen war. Der Mann selbst ist ganz einfach, wie ich dir sagte, und seine Fähigkeit, sich zu wundern, nicht sehr groß. Er gehört zu den Menschen, die sich keine Theorien über Tatsachen bilden. Das tun ja geradsinnige Leute überhaupt selten. Sie haben auch nicht viel Scharfblick. Doch in diesem Falle tat das ja nichts zur Sache. Wir beide – du und ich – kennen ja schon die nötigen Hintergründe. Wir kennen Flora de Barrals Geschichte. Wir wissen etwas von Kapitän Anthony. Wir kennen das Geheimnisvolle an der Sache. Der Mann war wie berauscht von dem Mitleid und der Zärtlichkeit in seiner Rolle. O ja! Berauscht ist nicht zuviel gesagt; denn du weißt, daß Liebe und Begehren mancherlei Verkleidungen wählen. Ich nahm an, daß das Mädchen offen zu ihm war, offen nach Art der Frauen, denen ja restlose Offenheit unmöglich ist, weil ihre Sicherheit so sehr von gewissen Vorbehalten abhängt. Ich will mich hier nicht in billigem Spott ergehen. Es liegt Gesetz in den Dingen. Und überdies mußte sich für sie eine gewisse Sprache, angesichts seines Ungestüms, von selbst verboten haben, da sie ja keine Zeit gehabt hatte, ihren eigenen Gemütszustand oder die ganze Tragweite ihrer Handlungsweise klar zu begreifen.
Hätte sie auch noch so eindeutig gesprochen, so wäre doch er, glaube ich, zu übersteigert gewesen, um sie deutlich zu hören. Ich will damit nicht sagen, daß er ein Narr war. Bei Gott nicht! Die herkömmlichen Formen waren ihm zu wenig vertraut, und wir müssen uns auch vor Augen halten, daß er keinerlei Erfahrung über Frauen besaß. Er konnte seine Stellung nicht anders als schwärmerisch auffassen. Das Ideal ist oft nur ein Abglanz der Wirklichkeit.
Zu ihm also kommt Fyne, aufgeputscht, wenn ich mich so unehrerbietig ausdrücken darf, aufgeputscht bis zum Platzen durch die Auslegung, die seine Frau dem Brief des Mädchens gegeben hatte. Er kommt daher mit dem Gerede von Gemeinheit und Grausamkeit, wie mit einem Eimer voll Wasser auf eine Flamme. Das gab natürlich einen Schock. Die Wirkungen eines Eimers voll Wasser können aber verschieden sein. Sie hängen von der Art der Flamme ab. Ein bloßes Strohfeuer natürlich . . . Doch hier konnte ja von Strohfeuer keine Rede sein. Anthony von der Ferndale war nicht, konnte nicht ein mit Stroh ausgestopftes Mannsbild sein. Und es gibt Flammen, die ein Eimer voll Wasser himmelhoch aufschlagen läßt.
Wir können uns wohl fragen, was geschah, als nach Fynes Abgang das zögernde Mädchen endlich hinaufging und die Türe zu dem Zimmer öffnete, wo unser Mann, das weiß ich ganz gewiß, durchaus nicht ausgelöscht saß. O nein! Nicht einmal abgekühlt; was immer sonst er auch sein mochte.
Es wäre denkbar, daß er ihr im ersten Augenblick der Demütigung, der Verzweiflung zugerufen hätte: ›Oh, du bist's! Was willst du hier? Wenn ich dir so verhaßt bin, daß du es sogar meiner Schwester schreiben mußt, so gebe ich dir dein Wort zurück!‹ Und doch, siehst du, konnte das nicht geschehen. Ich weiß zufällig sogar bestimmt, daß sie bald darauf zusammen in einem Einspänner wegfuhren, um, wie vereinbart, das Schiff zu besichtigen. Das war der Grund für meine Behauptung, daß Flora de Barral auf See gegangen ist.«
»Ja, es scheint schlüssig«, gab ich zu. »Doch auch ohne das – wenn, wie du anzunehmen scheinst, gerade die Trostlosigkeit in der Gestalt des Mädchens eine so eigenartige Anziehungskraft hatte und auf dem Umweg über das Mitgefühl auf seine Sinne wirkte (möglich ist ja alles) – auch dann konnten solche Worte nicht ausgesprochen werden.«
»Vielleicht sind sie ihm wider Willen entfahren«, bemerkte Marlow. »Doch eine Tatsache beseitigt ja jeden Zweifel: sie fuhren zusammen fort, um das Schiff zu besichtigen.«
»Willst du daraus schließen, daß überhaupt nichts gesagt wurde?« forschte ich.
»Ich hätte dabei sein mögen, als sich dort oben ihre Blicke zum ersten Male trafen«, grübelte Marlow. »Vielleicht wurde gar nichts gesprochen. Aber kein Mann kommt ja aus einem solchen ›Gekampel‹ (wie Fyne es nannte) heraus, ohne irgendwelche Spuren zu zeigen. Und du kannst dich darauf verlassen, daß ein Mädchen, so ganz wund wie Flora, den leisesten Anhauch spüren mußte, der etwa an Kälte erinnern konnte. Sie war mißtrauisch; sie konnte nicht anders sein; denn die Kraft des Bösen ist so viel nachhaltiger als die des Guten, daß sie immer noch nicht umhin konnte, ihre Erzieherin als maßgebend zu betrachten. Wie hätte sie auch den langjährigen Bann dieses fremden Willens brechen können? Sie konnte nicht anders, als das glauben, was ihr gesagt worden war; daß sie nämlich aus irgendeinem Grunde hassenswert und keinesfalls zu lieben sei. Es war grausam wahr – für sie. Das Orakel, neben dem sie so viele Jahre hingelebt, hatte endlich gesprochen. Andere Leute durchschauten sie nur nicht so schnell . . . Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, daß sie durchaus alles davon glaubte. Das wäre kaum möglich. Doch haben nicht auch die Eingebildeten und Eitelsten unter uns Augenblicke des Zweifels? Nicht? Nun, ich weiß nicht. Vielleicht gibt es glückliche Geschöpfe auf der Welt, die unfähig sind, irgend etwas Böses von sich zu glauben. Was mich selbst anbetrifft, so will ich dir nur sagen, daß es mir einmal vor vielen Jahren zu Ohren kam, ein Mensch, mit dem ich kurz zu tun gehabt hatte – ein sehr geschickter Bursche, den ich aus Herzensgrund verachtete – erzählte unter den Leuten herum, ich sei ein ausgemachter Heuchler. Er konnte nichts darüber wissen. Es paßte ihm nur gerade, das zu erzählen. Ich hatte ihm keinerlei Grund zu dieser besonderen Verleumdung gegeben. Und doch gibt es bis zum heutigen Tage Augenblicke, wo mir unwillkürlich die Frage durch den Kopf schießt: Wie, wenn es trotzdem wahr wäre? Es ist töricht, und doch hat es bei ein oder zwei Gelegenheiten beinahe mein Verhalten beeinflußt; und dabei war ich ja kein beeinflußbares, unwissendes junges Mädchen. Ich hatte mir längst zuvor die völlige Wertlosigkeit des Burschen klargemacht. Er war für mich nie eine Person von Macht und Ansehen gewesen, wie die abscheuliche Erzieherin für Flora de Barral. Siehst du darin die Gefahr der Beeinflussung? Wir sind wehrlos gegen ein böswilliges Wort. Ein Laut, oft nur eine bloße Erschütterung der Luft trifft uns mitunter bis auf den Grund der Seele. Flora de Barral war von dem anfänglichen Ungestüm Kapitän Anthonys mehr betäubt als überzeugt gewesen. Sie ließ sich von einer geheimnisvollen Kraft dahintreiben, die durch ihre Persönlichkeit ausgelöst worden war, so wie ihr Vater sich aus seiner Tiefe hatte emportreiben lassen durch die unerwartete Kraft erfolgreicher Reklame.
Sie gingen an jenem Morgen an Bord. Die Ferndale hatte gerade an ihrem Ladeplatz angelegt. Das einzige Lebewesen an Bord war der Schiffslieger – ob es derselbe war, der uns von Herrn Powell beschrieben ist, oder ein anderer, das weiß ich nicht. – Wahrscheinlich ein anderer. Als er so über die Reling blickte, sah er nach seinen eigenen Worten ›den Kapitän um die Ecke des nächsten Warenschuppens dahersegeln, zusammen mit einem Mädchen‹. Er ließ die Fallreepstreppe hinunter . . .«
»Woher weißt du das alles?« unterbrach ich ihn.
Marlow warf ungeduldig hin:
»Du sollst es nach und nach sehen . . . Flora ging zuerst hinauf, trat auf Deck und stand stockstill, bis der Kapitän sie beim Arm nahm und achtern führte. Der Schiffslieger ließ sie in den Salon ein. Er hatte die Schlüssel zu allen Kabinen und stampfte hinter ihnen drein. Der Kapitän befahl ihm, alle Türen aufzusperren, jede gesegnete Tür – Staatskabinen, Gänge, Vorratsräume, Vorderkabinen – und schickte ihn dann fort.
Die Ferndale war großartig eingerichtet. Am Ende des Ganges, der vom Achterdeck wegführte, lag ein langer Salon, dessen Pracht vielleicht ein wenig vergilbt war, der aber doch geräumig und bequem wirkte. Die Hafenteppiche waren aufgelegt, die Hängelampen eingehängt und alles an seinem Platz, bis zu dem Silber auf der Anrichte. Von diesem Salon kam man in zwei große Heckkabinen, jede auf einer Seite des Ruderkokers. Die beiden Kabinen standen untereinander durch ein kleines Badezimmer in Verbindung; die eine war als des Kapitäns Staatskajüte eingerichtet, die andere war unbenutzt und wirkte, mit Lehnstühlen um einen runden Tisch fast wie ein Wohnzimmer an Land, bis auf die lange, geschweifte Rundbank, die der Hecklinie des Schiffes folgte. In einem halbblinden, schrägen Spiegel erblickte Flora den Oberkörper eines bleichen Mädchens in einem weißen Strohhut mit Rosengarnitur, fern, schattenhaft, wie in Wasser getaucht, und war überrascht, sich selbst in dieser Umgebung zu finden, die ihr willkürlich, unangebracht, ganz fremd schien. Kapitän Anthony ging weiter, und sie folgte ihm. Er zeigte ihr die anderen Kabinen. Die ganze Zeit über sprach er laut, mit einer Stimme, die ihr schon seit langer Zeit vertraut schien, und doch, so überlegte sie, hatte sie sie nicht oft in ihrem Leben gehört. Sie konnte dem, was er sagte, nicht ganz folgen. Er sprach von verhältnismäßig gleichgültigen Dingen, beinahe brummig, doch sie fühlte es rings um sich wie eine Liebkosung. Als er plötzlich abbrach, da konnte sie, erschreckend in der plötzlichen Stille, ihr Herz wild klopfen hören.
Der Schiffslieger lungerte auf dem Achterdeck herum, außer Hörweite, und versuchte sich auch außer Sicht zu halten. Dabei konnte er aber, unter weiser Ausnutzung der offenen Türen, den Kapitän und ›das Mädel‹ sehen, das der Kapitän an Bord gebracht hatte. Der Kapitän zeigte ihr alles sehr gründlich. Über die ganze Länge des Hauptganges weg, weit hinten im Salon, bot sich dem Schiffslieger immer wieder der interessante Anblick, wie die beiden in den verschiedenen Kabinen aus und ein gingen, von einer Seite zur anderen, in der oder jener der Staatskabinen eine Zeitlang unsichtbar blieben und dann wieder auftauchten. Das Mädchen ging hinter dem Kapitän drein und hielt fortwährend ihren Sonnenschirm in der Hand. Meistens ließ sie den Kopf hängen, dann und wann sah sie aber auch auf. Sie hatten einander viel zu sagen und schienen ganz zu vergessen, daß sie nicht allein auf dem Schiff waren. Der Schiffslieger sah, wie der Kapitän dem Mädchen die Hand auf die Schulter legte, und machte sich schon mit einer gewissen Lüsternheit auf das Folgende gefaßt, als ›der Alte‹ sich plötzlich zu besinnen schien und mit langen Schritten durch den Salon daherkam. Daraufhin tauchte der Schiffslieger augenblicklich unter, wie du dir vorstellen kannst, und hörte nur, wie der Kapitän die Gangtüre zuschlug. Nach dieser Enttäuschung wartete der Schiffslieger gekränkt, bis die beiden das Schiff verlassen würden. Das geschah viel rascher, als er erwartet hatte. Das Mädchen kam zuerst auf Deck heraus. Wie schon früher, sah sie sich auch jetzt nicht um. Sie sah sich überhaupt nichts an und schien in solcher Eile, an Land zu kommen, daß sie die Fallreepstreppe hinunterzusteigen begann, ohne auf den Kapitän zu warten.
Was dann dem Schiffslieger den größten Eindruck machte, das war das achtlose Benehmen des Kapitäns, der hinter dem Mädchen dreinkam. Er ging an dem Schiffslieger vorbei, ohne ihn zu beachten, ohne ihm einen Auftrag zu geben, ohne ihn auch nur anzusehen. Das hatte der Kapitän früher nie getan. Hatte immer ein Nicken und ein nettes Wort für einen gehabt. Aus dieser Einzelheit zog der Schiffslieger Schlüsse, die für das fremde Mädchen ungünstig ausfielen. Er ließ ihnen Zeit, auf den Kai hinunterzukommen, bevor er das Deck überquerte und ihnen über die Reling weg nachsah. Er sah noch, wie der Kapitän den Arm des Mädchens nahm; dann kamen ein paar Frachtwaggons, von einem Pferd gezogen, daher und entzogen das Paar endgültig den Blicken des Schiffsliegers.
Am nächsten Tage, als der Erste Offizier an Bord kam, erzählte ihm der Schiffslieger von dem Besuch und ließ sich auch etwas zweideutig über das Mädchen aus, das ›den Kapitän zu fassen gekriegt hatte‹. Sie sähe nicht gesund aus, meinte er. Auch schäbig angezogen, fügte er gehässig hinzu.
Der Erste Offizier zeigte rege Anteilnahme. Er war seit mehreren Jahren mit Anthony zusammen und hatte sich im Laufe vieler weiter Reisen bis zu einem gewissen Grade von Vertrautheit vorgearbeitet, wie es bei einem Manne von Anthonys Charakter ja zu erwarten gewesen war. Doch trotz der langsam gewachsenen Nähe, die bei der langwährenden Einsamkeit des Seelebens ihre unbewachten Augenblicke hatte, war nie auch nur die kleinste Andeutung gefallen, die ihn hätte darauf vorbereiten können, seinen Kapitän mit irgendeinem Mädchen zusammen zu sehen. Sein Eindruck war gewesen, daß es für den Kapitän Anthony Mädchen überhaupt nicht gäbe. Sich mit einem Mädel zur Schau stellen! Mit einem Mädel! Was wollte er mit einem Mädel? Brachte sie da an Bord und zeigte ihr alle Kabinen! Das war wirklich etwas zu stark! Kapitän Anthony hätte es besser wissen sollen.
Franklin (der Erste Offizier hieß Franklin) fühlte sich enttäuscht, fast verbittert. Solche Dummheiten! Dem dummen, alten Schiffslieger Stoff zum Klatschen geben! Er schaffte sich den Schiffslieger vom Halse und versuchte, an die ganze nebensächliche Torheit nicht mehr zu denken; denn als eifersüchtig treuer Untergebener wollte er nicht, daß Kapitän Anthonys Ansehen Abbruch erleide.
Franklin war über Vierzig. Seine Mutter lebte noch. Sie war für ihn die erste aller Frauen, so wie Kapitän Anthony der erste aller Männer war. Wir dürfen annehmen, daß die beiden Gruppen nicht sehr groß waren. Er war sehr jung zur See gegangen. Die Gründe, weswegen diese beiden Menschen ihm sozusagen den Rest der Menschheit verdunkelten, waren nicht die gleichen; obwohl er schon längst zu der Überzeugung gekommen war, daß er auf sie beide ›aufzupassen‹ habe. Auf die ›alte Dame‹ würde er natürlich aufzupassen haben, solange sie lebte. In Bezug auf Kapitän Anthony pflegte er sich zu fragen, warum er ihn verlassen sollte? Es war nicht anzunehmen, daß er je an einen besseren Seemann oder einen besseren Mann oder an ein bequemeres Schiff geraten würde. Und was die andere Möglichkeit anbetraf, sich durch Beförderung zu verbessern, so waren ja Befehlsstellen nicht alle Tage auf der Straße zu finden, und schließlich war Kapitän Anthony ebensowohl wie sonst jemand auf der Welt imstande, ihm gelegentlich vorwärtszuhelfen.
Nach Herrn Powells Beschreibung war Franklin ein kurzer, stämmiger, schwarzhaariger Mann mit kleiner Glatze. Sein Kopf steckte tief zwischen den Schultern, seine Augen traten leicht hervor, und dies und die hochroten Farben gaben ihm ein etwas schlagflüssiges Aussehen. In Ruhe trug sein rotes Gesicht einen halb wehmütigen Ausdruck.
Herr Franklin ging unter Deck, sobald er dem Schiffslieger alle Schlüssel abgenommen und ihn mit der scharfen Ermahnung nach vorne gejagt hatte, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern und nicht über Dinge schwatzen, die ihn nichts angingen. Er öffnete eine Türe nach der anderen; und im Salon, in der Staatskabine des Kapitäns und auch sonst überall sah er sich ängstlich um, als fürchtete er, an den Schotten, auf dem Fußboden, in der Luft irgend etwas Ungewöhnliches zu entdecken, ein Zeichen, ein Merkmal, einen Rückstand, einen Schatten – er wußte selbst nicht was, irgendeine unmerkliche Veränderung, die durch die Gegenwart eines Mädchens hervorgerufen sein konnte. Doch nichts war zu sehen. Er betrat die unbenutzte Heckkabine und brachte einige Zeit damit hin, die zwei hinteren Ladepforten aufzuschrauben. Mangels aller Beweise begann sein Unbehagen zu schwinden. Nach einem letzten Rundblick trat er hinaus und fand sich seinem Kapitän gegenüber, der von dem anderen Ende des Ganges herkam.
Franklin hielt sofort nach dem Mädchen Ausschau. Sie war nicht zu sehen. Der Kapitän kam rasch auf ihn zu, ›Oh, Sie sind hier, Herr Franklin!‹ Und der Erste Offizier sagte: Ich habe ein wenig gelüftet, Herr!‹ Dann legte der Kapitän, der den Hut tief in die Augen gezogen hatte, seinen Stock auf den Tisch und fragte in seiner gutmütigen Art: ›Wie haben Sie Ihre Mutter vorgefunden, Franklin?‹ – ›Der alten Dame geht es ausgezeichnet, Herr, danke!‹ Und dann hatten sie einander nichts mehr zu sagen. Für Franklin war es ein neues und aufregendes Gefühl. Er eben vom Urlaub zurück, das Schiff eben erst am Ladeplatz, der Kapitän eben erst an Bord gekommen – und offenbar nichts zu sagen! Die verschiedenen Fragen über Verschiedenes, was zu tun war, die er hatte stellen wollen, waren ihm gänzlich entfallen. Auch er kam sich vor, als ob er nichts zu sagen hätte.
Der Kapitän nahm seinen Stock vom Tisch, ging in seine Staatskabine und schloß die Tür hinter sich. Franklin blieb einen Augenblick lang stehen und schickte sich dann langsam an, auf Deck zu gehen. Doch bevor er noch das andere Ende des Salons erreicht hatte, hörte er sich beim Namen rufen. Er fuhr herum. Der Kapitän sah ihm von der Schwelle der Staatskabine aus nach. Franklin sagte: ›Jawohl, Herr!‹ Aber der Kapitän lehnte sich nur stumm vor und hielt den Türgriff umklammert. So ging also Franklin zu ihm zurück und sah ihn dabei fest an. Als er ihm ganz nahe gekommen war, wiederholte er ›Jawohl, Herr?‹, diesmal fragend. Immer noch keine Antwort. Dem Ersten Offizier gefiel es nicht, sich in der Weise anstarren zu lassen, in einer Art, die ihm an seinem Kapitän ganz neu war, mit dem trotzigen und selbstbewußten Blick eines Mannes, der sich krank fühlt und einen anderen abhalten will, ihm das zu sagen. Franklin sah seinen Kapitän an, begriff, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und faßte in seiner Einfalt seine Gefühle in die Worte zusammen:
›Wo fehlt es, Herr?‹
Der Kapitän fuhr leicht zusammen, und der Ausdruck seines Blickes änderte sich zu finsterer Überraschung. Franklin wurde es sehr unbehaglich, doch der Kapitän warf die Frage hin:
›Was bringt Sie denn auf den Gedanken, daß es irgendwo fehlt?‹
›Kann's nicht sagen. Sie scheinen nicht ganz auf der Höhe, Herr‹, räumte Franklin ein.
›Sie scheinen verdammt scharf zu sehen‹, sagte der Kapitän in so angriffslustigem Ton, daß Franklin sich zur Verteidigung bewogen fühlte.
›Wir sind nun über sechs Jahre zusammen, Herr, und da darf ich wohl sagen, daß ich Sie ein wenig kenne. Sofort, als Sie an Bord kamen, hatte ich den Eindruck, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei.‹
›Herr Franklin,‹ sagte der Kapitän, ›wir sind seit mehr als sechs Jahren zusammen, das ist wahr, aber ich wußte nicht, daß Sie etwas vom Gesicht ablesen können. Und dabei sind Sie nicht einmal ein guter Leser. Es ist weit davon, daß etwas nicht in Ordnung wäre, verstehen Sie? So weit davon, wie es überhaupt nur sein könnte! Das soll Sie lehren, keine allzuraschen Schlüsse zu ziehen. Sie sollten das den Leuten an Land überlassen. Die sind mächtig groß darin, alles aufzuspüren, was nicht in der Ordnung ist. Ich meine, sie werden ja auch wohl wissen, was sie aus der Welt gemacht haben. Eine verdammt armselige Sache, und das muß wahr sein. Ein ganz verwünschter Ort ist es, Herr Franklin. Sie wissen nichts davon? Schön – wir Seeleute wissen wohl nichts. Nur dann und wann rennt einer von uns gegen irgendeine Grausamkeit oder so was an, genug, daß einem die Haare zu Berge stehen. Und wenn man dann eins von ihren Stücklein unter die Augen bekommen hat, dann sieht man, daß es gar nicht so leicht in Ordnung zu bringen ist, wie es scheinen möchte . . . Hm! Ich habe Sie zurückgerufen, um Ihnen zu sagen, daß als erstes morgen früh eine Reihe Handwerker, Taglöhner und so Leute an Bord antreten werden, um ein paar Änderungen in der Kabine vorzunehmen. Sie werden darauf sehen, daß die Leute nicht bummeln. Es ist nicht viel Zeit!‹
Franklin stand ganz unter dem Eindruck dieser unerwarteten Predigt über die Schlechtigkeit des Festlandes inmitten der salzigen, unbestechlichen Fluten, auf denen er und sein Kapitän ihr ganzes Leben in glücklicher Unschuld zugebracht hatten. Was er an der Predigt nicht verstand, war, warum sie überhaupt gehalten worden war, und in welcher Beziehung sie zu den Veränderungen stand, die in der Kabine vorgenommen werden sollten. Die Arbeit erschien ihm überhaupt nicht so dringend nötig. Was sollte es für einen Zweck haben, irgend etwas zu ändern? Die Einrichtung war sehr gut, geräumig, gut eingeteilt, etwas altmodisch zwar, und die Ausstattung etwas vergilbt. Doch ein wenig Lack da und dort, vielleicht ein bißchen Vergoldung, war alles, was nottat. Was die Bequemlichkeit anlangte, so konnte sie durch keinerlei Änderungen gesteigert werden. Er wehrte sich gegen den Gedanken einer Änderung; doch pflichtgemäß erwiderte er, er wolle die Werkleute schon im Auge behalten, wenn ihm der Kapitän nur sagen wolle, welcher Art die Arbeit war, die er angeordnet hatte.
›Sie werden eine Aufstellung darüber auf diesem Tische finden. Ich will sie Ihnen hierlassen, wenn ich an Land gehe‹, sagte Kapitän Anthony hastig. Franklin glaubte, es käme nichts weiter und schickte sich an, den Salon zu verlassen. Doch der Kapitän fuhr nach einer kleinen Pause fort: ›Sie werden fraglos überrascht sein, wenn Sie sehen, was es ist. Es wird ziemlich große Änderungen geben. Weil nämlich eine Dame mit uns kommt. Ich werde heiraten, Herr Franklin!‹«