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»Jung Powell dachte bei sich: ›Sogar die Mannschaft merkt es.‹ Tatsächlich war ja des Kapitäns Benehmen gegen seine Frau und deren Vater auffallend genug. Es schien, als wären sie zwei nicht sonderlich angenehme Fahrgäste. Aber vielleicht war es nicht immer so. Der Kapitän konnte über irgend etwas aufgebracht sein.
Als der bekümmerte Franklin an Deck kam, machte Powell eine dahinzielende Bemerkung. Denn seine Neugier war ganz wach.
Der Erste brummte: ›Scheint Ihnen so . . .? Aufgebracht? . . . Wie?‹ Er knöpfte seine dicke Jacke bis zum Hals hinauf zu und fügte dann erst ein finsteres ›O ja, leicht möglich‹ hinzu, das ein weiteres Gespräch abschnitt. Doch auch eine Ermutigung hätte den jungen Zweiten Offizier nicht dazu bringen können, sich zu Bekenntnissen herbeizulassen. Eine unbewußte Klugheit hielt ihn ab. Powell wußte nicht, warum er sich entschlossen hatte, sein Gespräch mit Herrn Smith für sich zu behalten. Doch seine Neugier schlummerte nicht. Einige Zeit nachher, wieder bei der Wachablösung, erwähnte er während eines kleinen Gesprächs ganz nebensächlich Frau Anthonys Vater und versuchte herauszubekommen, wer er wohl war.
Es müßte wohl ein verteufelt kluger Kopf sein, der das herausbringen könnte, so wie die Dinge an Bord jetzt liegen‹, sagte Herr Franklin überraschend mitteilsam. ›Ich sah ihn zum erstenmal, als sie ihn eines Morgens gegen halb zwölf in einer Droschke längsseit brachte. Der Kapitän war frühzeitig an Bord gekommen und saß in der Kabine unten, die für ihn eingerichtet worden war. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß Sie, wenn Sie irgendwas vom Kapitän brauchen, nach Backbord hinüber müssen? Die beiden Heckkabinen sind ganz neu eingerichtet worden, wie ein gesegneter Palast. Ein Schock Leute von pikfeinen Westendfirmen haben hier an Bord mit Vorhängen und Einrichtung zwei Wochen lang herumgemacht, als sollte die Königin mit uns kommen. Natürlich. Die Steuerbordkabine Schlafraum, aber der arme Kapitän liegt an Backbord auf einem Sofa, damit, falls wir ihn bei Nacht brauchen, Frau Anthony nicht gestört werde. Nervös! Puh! Eine Frau, die einen Seemann heiratet und mit ihm auf die Reise geht, sollte keine Zimperlichkeit an sich dulden, sage ich. Aber das ist ja gleich. Sobald ich die Droschke damals um die Ecke des Warenschuppens biegen sah, rief ich dem Kapitän hinunter, daß seine Frau an Bord käme. Er antwortete mir zwar, da ich ihn aber nicht heraufkommen sah, so ging ich selbst die Laufplanke hinunter, um ihr behilflich zu sein. Sie springt ganz aufgeregt heraus, ohne meinen Arm anzurühren oder auch nur ›Danke‹ oder ›Guten Morgen‹ oder sonst etwas zu sagen, wendet sich zu der Droschke zurück, und dann krabbelt also dieser alte Kauz langsam heraus. Ich hatte ihn gar nicht drinnen sitzen sehen. Ich war nicht darauf gefaßt, noch jemanden zu sehen. Es erschreckte mich förmlich. Sie sagte: ›Mein Vater – Herr Franklin.‹ Er glotzte mich wie eine Eule an. ›Wie geht es Ihnen, Herr?‹ frage ich. Sie sahen beide ganz spaßig aus. Als wäre ihnen unterwegs etwas zugestoßen. Keiner von beiden rührte sich, und ich stand wartend daneben. Der Kapitän erschien auf dem Hüttendeck; ich sah, wie er kurz über die Reling herunterblickte und wieder verschwand; er ist im Begriff, herunterzukommen, dachte ich mir. Aber er ging einfach wieder unter Deck. Da ich ihn also nicht sah, so sagte ich: ›Darf ich Ihnen an Bord helfen, Herr?‹ – ›An Bord‹, sagte er ganz dumm. ›An Bord.‹ – ›Das Fallreep ist nicht sehr bequem, aber ganz fest‹, sagte ich, da er etwas ängstlich schien. Dabei sah er gar nicht wie ein hinfälliger alter Mann aus. Sie können es ja selbst sehen, wie er ist. Kerzengerade, und noch Leben genug in sich. Aber er rührte sich nicht, und ich begann mir ganz närrisch vorzukommen. Dann kam sie dazu. ›Oh, danke Ihnen, Herr Franklin. Ich werde meinem Vater hinaufhelfen.‹ Ich war ganz baff – weil ich so beiseite geschubst wurde. Schob sich zwischen mich und ihn, ohne mich auch nur anzusehen. So ließ ich es denn natürlich sein. Was meinen Sie? Ich blieb zurück. Ich wäre gerne sofort an Bord gegangen und hätte es ihnen überlassen, nachzukommen oder bis nächste Woche unten auf dem Kai zu bleiben, wenn sie mir nicht den Weg versperrt hätten. Ich konnte sie ja nicht gut beiseite schieben. Der Teufel mochte wissen, was zwischen ihnen los war. Da stand sie also, bleich wie der Tod, und redete hastig auf ihn ein. Er wurde ganz rot, wie ein Truthahn – hol' mich der Teufel, wenn er das nicht tat. Ein jähzorniger alter Bursche, kann ich Ihnen sagen. Kein guter Schlag. Aber das ist ja gleich. Ich konnte nicht hören, was sie ihm sagte, aber sie strengte sich so an dabei, daß es sie schüttelte. Es schien – es schien, sage ich! – nun, als wollte er nicht an Bord. Aber das konnte es ja natürlich nicht sein. Ich weiß es besser. So oder so, sie faßte ihn am Arm, über dem Ellbogen, als wollte sie ihn führen oder eher schieben. Ich stand keinen Meter weit fort. Warum hätte ich weggehen sollen? Mir eilte es, an Bord zurückzukommen, so schnell sie es mir gestatten würden. Mir lag auch nichts daran, ihr verdammtes Gewisper zu verstehen. Aber ich konnte dort auch nicht ewig stehenbleiben, und darum machte ich eine Bewegung, um, wenn möglich, an ihnen vorbeizukommen. So kam es, daß ich einige Worte verstand. Es war der alte Bursche, der irgend etwas heftig murmelte von ›in jemandes Klauen sein‹. Dann sagte er: ›Ich will dieses Opfer nicht.‹ Was er damit meinte, kann ich nicht sagen. Ein Streit war es – das weiß ich ganz gewiß. Sie sieht über die Schulter zurück und sieht mich ganz nahe hinter ihnen. Ich weiß nicht, was sie ihm daraufhin ins Ohr sagte, aber er gab jedenfalls plötzlich nach. Er sah sich ebenfalls nach mir um, und dann gingen sie beide so schnell hinauf, daß ich, als ich aufs Achterdeck kam, nur gerade noch sehen konnte, wie sich die Gangtüre hinter ihnen schloß. Komisch – wie? Aber wenn es nur komisch wäre, dann wollte man sich nicht weiter darum kümmern. Etwas Gepäck, neue Koffer, kam nachmittags an Bord. Wir gingen um Mitternacht aus dem Dock. Und ich will gehenkt sein, wenn ich weiß, wer oder was er war oder ist. Ich habe es nicht herausfinden können. Nein, ich weiß es nicht. Er kann irgend etwas gewesen sein. Ich weiß nur, daß ich vor Jahren, als ich mir einmal mit einem Freunde das Derby ansah, einen dunklen Ehrenmann traf, der gerade so aussah wie der geheimnisvolle alte Vater aus der Droschke.‹
Alles dies hatte der glotzäugige Erste bitter traurig erzählt, mit Pausen, in die das leichte Rauschen der See geklungen hatte. Er schien ein schmerzliches Vergnügen daran zu haben, daß er neue Ohren, einen Neuling gefunden hatte, um vor ihm alle die Anlässe zu Kummer und Verdacht auszukramen, die die Schar von Kapitän Anthonys treuen Untergebenen untereinander endlos durchgesprochen hatte. Es war ihm in seinem Kummer offenbar eine solche Erleichterung, daß es ihn sogar das bißchen Vorsicht vergessen ließ, das einem Fremden gegenüber vielleicht angebracht sein konnte. Tatsächlich hatte es ja mit Herrn Powell keine Gefahr. Da ihn die Klagen belustigten, so forderte er sie zunächst zum Spaß heraus. Später, als er sie bei sich überlegte, machten sie ihm mehr Eindruck. Und da dieser Eindruck sich mit den Tagen vertiefte, so verstärkte sich in gleichem Maße auch sein Entschluß, ihn für sich zu behalten.
Was es ihm sehr erleichterte, diesem Entschlusse treuzubleiben, das war die Tatsache, daß Jung Powells anfängliche belustigte Überraschung nicht ganz frei von Entrüstung über die Dinge war, die ihm zunächst als glatte Dummheit erschienen waren. Er war zu jung an Jahren, zu neu in seiner Stellung, hatte noch zu wenig Vertrauen zu seinen eigenen Ansichten, um sie wirkungsvoll äußern zu können. Und wozu auch schließlich – und wer erwartete es von ihm?
Die Frage aber, vertraut und geheimnisvoll zu gleicher Zeit, beschäftigte seine Einbildungskraft. Die Einsamkeit der See macht Gedanken und Erfahrungstatsachen lebendiger, daß sie geradezu als Mittelpunkt der Welt erscheinen, so wie das Schiff, das einen trägt, immer als Mittelpunkt des runden Horizonts erscheint. Powell erschienen der schlagflüssige, glotzäugige Erste und der schwermütige, düster blickende Steward als die Opfer einer eigenen, unerforschten Art von Verrücktheit, die ihnen das Leben vergiftete. Das machte sie ihm aber nicht sympathischer. Nein. Die merkwürdige Gottesstrafe erweckte in ihm erstauntes Mißtrauen.
Einmal – und wieder bei Nacht; denn da die Offiziere der Ferndale in der Wache abwechselten, wie es in jenen Tagen der Brauch war, hatten sie nur wenig Gelegenheit zur Unterhaltung – einmal also fragte Herr Franklin, der seltsam klobig unter den Sternen, den üblichen Zeugen seiner Auslassungen, stand, ohne alle Vorbereitung, nicht gerade ungeschliffen, aber doch formlos:
›Sie haben keine lebenden Verwandten?‹
Herr Powell gab zurück, daß er Vater und Mutter ganz früh verloren habe.
›Meine Mutter lebt noch‹, erklärte Herr Franklin in einem Ton, der erkennen ließ, daß er die Tatsache begrüßte. ›Die alte Dame hält gut aus. Natürlich muß man es ihr leicht machen. Um eine Frau muß man sich kümmern. Und wenn es darum geht, dann, sage ich, gebt mir eine Mutter. Ich kann wohl sagen, wenn sie nicht so gut ausgehalten hätte, dann wäre ich vielleicht hingegangen und hätte mich verheiratet. Ich weiß es zwar nicht. Wir Seeleute haben nicht viel Zeit, um nach Partien Ausschau zu halten. Immerhin, da die alte Dame da war, so habe ich, kann ich wohl sagen, Zeit meines Lebens kein Mädchen ernsthaft angesehen. Nicht als ob ich für weibliche Gesellschaft zu meiner Zeit nicht empfänglich gewesen wäre‹, fügte er gefühlvoll hinzu, und dabei glitzerte das Weiße seiner hervorstehenden Augen verliebt im Sternenlicht. ›Sehr empfänglich sogar, darf ich sagen.‹
Herr Powell war belustigt. Und da diese Mitteilungen nur stattfanden, wenn der Erste abgelöst war, so hatte er keinen ernsten Einwand dagegen. Die Gegenwart des Ersten ließ die erste halbe Stunde seiner Wache und oft sogar noch mehr rasch vergehen. Wenn es seinem Vorgesetzten nichts ausmachte, um einen Teil seiner Ruhezeit zu kommen, so brauchte es Herrn Powell nicht zu kümmern. Franklin war ein anständiger Mann. Er hatte nicht die Absicht, sich seiner Kindesliebe zu rühmen.
›Natürlich meine ich achtbare weibliche Gesellschaft‹, erklärte er. ›Die andere Art ist ja nicht Fisch und nicht Fleisch. Ich will keines Mannes Sitten tadeln, aber ein gut erzogener junger Mann, wie Sie, muß ja wissen, daß herzlich wenig dabei zu holen ist.‹ Er seufzte tief. ›Ich wollte, Kapitän Anthonys Mutter wäre auch von der zähen Art gewesen, wie meine alte Dame. Er hätte sich um sie kümmern müssen, und er hätte es richtig getan, denn Kapitän Anthony ist ein hochanständiger Mann. Es hätte ihn vor der größten Verrücktheit bewahrt, die je – –‹
Er beendete den Satz nicht, der ihm sicher schon wie Galle im Munde lag. Jung Powell dachte, ›nun geht es wieder los‹. Dabei lachte er ein wenig.
›Ich weiß nicht recht, Herr Franklin, warum Sie so hart gegen den Kapitän sind! Ich dachte, Sie wären mit ihm sehr befreundet?‹
Herr Franklin widersprach heftig. Er sei nicht hart gegen den Kapitän. Nichts läge ihm ferner. Freund! Natürlich sei er ein guter Freund und ein treuer Untergebener. Er bat Powell, sich klarzumachen, daß, wenn Kapitän Anthony es sich einfallen lassen sollte, morgen mit dem Teufel einen Pakt zu schließen, und der Teufel wäre gut zu Kapitän Anthony, daß dann er, Franklin, von Herzen gern den Teufel um des Kapitäns willen lieben wollte. So war das. Andererseits wieder, wenn eine Heilige, ein Engel mit weißen Schwingen daherkam und . . .
Wieder brach er kurz ab, als hätte ihn seine eigene Heftigkeit erschreckt. Dann bemerkte er mit seiner gedämpften, gefühlvollen Stimme, das Reden hätte keinen Wert. Jeder Mensch könne sehen, daß der Mann verändert sei.
›Was nun das angeht,‹ sagte Jung Powell, ›so kann ich es unmöglich beurteilen.‹
›Guter Gott!‹ flüsterte der Erste, ›ein wohlerzogener, netter junger Mann, wie Sie, mit zwei Augen im Kopf und ein bißchen Verstand dazu! Sieht so ein glücklicher Mensch aus, wie? Sie mögen ja jung sein, aber Sie sind doch kein Säugling! Und probieren Sie es doch, mir mit ja zu antworten!‹
Herr Powell nahm die Herausforderung nicht an. Er wußte nicht, was er zu des Ersten Behauptung sagen sollte. Immerhin schien ihm dadurch bis zu einem gewissen Grade das Verständnis aufgegangen zu sein. Er gab zu, daß der Kapitän nicht recht gut aussehe.
›Nicht recht gut‹, wiederholte Franklin tieftraurig. ›Meinen Sie etwa, daß ein Mann mit einem solchen Gesicht hoffen darf, sein Leben richtig zu Ende zu leben? Sie sind noch nicht lange in der Welt herumgestoßen worden, aber Sie sind doch ein Seemann, sind auf drei oder vier Schiffen gewesen, wie Sie sagen. Nun, haben Sie je einen Kapitän gesehen, der auf seinem eignen Deck herumwandert, als wüßte er nicht, was er unter den Füßen hat? Ja? Verdammt will ich sein, wenn ich nicht meine, daß er vergißt, wo er ist! Natürlich kann er nicht anders, als ein erstklassiger Seemann sein; aber es ist trotzdem ein Glück, daß er mich an Bord hat. Ich weiß nun schon, was er getan haben will, ohne daß man es mir sagt. Wissen Sie, daß ich noch keinen Befehl bekommen habe, seit wir aus dem Hafen weg sind? Wissen Sie, daß er mir gegenüber noch nie den Mund aufgetan hat, außer wenn ich ihn zuerst angesprochen hatte? Ich? Sein Erster Offizier, sein Schicksalskamerad durch volle sechs Jahre, mit dem er nie ein böses Wort gewechselt hat – nicht ein einziges in der ganzen Zeit! Jawohl! Nicht einmal einen bösen Blick! Es ist ja wahr, wenn ich ihn zum Sprechen bringe, dann ist gleich wieder sein liebes, altes Wesen da, sein rascher Blick, die gütige Stimme. Könnte ja auch schwer anders sein, gegen seinen alten Franklin. Aber was macht das alles? Augen, Stimme, alles meilenweit weg. Und dabei passe ich genau auf, ihn nie anzusprechen, wenn das Hüttendeck nicht klar ist. Ja. Nur wir beide und nichts als die See um uns. Sie könnten glauben, das sei so ganz in der Ordnung. Der einzige Erste Offizier, den er je gehabt hat. Herr Franklin hier, und Herr Franklin dort. Wenn irgendwas nicht stimmte, so war das erste, was man an Deck hörte: ›Franklin!‹ – Ich bin dreizehn Jahre älter als er – Sie möchten glauben, daß das ganz in Ordnung ist, nicht wahr? Nur wir beide hier auf der Hütte, auf der wir einander zuerst gesehen haben – er, ein junger Kapitän, sagte mir, er meinte, wir würden gut zueinander passen – wir beide, nun einunddreißig Tage auf See, und es tut nicht gut! Es ist, als spräche man mit einem Menschen, der an Land steht. Ich kann ihn nicht zurückholen. Ich kann nicht bis zu ihm hin. Mir ist manchmal, als müßte ich ihn beim Arm schütteln: ›Wachen Sie auf, wachen Sie auf, Sie werden gebraucht, Herr!‹
Jung Powell erkannte in alledem den Ausdruck eines echten Gefühls, das ihn mit Achtung erfüllte; denn Gefühl ist selten in dieser Welt, wo es so viele Stumme gibt, und viele triftige Gründe auch für sprachbegabte Menschen, sogar noch auf See, sich nicht aus der Hand zu geben. Es war kein lauter Ausbruch. Die groteske, vierschrötige Gestalt mit dem klammen Kopf, der aussah, als wäre er durch einen Keulenschlag zwischen die breiten Schultern getrieben worden, bewegte sich schattenhaft in dem engen Raum zwischen den zwei Rationsfässern, die an der Vorderreling der Hütte angelascht waren; ohne große Gesten, die Hände in den Jackentaschen, die Ellbogen hart angelegt; die klanglose Stimme ging von Ärger zu Kummer über und wieder zurück, ohne daß eines der schnellen Worte lauter betont worden wäre; nur das keuchende Atmen schuf Pausen, als würde der Sprecher durch die unterdrückte Leidenschaft seines Schmerzes erstickt.
Herr Powell war zwar in gewissem Grade ergriffen, aber durchaus nicht hingerissen. Als er eben glaubte, es sei alles vorüber, ließ sich der andere aus dem Dunkel nochmals hören, nicht sehr laut, aber doch eindringlich genug, im Schweigen des Schiffes und des stillen, weiten Friedens der See.
›Sie haben ihm etwas angetan! Was ist es? Was kann es sein? Können Sie es nicht erraten! Wissen Sie es nicht?‹
›Himmel!‹ entfuhr es Jung Powell, im ersten Staunen darüber, daß gerade diese Frage an ihn gerichtet wurde. ›Wie sollte ich es wissen?‹
›Sie sprachen mit dem bleichsüchtigen, schwarzäugigen . . . Ich habe Sie mit ihr mehr als ein Dutzend Male sprechen sehen.‹
Jung Powells Mitgefühl erkaltete sofort, und er gab geringschätzig zurück, daß Frau Anthonys Augen nicht schwarz seien.
›Ich wollte bei Gott, sie hätte sie nie auf den Kapitän geworfen, von welcher Farbe sie auch sein mögen‹, erwiderte Franklin. ›Sie und der alte Bursche mit den eingefallenen Wangen, der über ihr sitzt und mit seinen gelben Augen auf ihr todblasses Gesicht herunterstarrt – hol' sie der Teufel, alle beide! Vielleicht werden Sie uns noch sagen wollen, daß er keine gelben Augen hat!‹
Powell, dem die Farbe von Herrn Smiths Augen nicht wichtig schien, machte eine oberflächliche Handbewegung. Gelb oder nicht gelb, das war ihm einerlei.
Der Erste murmelte vor sich hin: ›Nein. Er kann es nicht wissen. Nein. So wenig wie ein Kind. Dazu würde ein älterer Kopf gehören.‹
›Ich verstehe nicht einmal, was Sie meinen‹, warf Herr Powell kalt ein.
›Und auch der beste Kopf müßte sich verwirren vor solchem Teufelswerk‹, fuhr der Erste murmelnd fort. ›Gut, ich habe gehört, daß Frauen einen Mann auf die eine oder andere Art festkriegen, wenn er ihnen an Land in die Hände gefallen ist. Aber mit ihrer Hexerei auf See zu kommen und sie an einem solchen Mann auszulassen! . . . Das ist mehr, als ich verstehen kann. Aber ich kann warten. Sie sollen nur aufpassen – das sage ich!‹
Seine stämmige Gestalt, knorrig und ohne Biegsamkeit, vermochte keine Niedergeschlagenheit auszudrücken. Er schien plötzlich sehr müde und schleppte die Füße, als er vom Hüttendeck fortging. Bevor er es endgültig verließ, nachdem er eine Stunde seiner Freiwache geopfert hatte, wandte er sich noch einmal an unseren jungen Mann, der sich in verdrossenem Schweigen neben den Besanwanten hielt. Er bedauere es nicht, sagte er, in dieser sehr ernsten Sache offen gesprochen zu haben.
›Ich weiß nichts davon, wie ernst sie ist‹, war Herrn Powells freimütige Antwort. ›Wenn Sie etwa meinen, mir etwas ganz Neues erzählt zu haben, dann irren Sie sich. Sie können ja die Sache aus Ihren Gesprächen nicht fortlassen. Es ist immer dasselbe, was ich so ziemlich fortwährend gehört habe, seitdem ich an Bord bin.‹
Herr Powell gedachte bei aller Offenheit doch nicht ausfallend zu sein. Sein Benehmen war von Natur klug; er fühlte wohl, daß es eine ernste Sache sein mußte, da sie mit Vernunft nichts zu tun hatte. Er dachte nicht daran, sich in der Person des Ersten einen Feind zu schaffen. Herr Franklin übrigens nahm es nicht krumm, sondern erwiderte auf Herrn Powells wahre Feststellung nur mit der anderen gleich unumstößlichen Wahrheit, daß es sehr wohl möglich sei, sehr wohl möglich. Da ihm eine solche Sache – die hart an Hexerei grenzte – das Herz bedrückte, so war es nur zu verwundern, daß er überhaupt noch an anderes denken konnte. Der arme Mann mußte wohl aus der Ruhelosigkeit seiner Gedanken das Trugbild geschöpft haben, daß er sich in offenem Kampf mit irgendeiner bösen Macht befände; denn seine letzten Worte, während er zögernd die Hüttenleiter hinunterstieg, drückten die unbestimmte Hoffnung aus, daß er Powell ›schon noch auf unsere Seite bringen‹ würde.
Herr Powell – stell' dir nur einen gradsinnigen jungen Offizier vor, der sich solcherart auf hoher See angepackt sieht – antwortete nur mit einem verlegenen, unbehaglichen Lachen, das getreu die Verfassung seiner unschuldigen Seele widerspiegelte. Der schlagflüssige Erste, schon halb unten, kam nochmals ein paar Stufen der Hüttenleiter herauf. Natürlich doch – ein anständiger, junger Kerl, so hoffte der Erste, würde nicht danebenstehen und zusehen, wie ein Mann, ein guter Seemann und sein eigener Kapitän, in Not war, und nicht Partei ergreifen, gegen ein paar Landratten, die . . . die – – Herr Powell unterbrach ihn ungeduldig mit der Frage, was denn das für eine Not sei?
›Worauf wollen Sie denn hinaus?‹ rief er mit einer Erregung, die ihm selbst unerklärlich war.
›Ich mag gar nicht daran denken, daß er dort unten mit den beiden alleine ist,‹ flüsterte Franklin eindringlich, ›auf mein Wort, ich mag nicht! Gott allein weiß, was dort vorgehen mag . . . Lachen Sie nicht . . . Während der letzten Reise war es schon schlimm genug, als noch Frau Brown eine Achterkajüte hatte; aber jetzt ist's noch schlimmer. Es erschreckt mich. Ich kann oft nicht schlafen, wenn ich daran denke, daß er dort unten alleine ist; von uns allen abgeschnitten.‹
Frau Brown war des Stewards Weib. Du mußt wissen, daß Anthony kurz nach seinem Besuch bei den Fynes (mit allen seinen Folgen) ein Angebot bekommen hatte, nach den Azoren zu gehen und die Ladung eines Schiffes heimzuholen, das, bei einem Zusammenstoß oder beim Stranden beschädigt, St. Michael als Nothafen angelaufen hatte und dort als seeuntüchtig erklärt worden war. Roderick Anthony hatte Verbindungen, die ihm solche angenehme Verdienstmöglichkeiten verschafften. So hatte Flora de Barral als ersten Vorgeschmack des Seelebens nur eine fünfmonatige Reise gehabt, einen reinen Ausflug. Und Anthony, in dem offenkundigen Bestreben, sich recht aufmerksam zu erweisen, hatte Frau Brown, die Gattin seines treuen Stewards, bestimmt, als Zofe für seine junge Frau mitzufahren. Doch wurde aus dem einen oder anderen Grunde dieses Abkommen nicht beibehalten, und der Erste Offizier, durch die bösesten Vermutungen und Sorgen gequält, bedauerte das. Er bedauerte es, daß Jane Brown nicht länger an Bord war – als eine Art Vertreterin der treuen Diener des Kapitäns Anthony, um ruhig beobachten zu können, was in dem Teil des Schiffes vorging, der durch die unglückselige Ehe der Wachsamkeit der anderen entrückt war. Das war ganz ausgezeichnet gewesen. Denn sie war eine zuverlässige Frau.
Powell konnte nichts so Ausgezeichnetes in einer Anstellung finden, die ihm als reiner Spitzeldienst erschien. In seiner Einfalt sagte er aber, er hätte gemeint, daß es Frau Anthony wohl angenehm sein müßte, eine andere Frau an Bord zu haben. Dabei dachte er an das todblasse, mädchenhafte Persönchen, das, so schien es ihm, wohl jemanden brauchte, der es umsorgte. Der unschuldige junge Mann sah das Mädchen immer noch als unfertig an, als ein Kind etwa.
›Sie! Angenehm! Was denn – sie war es ja, derentwegen die andere hinausgefeuert wurde! Sie wollte niemanden in der Kabine. Frau Brown weiß es ganz gewiß, sie hat es ihrem Mann gesagt. Fragen Sie den Steward und hören Sie, was er darüber zu sagen weiß. Das ist der Grund, weswegen mir die ganze Sache nicht gefällt. Eine tüchtige Frau, die ihren Dienst kannte. Aber nein – hinaus mußte sie. Ohne eigentlichen Grund, bedenken Sie. Der Kapitän schämte sich, als er sie wegschickte. Aber seine Frau dort – ja, ja, das saubere Paar hat ihn gut in der Hand. Ich kann nicht eine Minute auf Deck mit ihm sprechen, ohne daß der alte Duckmäuser dazu geschlichen kommt. Ich sage Ihnen was: ich hörte einmal – Gott sei mein Zeuge, daß es nicht meine Absicht war – er hatte nur vergessen, daß ich mit meinem Sextanten auf der anderen Seite des Deckfensters war – Sie wissen ja, er sitzt über ihren Stuhl gebeugt und plappert unaufhörlich, ohne richtig den Mund aufzumachen – jawohl, ich habe das Wort gut genug verstanden. Er sprach von dem Kapitän als von einem ›Gefängniswärter‹. Gefängnis . . .!‹
Franklin brach mit einem Fluch ab. Ein langes Schweigen herrschte, und das leise Rollen des Schiffes, das vor dem Nordostpassat hinglitt, schien die Männer, die sich der See anvertraut hatten, mahnen zu wollen, von bösen Vermutungen abzustehen. Ein tiefer Seufzer ließ sich hören, und gleich darauf die Stimme des Ersten mit der betrübten Frage, ob das wohl die Art sei, von einem Manne zu sprechen, dem man wohlwolle? Es brauchte keinen besseren Beweis, daß etwas nicht in Ordnung sei. Und darum drückte er, als er endlich verschwand, nochmals die Hoffnung aus, Herr Powell würde sich auf ihre Seite schlagen. Und diesmal hatte Herr Powell kein verlegenes Lachen für diese Hoffnung.
Der junge Offizier war mehr und mehr überrascht von der Eigenart der Eröffnungen, die ihm mitten auf hoher See aufgedrängt wurden. Es ist schwer für uns, das ganze Ausmaß seiner Unerfahrenheit zu begreifen, für uns, die wir ja nicht aus einer kleinen Privatschule im Alter von vierzehn Jahren und neun Monaten auf See hinausgegangen sind. Er lehnte sich mit dem Ellbogen gegen die Besanwanten und verhielt sich so reglos, daß der Mann am Steuer, am anderen Ende der Hütte, vielleicht, wahrscheinlich sogar, vermutete, er schliefe strafbarerweise auf Wache; dabei versuchte er aber doch bloß, die Sache auszutüfteln, einen Schlüssel dazu zu finden, der seiner einfachen Psychologie angemessen war. ›Worüber zum Teufel zerbrechen sie sich den Kopf?‹ fragte er sich mit einer Heftigkeit, die aus Staunen und Geringschätzung gemischt war. Bei alledem war es merkwürdig genug, einen Mann gerade ›Gefängniswärter‹ zu nennen; unfreundlich, herzlos, böse. Es tat ihm leid, Herrn Smith in dieser Sache einen Vorwurf nicht ersparen zu können, denn es hatte ihm, die Wahrheit zu sagen, geschmeichelt, daß Frau Anthonys Vater sein Dasein zur Kenntnis genommen hatte. Die Jugend schätzt diese ruhige Art des Geltenlassens, die feinste Schmeichelei, die das Alter zu bieten hat. Herr Smith suchte die Gelegenheit, sich ihm auf Deck zu nähern. Seine Bemerkungen waren mitunter absonderlich und rätselhaft. Er war fraglos ein eigener alter Herr. Von da aber war es ein weiter Schritt bis dorthin, daß er seinem Schwiegersohn (dem er auf Deck nie in die Nähe ging) hinter dem Rücken häßliche Namen gab.
Und Herr Powell wunderte sich . . .
»Während er mir alles dies erzählte,« fuhr Marlow in verändertem Tone fort, »wunderte ich mich noch mehr. Es war, als ob das Unglück seine Opfer an der Stirne brandmarkte, um sie dem Übelwollen der Menge preiszugeben. Dabei denke ich nicht an die Zahl. Zwei Männer können sich wie eine Menge benehmen, drei werden es bestimmt tun, wenn ihre Gefühle im Spiele sind. Es war, als ob Flora de Barral an der Stirne gebrandmarkt gewesen wäre. War das Mädchen geboren, um Opfer zu sein, immer verachtet und herumgestoßen, als wäre sie zu fein für diese Welt? Oder zu unglücklich – da auch das oft als Sünde angerechnet wird?
Jawohl, ich wunderte mich mehr als Herr Powell, da ich von dem Mädchen mehr als er wußte – wenn auch nur ihren richtigen Namen; und desgleichen mehr von Kapitän Anthony, wenn auch nur die Tatsache, daß er der Sohn eines feinsinnigen, erotischen Dichters von ausgesprochen überfeinertem und herrischem Temperament war. Jawohl, ich kannte die Berührungspunkte ihrer beiden Geschichten, die Herr Powell nicht kannte. Das Kapitel, das er mir nun enthüllte, das Seekapitel mit solch neuen handelnden Personen wie dem gefühlvollen, schlagflüssigen Ersten Offizier und dem mürrischen Steward, war, so verblüffend es ihm in seiner teilweisen Unkenntnis erscheinen mochte, doch für mich noch viel verblüffender, als ein Glied in der Kette, anschließend an das Kapitel vor dem Easternhotel, in dem ich selbst meine Rolle gespielt hatte. Im Zusammenhang mit ihren Erklärungen und meinen weisen Bemerkungen dazu war es sehr unerwartet. Sie hatte es gut gemeint, und ich hatte es sicher auch gut gemeint. Soweit so große Worte auf die unbedeutenden Persönlichkeiten dieser Geschichte angewandt werden dürfen, möchte ich sagen, daß wir alle von den edelsten Gefühlen und Absichten erfüllt waren. Da war auch noch die See, um ihrer Einsamkeit Schutz und Schirm zu sein gegen die Kleinlichkeiten der Welt. Ich durfte mich wohl über das wundern, was geschehen war.
Ich hoffe, daß Herr Powell, wenn er es gesehen, mir das Lächeln verziehen hat, das ich mir in jenem Augenblick zuschulden kommen ließ. Das Licht in der Kajüte seines kleinen Kutters war trübe. Auch das Lächeln war trübe. Trübe und flüchtig. Des Mädchens Leben hatte sich mir als eine Kette tragikomischer Abenteuer dargestellt, als das Traurigste, was es auf Erden gibt, wobei man zwischen offenem Lachen und haltlosen Tränen schwankt. Jawohl, eine Kette der traurigsten Begebenheiten und der alltäglichsten, die vielleicht, gerade weil sie so alltäglich sind, am meisten unser unbedingtes Mitleid verdienen.
Das war mein Gedankengang. Ich erinnerte mich auch an den Abend, wo ich sie das erstemal gesehen hatte – während sie mit den Möglichkeiten eines Abgrunds spielte, oder sie vielleicht auch ernsthaft erwog. Ich zeigte aber keine Eile, von Herrn Powell zu erfahren, was schließlich mit Frau Anthony geschehen war. Ich ließ ihn ruhig in seiner eigenen Weise fortfahren, denn ich wußte ja, daß ich, was immer Merkwürdiges er mir auch zu erzählen haben konnte, davon doch mehr verstehen mußte, als er auch nur erraten haben konnte . . .«
Marlow machte eine lange Pause. Er schien unsicher, als hätte er eine Behauptung gewagt, die über meinen Begriff gegangen wäre. Ich verhielt mich absichtlich reglos. »Verstehst du mich?« fragte er.
»Gewiß,« sagte ich, »du bist der Führer durch die psychologische Wildnis. Dies ist wie eine der Indianergeschichten, wo die hochherzigen Wilden ein Mädchen fortführen und der biedere Hinterwäldler mit seiner unvergleichlichen Kenntnis der Fährte folgt und die Kunde von ihrem Schicksal da in einem Fußabdruck, dort in einem gebrochenen Zweig liest. Mir haben die Geschichten immer gut gefallen. Erzähl' weiter!«
Marlow lächelte nachsichtig zu meinem Spott. »Es ist nicht gerade eine Geschichte für Jungen«, sagte er. »Ich erzähle also weiter. Die Zeichen, von denen du sprichst, waren nicht sehr zahlreich, aber recht vielsagend, und als Herr Powell hörte (in einem gewissen Punkte der Geschichte fühlte ich mich verpflichtet, es ihm zu sagen), als er hörte, daß ich Frau Anthony vor ihrer Ehe gekannt hatte, daß ich, bis zu einem gewissen Grade, ihr Vertrauter gewesen war . . . nun, sagen wir, daß ich Einblick gehabt hatte . . . Ein junges Mädchen, siehst du, ist etwas wie ein Tempel. Du gehst vorüber und fragst dich, welche geheimnisvollen Riten dort drinnen wohl vor sich gehen mögen, welche Gebete, welche Verzückungen? Die bevorzugten Männer, der Liebhaber, der Gatte, denen der Schlüssel zum Heiligtum ausgeliefert ist, wissen ihn nicht immer zu gebrauchen. Mir nun war ohne weiteres, ohne Verdienst, durch reinen Zufall, ein Blick durch die halboffene Tür vergönnt gewesen, und ich hatte die trostloseste Entweihung gesehen, eine geknickte Jugend, ein zerstörtes Selbstbewußtsein, und an seiner Stelle gleichgültige Ergebung, stumpfe Trauer, alles dies ganz einfach und echt – vor den äußeren und inneren Schwierigkeiten der Lage. Die tatenlose Angst der Unglücklichen!
Ich fragte mich: war das Unglück noch immer nicht zu Ende? Dieses Unglück, das wie der Haß unsichtbarer Mächte erschien, durch die Handlungen von Menschen wirksam und schmerzlich fühlbar gemacht?
Herr Powell hatte, wie du dir denken kannst, zu meiner Eröffnung große Augen gemacht. Aber die wachgerufenen Erinnerungen an die Erlebnisse an Bord der Ferndale, dazu an den eigenartigen Zufall, daß er mit hineingezogen worden war, weil er mit dem Heuerbas den Namen gemeinsam hatte, erfüllten ihn so mit Verwunderung, daß er andere Zufälle, so ungewöhnlich sie auch sein mochten, nicht mehr sonderlich überraschend finden konnte.
Die merkwürdige Namensgleichheit beschäftigte ihn so stark, daß er das Gefühl nicht loswerden konnte, er sei unter falschen Voraussetzungen an Bord gekommen; und das peinigte ihn so, daß es ihm den Mut gab, in die ehrfurchtgebietende Abgeschlossenheit seines Kapitäns einzudringen. Er wollte es von der Seele haben. Ich nehme an, daß seine Jugend Herrn Powell zur Seite stand. O ja. Jugend ist eine Macht. Sogar Kapitän Anthony mußte sie bemerken, als hätte es ihn erfrischt, etwas Unberührtes zu sehen, unverdorben durch Leid und Häßlichkeit. Vielleicht zog auch nur das neue Gesicht seine Aufmerksamkeit an, neu an Bord eines Schiffes, auf dem er seit Jahren die gleichen Gesichter um sich gesehen hatte.
Ob er eines Tages ein Wort zu seinem neuen Zweiten Offizier sagte oder ihn nur ansah, weiß ich nicht. Herr Powell aber benutzte die Gelegenheit, wie sie auch gewesen sein mochte. Der Kapitän, der mit einem Ruck in seinem ewigen Hin- und Herwandern innegehalten hatte, glättete seine Brauen schnell, hörte ihn zu Ende und lachte dann ein wenig.
›Oh, das ist die Geschichte. Und Sie glaubten, mich darüber aufklären zu müssen?‹
›Ja, Herr.‹
›Es tut nichts zur Sache, wie Sie an Bord kamen‹, sagte Anthony; und dann bewies er, daß er vielleicht den Dingen auf dem Schiff nicht ganz so fremd war, wie Franklin vermutet hatte: ›Ist schon gut! Sie scheinen sich hier mit allem ganz nett zurechtzufinden‹, sagte er in seinem kurzen, hastigen Ton, als täte ihm das Sprechen weh, und dabei schweiften seine Augen schon, wie gewöhnlich, wieder ins Weite.
›Ja, Herr.‹
Powell erzählte mir, daß er dabei dem anderen in das starke Gesicht sah, merkte, wie es wieder den verlorenen Ausdruck bekam, und sich aus einem unklaren, guten Gefühl heraus zu der Bemerkung gedrängt fühlte: ›Ich bin sehr glücklich hier an Bord, Herr.‹
Der jäh auf ihn zurückschnellende Blick und seine durchdringende Schärfe bestürzten Herrn Powell und ließen ihn sogar einen Schritt zurücktreten. Der Kapitän sah aus, als hätte er die Bedeutung des Wortes vergessen.
›Sie . . . was? O ja . . . natürlich . . . Glücklich. Warum nicht?‹
Das war nur gemurmelt; im nächsten Augenblick war Anthony schon wieder in seinem Auf und Ab, die Augen von seinem Schiff weg auf die See hinaus gerichtet.
Ein Seemann sieht ja tatsächlich meist in die Weite. Doch in Kapitän Anthonys Fall lag darin, wie Powell es nannte, etwas Besonderes, Vorsätzliches, als wollte er Schmerz oder Versuchung vermeiden. Es war sehr aufdringlich, sobald man es erst einmal bemerkt hatte. Vorher konnte man es nur als sehr eigenartig empfinden. Nicht als ob der Kapitän – das hatte Powell ausdrücklich betont – die Dinge nicht gesehen hätte, wie es seiner Stellung zukam. Beweis dafür war, daß er gerade bei jener Gelegenheit plötzlich, nachdem er eine Weile schweigend auf und ab gegangen war, Powell angewiesen hatte, die Stagsegelschoten sollten loser gemacht werden; er fügte noch einige Bemerkungen über die Stagsegel hinzu, als Frau Anthony, von ihrem Vater gefolgt, von der Kajütentreppe her auftauchte. Sie setzte sich wie gewöhnlich in ihren Stuhl, in Lee vom Deckfenster. Darauf brach der Kapitän mitten in seiner Rede ab und ging kurz darauf unter Deck.
Ich fragte Herrn Powell, ob der Kapitän und seine Frau niemals auf Deck miteinander gesprochen hätten? Er sagte, das hätten sie nicht getan oder doch niemals mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt. Es sei etwas wie eine Kälte zwischen ihnen gewesen. Jenes eine Mal zum Beispiel, als Frau Anthony heraufgekommen war, hatten sie einander angesehen; des Kapitäns Augen waren ihr sogar gefolgt, bis sie Platz genommen hatte; danach aber hatte er das Deck verlassen, ohne nach jenem ersten stummen Begrüßungsblick den Kopf nochmals in ihre Richtung gewandt zu haben.
Ich fragte Herrn Powell, was er nach dem Weggang des Kapitäns getan habe. ›Ich ging hin und unterhielt mich mit Frau Anthony. Ich war der Ansicht, daß sie sich recht sehr langweilen mußte. Sie schien sich auf dem Schiff so ganz fremd zu fühlen.‹
›Der Vater war natürlich auch dabei?‹
›Immer‹, sagte Powell. ›Er saß immer dort auf dem Deckfenster, als müßte er sie bewachen. Ich glaube,‹ fügte er hinzu, ›daß er sie quälte. Nicht als ob sie es irgendwie gezeigt hätte. Frau Anthony war immer ganz ruhig, und bereit, einem gerade in die Augen zu sehen.‹
›Haben Sie vielleicht zusammen gesprochen?‹ fuhr ich zu fragen fort.
›Sie ließ meistens mich sprechen‹, gestand Herr Powell. ›Ich glaube nicht einmal, daß es ihr besonders fesselnd erschien. Aber sie ließ mich doch reden. Sie brach nie die Unterhaltung ab.‹
Herrn Powells ganze Zuneigung gehörte Frau Flora Anthony, geborenen de Barral. Sie war das einzige menschliche Wesen an Bord, jünger als er selbst, da die Ferndale keine Schiffsjungen führte und die Mannschaft nur aus Vollmatrosen bestand. Jawohl, ihre Jugend hatte eine Art Band zwischen ihnen geschaffen. Herrn Powells offenes Gesicht muß ihr unter den gereiften, rauhen, mürrischen oder sogar feindlichen Gesichtern der anderen ringsum angenehm aufgefallen sein. Mit dem warmen Edelmut seiner Jahre war Jung Powell an ihrer Seite, tatsächlich bevor er noch wußte, daß es an Bord jenes Schiffes Partei zu nehmen galt und was es damit auf sich hatte. Da war ein Mädchen, ein nettes Mädchen. Er legte sich keine Fragen vor. Flora de Barral war nicht sehr viel jünger als er selbst; aber aus irgendeinem Grunde, vielleicht wegen des Widerspruchs mit seiner vorgefaßten Meinung von der Frau eines Kapitäns, erschien sie ihm doch außergewöhnlich jung. Zugleich übte sie auch, abgesehen von ihrer höheren Stellung, den Einfluß auf ihn aus, den eine Frau zufolge ihrer früheren Reife auf einen Mann ihres Alters leicht gewinnt. Es scheint also, daß die beiden allmählich Freunde wurden, trotzdem sie nie länger als eine halbe Stunde zusammenhängend miteinander sprachen, mit großen Pausen zwischen den einzelnen Gesprächen, und immer unter den Augen des alten Mannes.
Wie er zuerst mit der Frau seines Kapitäns in Berührung kam, das schilderte Powell folgendermaßen: Es war lange vor dem denkwürdigen Gespräch mit dem Ersten Offizier und kurz nach dem Verlassen des Kanals. Das Wetter war trübe; der Wind, halb Sturm, stand gerade von vorn. Die Ferndale lief unter verminderten Segeln hart am Winde, quer durch das Fahrwasser der heimkehrenden Schiffe, und rührte sich eben noch vom Fleck. Denn es lag kein Grund zur Eile vor, und das Wetter sah drohend aus. Etwa um zehn Uhr nachts war Powell alleine auf dem Hüttendeck auf Wache, hielt sich gut hinter der Wetterreling und sah nach Luv, als er plötzlich über die hochgehenden Wellen weg unter dem schwarzen Himmel die Lichter eines Schiffes erkannte. Er beobachtete sie eine Zeitlang. Das Schiff lief natürlich vor dem Wind. ›Es wird ziemlich nahe an uns vorbeikommen‹, sagte er sich. Und plötzlich empfand er starkes Mißtrauen gegen das nahende Schiff. ›Es kommt kerzengerade auf uns zu‹, dachte er. Es war nicht seine Sache, auszuweichen. Im Gegenteil. Und sein Unbehagen wuchs, wenn er an die hundertvierzig Tonnen Dynamit im Lagerraum der Ferndale dachte. Nicht die Art von Ladung, an die man gerne in Verbindung mit einem möglichen Zusammenstoß denkt. Er sah nach den beiden kleinen Lichtern hinaus in die dunkle Unendlichkeit, die das wütende Brausen der See erfüllte. Er war wie gebannt, bis ihr deutliches Näherkommen ihn zu der Überzeugung brachte, daß Gefahr im Anzuge sei. Er hatte wohl eine klare Vorstellung, was unter den Umständen zu tun war, fühlte aber doch sofort, daß er den Kapitän herausrufen mußte.
Er querte das Deck in einem Sprung. Nach einem Seebrauch, alt wie Menschengedenken, ist die Kapitänskajüte immer an Steuerbord. Du könntest ebensogut erwarten, daß dein Kapitän die Nase im Genick hat, wie daß seine Kajüte an Backbord liegt. Powell hatte vollständig die Andeutung vergessen, die ihm sein Vorgesetzter diesbezüglich gemacht hatte. Er sprang hinüber wie gejagt, stampfte mit dem Fuß, beugte dann sein Gesicht zu der Öffnung des großen Ventilators und brüllte hinunter: ›Bitte kommen Sie an Deck, Herr!‹ mit einer Stimme, die nicht zitterte oder erschreckt klang, aber doch wohl eindringlich genug war. An der Dringlichkeit des Anrufs konnte kein Zweifel bestehen. Statt des erwarteten, bereitwilligen ›Schon recht!‹ und dem Geräusch eines raschen Aufspringens dort unten, hörte er aber nur einen schwachen Ausruf, und dann Stille.
Stelle dir seine Verwunderung vor. Er verharrte, das Ohr zu der Mündung des großen Ventilators geneigt, die Augen fest auf die drohenden Seitenlichter gerichtet, die unter den Stößen des Windes über die Wellen wegzutanzen schienen. Es kam ihm wie eine Stunde vor, doch war sicherlich weniger als eine Minute vergangen, bevor er in das weite Rohr geradezu hineinbrüllte: ›Kapitän Anthony!‹ Ein erregtes ›Was ist?‹ in Frau Anthonys Stimme antwortete, dazu schnelle Schritte . . . Warum versuchte sie nicht, ihn aufzuwecken? ›Ich brauche den Kapitän!‹ brüllte er, gab es dann auf und sprang, entschlossen, selbständig zu handeln, auf die Kajütenkappe zu, wo ein Blaufeuer aufbewahrt wurde.
Unterwegs warf er einen Blick auf den Mann am Steuer, dessen Gesicht im Lichte der Kompaßlampe ganz ruhig erschien. Er rief ihm hastig zu: ›Machen Sie sich bereit, das Steuer auf das erste Wort hin herumzuwerfen.‹ Die Antwort ›Zu Befehl, Herr‹ wurde mit fester Stimme gegeben. Dann rannte Herr Powell nach einem Zuruf an die Deckwache, sich achtern bereitzuhalten, zur Reling hinüber und schlug das Blaufeuer an.
Ein zischender, kleiner Funkenregen war alles, was erfolgte. Das Feuer hatte (vielleicht infolge der Feuchtigkeit) nicht gefangen. Die Zeit, die alle diese verschiedenen Handlungen beanspruchten, muß wohl nach Sekunden gezählt werden. Powell gestand mir, daß er bei diesem Versagen sich wie gelähmt fühlte, ohne denken, reden oder ein Glied rühren zu können. Das Unerwartete des Versagens überstieg seine Begriffe. Es war das einzige, worauf seine Vorstellungskraft nicht eingerichtet war; es warf ihn einfach um. Als er wieder zu sich kam, stand ihm die unerbittliche Notwendigkeit vor Augen, sofort etwas zu tun; sonst mußte es ein Aufeinanderkrachen, Breitseite gegen Breitseite geben, von einer Dynamitexplosion begleitet, in der die beiden Schiffe spurlos vernichtet werden und alles an Bord in Flammen und Getöse untergehen würde.
Er sah die Katastrophe förmlich geschehen. Im gleichen Augenblick aber, bevor er noch den Mund öffnen oder ein Glied rühren konnte, um die Vision abzuwehren, sagte eine Stimme hart an seinem Ohr, Kapitän Anthonys gemessene Stimme: ›Wollte nicht brennen, wie? Werfen Sie's weg! Laufen Sie nach dem Flackerfeuer!‹
Die Triebfeder in Herrn Powell trat mit großer Kraft wieder in Wirksamkeit. Er sprang. Das Flackerfeuer wurde in der Kajütenkappe neben einer Schachtel Streichhölzer bereitgehalten. Bevor ihm noch seine Bewegung zum Bewußtsein gekommen, war er schon den Niedergang hinunter. Er packte das Rohr im Dunklen und versuchte, ein Zündholz anzustreichen. Aber er mußte den Halter mit einem Arm gegen die Brust drücken, seine Finger waren steif und klamm, seine Hand zitterte ein wenig. Ein Streichholz brach, das andere ging aus. Bei seinem Schein sah er ein wenig tiefer das farblose Gesicht der Frau Anthony; sie stand auf der Kajütentreppe. Ihre Augen waren den seinen ganz nahe (er kauerte auf der ersten Stufe) und schienen in dem kurzen Lichtschein dunkel zu glühen. Von Deck her hörte man plötzlich unerwartet spöttisch die Stimme des Kapitäns: ›Sie sollten lieber scharf zusehen, wenn Sie noch zurechtkommen wollen!‹
›Geben Sie mir die Schachtel!‹ flüsterte Frau Anthony hastig und vertraut, und es klang lustig, als wären sie zwei Kinder, die hinter einer Mauer einen Spaß vorhaben. Er war froh über das Anerbieten, das ihm ganz natürlich erschien, und erwiderte ohne Förmlichkeit:
Ihre Hände berührten sich im Dunkeln, und sie nahm die Schachtel, während er die paraffingetränkte Fackel in ihrem eisernen Handgriff hielt. Er dachte sie noch zu warnen: ›Passen Sie auf!‹ doch bevor er noch den Satz ausgesprochen hatte, schlug die Flamme heftig zwischen ihnen beiden hoch, und er sah, wie die Frau, einen Arm vorm Gesicht, zurückwich. ›Hallo!‹ rief er aus. Nur konnte er sich keinen Augenblick aufhalten, um zu fragen, ob sie verletzt wäre. Er sprang aus dem Niedergang gerade auf seinen Kapitän zu, der ihm die Fackel abnahm und sie hoch über seinen Kopf hielt.
Die starke Flamme wehte wie eine seidene Flagge, warf grelle, tanzende Schatten und Lichter über das Hüttendeck, erleuchtete die Hohlflächen der Segel und spiegelte sich in dem nassen Anstrich der weißen Reling. Jung Powell wandte den Blick nach Luv und hielt den Atem an.
Das fremde Schiff, ein Schatten in der Nacht, schien sich nicht vorwärtszubewegen, sondern nur gerade voraus immer deutlicher zu werden, und stierte dabei die Ferndale mit einem grünen und einem roten Auge an, die schwankten und tanzten, als säßen sie im Kopf eines unsichtbaren Ungeheuers, das mitten zwischen den Wogen auf Lauer lag. Ein Augenblick, lang wie eine Ewigkeit, verstrich, und plötzlich schloß das Ungeheuer, das groß wie ein Berg geworden war, sein grünes Auge, ohne vorher auch nur gezwinkert zu haben.
Herr Powell holte tief Atem. ›Jetzt ist alles in Ordnung‹, sagte Kapitän Anthony mit ruhiger Bestimmtheit. Er gab Powell die lodernde Fackel und ging selbst achtern, um die drohende Zerstörung vorbeiziehen zu sehen, die aus der blinden Nacht, auf den Schwingen des wilden Windes, mit glühenden Augen aufgetaucht war. Man konnte nun genau die Form unterscheiden, schwarz und langgestreckt zwischen den Schaumfetzen, die ihr entlangjagten.
Wie es bei einem Schiff, das vor dem Winde läuft, die Regel ist, schien auch dieses einem Beschauer nicht in sonderlich schneller Bewegung zu sein, sondern nur träge, in langen, gemächlichen Sätzen, mitten durch die Brecher vorzurücken. Erst als es jetzt in guter Rufweite am Heck der Ferndale vorüberglitt, wurde seine rasende Fahrt kenntlich. Das rote Licht ging aus, und auf dem Kamm einer großen Woge verschwand das fremde Schiff wie ein ungeheurer Schatten in einem Umsehen in die dunkle Weite.
›Das war knapp‹, sagte Kapitän Anthony gleichmütig und eben laut genug, um im Wind verstanden zu werden. ›Eine blinde Bande dort drüben. Löschen Sie jetzt die Fackel!‹
Herr Powell kehrte den Halter stillschweigend um, löschte die Flamme im Rohr und brachte so mit einer kleinen Handbewegung völlige Dunkelheit über das Schiff. Zugleich verschwand auch vor seinem inneren Auge die Vision einer anderen Flamme, die ungeheuer heftig aus stürmischer See aufschlug, bis zu den Wolken leuchtete und mit vulkanartiger Gewalt Spieren, Leichen und Trümmer zweier zerfetzter Schiffe himmelan trug. Sie verschwand und machte unendlicher Erlösung Platz. Er sagte mir, er habe nicht gewußt, wie entsetzt er war, habe es erst an diesem Bild erkannt, das seine Einbildungskraft ihm vorgezaubert hatte. Auch konnte er es (denn Angst ist eine furchtbare Anspannung) an der toten Müdigkeit ermessen, die ihn plötzlich überfiel.
Er ging zum Kajütenniedergang, beugte sich, um die Fackel an ihren Platz zu legen, und sah dabei in der Dunkelheit das reglos blasse Oval von Frau Anthonys Gesicht. Sie fragte leise und ruhig:
›Wird irgend etwas geschehen? Was ist es?‹
›Jetzt ist alles schon vorüber‹, flüsterte er zurück.
Er blieb niedergebeugt und starrte weiter nach dem leichenhaft bleichen Gesicht. Er wunderte sich, daß sie nicht auf Deck gestürzt war. Sie war ganz ruhig unten geblieben. Das war mutig. Wundervolle Selbstbeherrschung! Und gewiß nicht Dummheit von ihrer Seite. Sie wußte, daß eine Gefahr unmittelbar bevorstand, und wahrscheinlich auch, welcher Art sie war.
›Sie haben hier abgewartet, was geschehen würde?‹ murmelte er bewundernd.
›War das nicht das beste, was ich tun konnte?‹ fragte sie zurück.
Er wußte es nicht. Vielleicht. Er gestand, daß er es nicht fertiggebracht hätte. Er nicht. Sein Fleisch und Blut hätten es nicht ertragen. Er hätte sicher das Gefühl gehabt, sehen zu müssen, was im Werke war. Dann erinnerte er sich, daß die Fackel ihr vielleicht das Gesicht verbrannt hatte, und sprach sein Bedauern aus.
›Nur ein wenig. Kein Anlaß! Riechen Sie das verbrannte Haar?‹
Ihr Ton klang beinahe lustig. Sie hatte sich vielleicht erschreckt, aber sicher nicht arg, und litt nicht unter der Nachwirkung. Das bestärkte und vermehrte, wenn möglich, Herrn Powells gute Meinung von ihr, als von einem ›tüchtigen Mädel‹, obwohl es ihm selbst ungeheuerlich vorkam, einen derartigen Ausdruck auf die Frau seines Kapitäns anzuwenden. ›Sie sieht aber gar nicht danach aus‹, dachte er weiter und wollte ihr noch etwas über das Anzünden der Fackel sagen, als sich im Stiegenhaus eine andere Stimme mit einigen undeutlichen Worten hören ließ. Der Ton war verächtlich; die Stimme kam von unten, vom Fuße der Treppe, aus der Kajüte; und die einzige andere Stimme, die zu dieser Abendstunde in der Hauptkajüte zu hören sein konnte, war die von Frau Anthonys Vater. Das undeutliche weiße Oval versank vor Herrn Powells Augen mit überraschender Schnelligkeit. Er blieb noch einen Augenblick über den Niedergang gebeugt, und nun, da ihre schlanke Gestalt nicht länger die enge, gewundene Treppe versperrte, drangen die Stimmen von unten lauter herauf, die Worte aber blieben immer noch undeutlich. Der alte Herr war über irgend etwas aufgeregt, und Frau Anthony ›brachte ihn zurecht‹, wie Powell sich ausdrückte. Sie entfernte sich vom Fuße der Treppe, und Powell ging vom anderen Ende weg. Dennoch glaubte er, die Worte ›verloren für mich‹ verstanden zu haben, bevor er den Kopf zurückzog. Herr Smith hatte sie ausgesprochen.
Kapitän Anthony hatte sich nicht von der Deckreling weggerührt. Er war in der gleichen Stellung geblieben, die er eingenommen hatte, um das andere Schiff, rollend und schlingernd, schattenhaft, in dem tosenden Kielwasser vorüberziehen zu sehen. Er rührte sich noch immer nicht. Und Powell, der ihm ganz nahe stand, wagte ihn nicht anzusprechen, so rätselhaft erschien seinen jungen Augen diese Gestalt in der Nacht: undeutlich – und in ihrem unbeweglichen Starren in das Dunkel hinaus die Beute eines unverständlichen Kummers, einer Sehnsucht oder einer Reue.
Warum wirkt doch die Reglosigkeit eines Menschen oft so eindrucksvoll, unheilschwanger – als wäre endlose Bewegung unser wahres Schicksal? Kapitän Anthonys Ruhe wurde seinem Zweiten Offizier nahezu unerträglich. Herr Powell, der sich beim Deckfenster herumdrückte, wünschte seinen Kapitän jetzt von Deck fort. ›Warum geht er nicht hinunter?‹ fragte er sich ungeduldig. Er wagte ein Husten.
Ob es nun die Wirkung des Hustens war oder nicht – Kapitän Anthony sprach. Auch dabei rührte er sich nicht. Den Rücken der ganzen Länge des Schiffes zugekehrt, fragte er Herrn Powell etwas schroff, ob der Erste Offizier es unterlassen hätte, ihn darüber zu belehren, daß der Kapitän an Backbord zu finden wäre.
›Jawohl, Herr‹, sagte Powell und näherte sich dem starren Rücken. ›Der Erste Offizier hat mir gesagt, auf Backbord aufzustampfen, wenn ich Sie brauchte. Aber ich dachte im Augenblick nicht daran.‹
›Das hätten Sie tun sollen!‹ sagte der Kapitän mit Anstrengung. Dann fügte er halblaut hinzu: ›Ich will nicht, daß Frau Anthony erschreckt wird, verstehen Sie . . .?‹
›Das ist diesmal nicht geschehen‹, sagte Powell in aller Unschuld. ›Sie hat mir die Fackel angezündet, Herr.‹
›Diesmal!‹ rief Kapitän Anthony aus und fuhr herum. ›Frau Anthony hat die Fackel angezündet? Frau Anthony . . .‹ Powell erklärte, sie sei die ganze Zeit über auf der Kajütentreppe gestanden.
›Die ganze Zeit!‹ wiederholte der Kapitän. Es kam Powell sonderbar vor, daß der Kapitän ihn, anstatt selbst hinzugehen, fragte:
›Ist sie jetzt auch noch dort?‹
Powell sagte ihm, sie sei hinuntergegangen, sobald das fremde Schiff von der Ferndale klargekommen sei. Kapitän Anthony machte selbst eine Bewegung auf die Kajütentreppe zu, als Powell die weitere Mitteilung hinzufügte: ›Herr Smith hat Frau Anthony vom Salon aus gerufen, Herr. Ich glaube, sie sprechen jetzt dort unten.‹
Er war überrascht, zu sehen, daß der Kapitän den Gedanken hinunterzugehen, sofort aufgab.
Statt dessen begann er, ohne Rücksicht auf die Kälte, den nassen Wind und den Sprühregen, das Hüttendeck auf und ab zu wandern. Und doch hatte er nichts an außer seinem Schlafanzug und den Hausschuhen. Powell stellte sich auf das Vorderschott und hielt Ausschau. Als er nach einiger Zeit den Kopf wandte, um einen verstohlenen Blick nach seinem verschrobenen Kapitän zu tun, da konnte er die straffe dunkle Gestalt nicht mehr hin und her wandern sehen. Der Zweite Offizier der Ferndale ging achtern, sah sich um und fragte schließlich den Mann am Steuer: ›Kapitän unter Deck gegangen?‹
›Jawohl, Herr‹, sagte der Bursche, der, einen mächtigen Priem in der linken Backe, die Augen auf die Windrose gerichtet hielt. ›Den Augenblick. Er lachte.‹
›Lachte?‹ wiederholte Powell ungläubig. ›Wollen Sie sagen, daß der Kapitän lachte? Sie müssen sich irren! Was sollte er zu lachen haben?‹
›Weiß nicht, Herr.‹
Der ältliche Matrose zeigte tiefe Gleichgültigkeit gegen menschliche Gefühlsregungen. Immerhin gestand er nach einer längeren Pause der Schwäche seines Zweiten Offiziers noch einige Worte zu. ›Jawohl, er ging wie gewöhnlich auf und ab, bis er plötzlich kurz auflachte und die Kajütentreppe hinunterstieg. Ist ihm wohl was Lustiges eingefallen.‹
›Etwas Lustiges!‹ Das konnte Herr Powell nicht glauben. Er fragte sich nicht, warum. Lustige Gedanken können ja einem Mann in allen Lagen kommen; sie kommen allerhand Leuten. Trotzdem war Herr Powell beinahe entrüstet, zu erfahren, daß Kapitän Anthony in einer gewissen Nacht ohne ersichtlichen Grund gelacht hatte. Der Eindruck war ihm aus irgendeinem Grunde peinlich. Und damals geschah es, in den letzten Stunden seiner Wache, während der eisige Wind ihn umwehte, und aus der Dunkelheit rings um das Schiff die kurzen Seen brüllten, damals geschah es, daß sich seinem schlichten Gemüt die Erkenntnis aufdrängte, nicht alle Dinge wären vielleicht so, wie man es zuversichtlich erwartet. Und Kapitän Anthony wäre vielleicht kein glücklicher Mann . . . Insoweit war er also, wie du siehst, in der richtigen Verfassung für die Klagelieder des gefühlvollen Franklin um seinen Kapitän. Und wenn er ihnen auch gemeinhin eine Geringschätzung entgegensetzte, die zum größten Teile echt war, so gab er mir doch zu, daß auf dem Grunde seines Herzens die unerklärliche und unbehagliche Vermutung gewachsen war, gegen seinen Willen beinahe: in der Hauptkajüte unten, die so gegen allen Brauch vom übrigen Schiff abgeschlossen war, möchte nicht alles zum besten stehen! . . .«