Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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VII
Auf dem Pflaster

»Fyne zeigte keine Lust zum Reden; da ich aber nun einmal in das Geheimnis eingeweiht worden war, so erkannte der anständige kleine Mann wohl an, daß ich ein Recht hatte, mehr zu erfahren, wenn ich darauf bestand. Und ich bestand darauf, nach der dritten Partie. Wir hatten noch einen Teil der Fahrt vor uns.

›Oh, wenn Sie es wissen wollen‹, begann er etwas ungeduldig, dann aber sprach er ziemlich fließend weiter. Vor allem also hatte ihm seine Frau Floras Brief nicht zu lesen gegeben (ich aber hatte erwartet, er würde ihn in der Tasche bei sich haben), sondern ihm nur den Inhalt mitgeteilt. Der Brief war ganz und gar nicht so, wie er hätte sein müssen, hätte das Mädchen wirklich ihr Recht dartun wollen, die Gefühle aller Welt mißachten zu können. Ihre eigenen seien hoffnungslos in den Schmutz getreten worden. Das war doch wohl ein außergewöhnlicher Ausspruch für ein Mädchen ihres Alters, wie ich vielleicht zugeben würde? Der ganze Ton des Briefes war verkehrt, ganz verkehrt. Der Brief war zweifellos nicht die Frucht einer ausgeglichenen Gemütsstimmung.

›Wollte man ihr nur einen festen Punkt in der Welt geben‹, sagte ich, ›und wäre er nicht größer als die Fläche meiner Hand, so würde sie es wohl lernen, ihr Gleichgewicht besser zu bewahren!‹

Fyne überhörte diese kleine Bemerkung völlig. Seine Frau, sagte er, sei es nicht gewöhnt, in einer ernsten Sache spöttisch angeredet zu werden. Der ganze Brief sei voll einer unerfreulichen Leichtfertigkeit, die sich sogar bis auf die Erwähnung des Kapitäns Anthony erstrecke. Und seine Frau habe ihm klargemacht, daß eine solche Veranlagung einige Sorgen wegen der Zukunft sehr wohl rechtfertigen müsse, selbst in dem Falle, daß alle Begleitumstände des sinnlosen Vorhabens so befriedigend wären, wie sie es in Wahrheit nicht waren. Andere Stellen des Briefes schienen sogar eine Anklage zu enthalten – als wollte sie die Fynes herausfordern, das Ganze zu billigen. Und zugleich deutete sie doch auch an, daß sie persönlich keinen Wert darauf legte, vielmehr um der Fynes willen hoffte, daß sie sich ›gegen die Welt stellen würden – gegen die böse Welt, die den armen Papa zu Fall gebracht hatte‹.

Fyne forderte mich auf, zuzugeben, daß das, wenn man es recht bedachte, ziemlich unverfroren war. Und es gab noch etwas. Während der letzten sechs Monate (sie hatte bei zwei Damen ausgeholfen, die in Bayswater einen kleinen Kindergarten hielten – eine reine Verlegenheitsbeschäftigung), während dieser Zeit also hatte sie scheinbar mit größtem Eifer die Verhandlungsberichte durchstudiert, hatte Stöße alter Zeitungen überlesen und sich in lebhafte Entrüstung gegen die, wie sie es nannte, heuchlerische Ungerechtigkeit der Verfolgung hineingesteigert. Ihr Vater hatte, wie Fyne hervorhob, während der Verhandlung einige merkwürdig einleuchtende Bemerkungen gemacht, und auf diese hatte sich nun das Mädchen frohlockend gestürzt, war zu der Überzeugung von ihres Vaters Unschuld gekommen und hatte sie unumstößlich in sich gefestigt. Frau Fyne hatte ihrem Gatten gegenüber die Gefährlichkeit gerade dieses Umstandes betont.

Der Zug lief in den Bahnhof ein, und sobald er angehalten hatte, sprang Fyne hinaus, augenscheinlich froh, das Gespräch abbrechen zu können. Wir gingen ein Stück weit schweigend, nahmen einen Omnibus und gingen dann wieder zu Fuß. Ich kann mir nicht denken, daß Fyne seit den Tagen seiner Kindheit, wo man ihn ja sicher zum Tower geführt hatte, jemals wieder westlich von Temple Bar gewesen war. Er sah sich übellaunig um und knurrte nur mißbilligend, als ich ihm von weitem die Eckfront des Easternhotels zeigte, das an der Gabelung zweier breiter, schmutziger Hauptstraßen wie ein Turm aus grauem Mörtel die niederen Dächer der schmutzfarbenen zweistöckigen Häuser überragte.

›An Ihrer Stelle würde ich das, was Sie mir eben erzählt haben, nicht allzusehr hervorheben‹, sagte ich ruhig, während wir dem reizlosen Gebäude zuschritten. ›Kein Mann wird von dem Mädchen, das eben seine Werbung angenommen hat, glauben wollen, daß ihr Gleichgewicht gestört ist.‹

›Oh, seine Werbung angenommen!‹ murmelte Fyne der augenscheinlich recht gründlich überzeugt worden war. ›Es kann auch anders herum gegangen sein‹, und er fügte hinzu: ›Ich werde mir keinesfalls ein Blatt vor den Mund nehmen.‹

Ich betonte, wie lobenswert dies Vorhaben wäre, meinte aber auch, daß eine gewisse Mäßigung in der Ausdrucksweise . . . Er winkte mir mit der Hand ab und beschleunigte seinen Schritt. Ich entnahm daraus, daß er Eile hatte, mit seiner Aufgabe so schnell wie möglich fertig zu werden. Er nahm sich kaum noch die Zeit, mir die Hand zu schütteln, und verschwand dann sprungartig hinter der engen Glastüre, die die Aufschrift ›Hotel-Eingang‹ trug. Sie schlug hinter ihm zu, ohne Geräusch, wie ein zahnloser Kiefer.

Die törichte Versuchung, dazubleiben und den Ausgang abzuwarten, behielt über meine bessere Einsicht recht. Ich drehte mich unentschlossen herum und fragte mich dabei, wie viel Zeit eine Sendung dieser Art beanspruchen und ob Fyne beim Herauskommen sich wohl mitteilsam zeigen würde. Ich fürchtete, er würde Anstoß nehmen, wenn er mich vor der Türe fand, würde mein Benehmen unpassend finden, mich vielleicht gar mit Verachtung behandeln. Ich ging ein paar Schritte weiter. Vielleicht würde auf Fynes Gesicht beim Herauskommen einiges zu lesen sein. Und im Notfall konnte ich immer noch durch die Türe einer der Bars ungesehen verschwinden. Das Erdgeschoß des Easternhotels nahm eine recht mindere Schenke ein, mit Spiegelscheiben, großem Gepränge von Messingstangen und vielen Abteilungen mit gesonderten Eingängen.

Natürlich war alles das Torheit. Die Ehe, die Liebe, die Angelegenheiten des Kapitäns Anthony gingen mich nicht das geringste an. Ich war eben daran, endgültig die Straße hinunterzugehen, als meine Aufmerksamkeit durch ein Mädchen geweckt wurde, das sich vom Westen her dem Hoteleingang näherte. Sie war sehr bescheiden in Schwarz gekleidet. Nur der nette weiße Strohhut mit einem Strauß blasser Rosen darauf hatte mir ins Auge gestochen. Die ganze Gestalt schien mir vertraut. Natürlich! Fräulein de Barral! Sie ging auf das Hotel zu, wollte hinein, und Fyne war bei Kapitän Anthony! Es konnte ihr unmöglich angenehm sein, ihn zu treffen. Ich wünschte ihr die Peinlichkeit zu ersparen, und während ich noch zögerte, wie ich es anfangen sollte, sah ich auf, und unsere Blicke trafen sich, als sie gerade vom Bürgersteig weg in die Türe einbiegen wollte. Unwillkürlich streckte ich den Arm aus; das genügte, um sie aufzuhalten. Ich nehme an, daß sie eine schwache Erinnerung daran hatte, mich irgendwo vorher schon gesehen zu haben. Sie kam langsam näher, vorsichtig und aufmerksam, und beobachtete mein schwaches Lächeln.

›Entschuldigen Sie‹, sagte ich, sobald sie auf Sprechweite herangekommen war. ›Vielleicht ist es Ihnen lieb, zu wissen, daß Herr Fyne gerade bei Kapitän Anthony oben ist.‹

Sie wiederholte leise: ›Oh, Herr Fyne.‹ Ich sah an ihren Augen, daß sie mich nun erkannt hatte. Ihr ernster Gesichtsausdruck machte mein törichtes Lächeln verschwinden, das mir jetzt erst bewußt wurde. Ich lüftete den Hut. Sie antwortete mit einem langsamen Kopfneigen, während ihr leuchtender, mißtrauischer Mädchenblick zu fragen schien: Was will denn der da?

›Ich bin heute morgen mit Fyne in die Stadt gekommen‹, sagte ich ganz geschäftsmäßig. ›Ich muß einen Freund im Ostindiendock besuchen. Fyne und ich haben uns diesen Augenblick hier an der Türe getrennt . . .‹ Das Mädchen sah mich an und ihre Augen wurden dunkler . . . ›Frau Fyne hat ihren Gatten nicht begleitet‹, fuhr ich fort und zögerte dann vor dem weißen Gesicht, das mich so still aus dem lichten Schatten der Hutkrempe anblickte. ›Aber sie hat ihn geschickt‹, murmelte ich warnend.

Ihre Lider senkten sich langsam über den starren Blick. Ich stelle mir vor, daß sie über den Verlauf der Dinge nicht sonderlich bestürzt war. ›Ich wohne weit von hier‹, flüsterte sie.

Ich warf ein kurzes ›So?‹ hin. Und dann sahen wir einander stumm an. Die eintönige Blässe ihrer Haut war nicht die eines bleichsüchtigen Mädchens. Eine eigene Lebenskraft schimmerte durch, und gerade damals zeigte sich eine leise rosa Tönung, ein Anflug von Farbe; was wohl, denke ich mir, bei ihr so viel sagen wollte, wie das knalligste Erröten bei einem anderen Mädchen; sie erzählte mir, daß Kapitän Anthony versprochen habe, ihr an diesem Morgen das Schiff zu zeigen.

Es war leicht zu sehen, daß sie keinen Wert darauf legte, Fyne zu treffen. Und als ich halblaut erwähnte, daß er ihres Briefes wegen gekommen war, da sah sie rasch nach der Hoteltür und ging ein paar Schritte weiter bis zu einer Stelle, von der aus sie den Eingang beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Ich folgte ihr. An der Gabelung der beiden Hauptstraßen blieb sie mitten in dem spärlichen Verkehr auf dem breiten Bürgersteig stehen und wandte sich beinahe herausfordernd nach mir um: ›Und so wissen Sie also . . .

Ich sagte ihr, daß ich den Brief nicht gesehen, aber davon gehört hätte. Sie wurde ein wenig ungeduldig. ›Ich meine, alles das über mich.‹

Ja. Ich wußte alles über sie. Der Kummer von Herrn und Frau Fyne, besonders von Frau Fyne, sei so groß gewesen, daß sie ihn so ziemlich mit jedermann geteilt hätten, auch mit jemand, der nicht ihrem Freundeskreis angehörte. Ich war gerade zur Hand gewesen – das war alles.

›Sie müssen wissen, daß ich nicht zu ihren Freunden gehöre. Ich bin nur ein Ferienbekannter.‹

›War sie nicht sehr empört?‹ forschte Flora de Barral und meinte natürlich Frau Fyne. Und ich gab zu, daß sie es in geringerem Maße war als ihr Mann und sogar als ich selbst. Frau Fyne war eine ungemein beherrschte Persönlichkeit und durch nichts von ihrer grundsätzlichen Einstellung abzubringen. Sie zeigte nicht einmal Schrecken, als Fyne und ich vorschlugen, im Steinbruch nachzusehen.

›Auf den Gedanken haben Sie sie gebracht‹, sagte das Mädchen.

Ich gab zu bedenken, daß der Gedanke schon in ihren Köpfen gewesen sei. In mir selbst allerdings etwas lebendiger, seitdem ich sie mit eigenen Augen dort oben gesehen hatte, wie sie die Vorsehung versuchte.

Sie sah mich mit größter Aufmerksamkeit an und murmelte:

›Ist das der Ausdruck, den Sie den anderen gegenüber gebraucht haben? Vorsehung . . .

›Nein. Ich sagte ihnen, Sie hätten gerade mit dem Entschluß gekämpft, und ich sei eben vorübergekommen. Ich sagte ihnen, daß ich Sie gerettet hätte. Mein Ruf habe Sie angehalten . . .‹ Sie schüttelte zur Verneinung langsam den Kopf . . . ›Nicht? Nun, halten Sie das, wie Sie wollen!‹

Dabei dachte ich mir: sie hat sich eine andere Auffassung zurechtgelegt. Sie will nun vergessen. Kein Wunder. Sie möchte sich selbst davon überzeugen, daß sie nie in ihrem Leben einen so bitterbösen Augenblick gekannt hat. ›Schließlich‹, gab ich laut zu, ›sind die Dinge nicht immer so, wie sie scheinen.‹

Das kleine Gesicht mit den tiefen blauen Augen blieb ganz still. Mit den Augen unter den schwarzen Bögen der feinen Brauen, die Zärtlichkeit so gut wie Zorn auszudrücken vermochten. Der Mund leuchtete sehr rot aus dem weißen Gesicht unter dem Schleier hervor, das kleine, spitze Kinn hatte in seiner Form etwas Angriffslustiges. Schlank, fast eckig in ihrem bescheidenen schwarzen Kleid, bot sie einen anziehenden und – ja – einen begehrenswerten Anblick.

›Und man hat Ihnen gleich geglaubt?‹

›Ja. Sie haben mir gleich geglaubt. Frau Fyne sagte uns beiden: Geht!‹

Zwischen den roten Lippen blitzte es weiß auf, so flüchtig, daß ich mir nicht klar werden konnte, ob die ebenmäßigen kleinen Zähne in einem Lächeln oder im Jähzorn entblößt worden waren. Das übrige Gesicht bewahrte seinen unschuldigen, gespannten, rätselhaften Ausdruck. Sie sprach schnell:

›Nein. Es war nicht Ihr Ruf. Ich war schon einige Zeit dort gewesen, bevor Sie mich gesehen hatten. Und ich war auch nicht dort, um die Vorsehung zu versuchen, wie Sie es nennen. Ich war hinausgegangen, um – um das zu tun, was Sie angenommen haben. Ja. Ich war über zwei Zäune gestiegen. Ich hatte nicht gedacht, irgend etwas der Vorsehung zu überlassen. Es gibt scheinbar Leute, für die die Vorsehung nichts tun kann. Es verletzt Sie wohl, mich so reden zu hören?‹

Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht verletzt. Was sie all die Zeit abgehalten hatte, fuhr sie fort, bis ich unten erschienen war, das sei weder Furcht noch sonst ein Zaudern gewesen. Man komme einmal so weit, sagte sie mit rührender, jugendlicher Einfalt, daß keinerlei persönliche Bedenken mehr ins Gewicht fallen. Und doch habe sie etwas abgehalten. Ich würde wohl nie erraten, was es gewesen sei. Sie gab selbst zu, daß es töricht klinge. Es war der Hund der Fynes.

Flora de Barral unterbrach sich, sah mich ganz eigen an und sprach weiter. Siehst du, sie hatte sich eingebildet, der Hund hätte sie unendlich liebgewonnen. So dachte sie also, er könnte ihr etwa nachstürzen oder -springen. Sie versuchte ihn fortzujagen. Sie redete ihn böse an. Das machte ihn nur noch lustiger. Er bellte und umsprang sie in seinem gewöhnlichen dummen Jubel. Er sauste zwischen den Fichten auf der Höhe davon, kam dann in vollem Lauf wieder zurück und sprang ihr an die Brust. Sie befahl ihm: ›Geh weg! Geh nach Hause!‹ Sie hob sogar vom Boden ein abgebrochenes Stück Ast auf und warf es nach ihm. Daraufhin kannte sein Entzücken keine Grenzen mehr. Er sprang noch höher, bellte noch lauter, schien sich nie in seinem Leben besser unterhalten zu haben. Sie war überzeugt, daß er im Augenblick, wo sie sich hinunterstürzte, ihr nachspringen würde, als ob es so zum Spiel gehörte. Sie weinte fast vor Wut. Und war auch gerührt. Und als er endlich in einiger Entfernung wie plötzlich festgewachsen stehenblieb, langsam mit dem Schwanzstummel wackelte und sie aus leuchtenden Augen aufmerksam ansah, da überkam sie eine andere Furcht. Sie stellte sich vor, daß sie dort unten liegen, der Hund aber am Rande des Abgrunds sitzen und mit hochgeworfenem Kopf stundenlang heulen würde. Der Gedanke war nicht zu ertragen. Gerade da hatte mein Ruf sie erreicht.

Alles das erzählte sie mir ganz einfach. Mein Ruf hatte ihre Entschlußkraft gestört, die Entschlußkraft zum Selbstmord. Jede unserer Handlungen, verbrecherisch oder selbst ganz verrückt, setzt ein gewisses seelisches Gleichgewicht voraus, ein Auswägen von Gedanken, Gefühlen und Willen, ähnlich wie man nur in einer bestimmten Stellung zu einem wirksamen Schlag in einem Spiel ausholen kann. Dies nun hatte ich zerstört. Sie war nicht mehr in rechter Form für die Tat. Es ärgerte sie nicht sonderlich. Am nächsten Tage war auch noch Zeit. Sie würde sich einfach fortzustehlen haben, ohne die Aufmerksamkeit des Hundes zu erregen. An diese Notwendigkeit dachte sie fast zärtlich. Sie kam den Pfad herunter und trug ihre Verzweiflung mit leichter Ruhe. Als sie sich aber von dem Hund verlassen gesehen, da hatte sie jäh den Wunsch gefühlt, umzudrehen, nochmals hinaufzurennen und Schluß zu machen. Nicht einmal das Tier kümmerte sich um sie – im Grunde genommen.

›Ich hatte wirklich gedacht, er hätte mich lieb. Warum hatte er sich nur so angestellt? Mir war, als könnte mir nichts im Leben mehr weh tun. O ja. Ich wäre wohl auch hinaufgegangen. Aber ich fühlte mich plötzlich so müde, so müde. Und dann waren auch Sie da. Ich wußte nicht, wie Sie sich verhalten würden. Sie hätten vielleicht versucht, mir nachzugehen, und ich fühlte mich nicht fähig, zu laufen – nicht bergauf – nicht damals.‹

Sie hatte ihr weißes Gesicht ein wenig erhoben, und die Worte klangen so merkwürdig aus ihrem Munde. Um diese Morgenstunde sind verhältnismäßig wenig Leute in jenem Stadtteil unterwegs. Die breite Flucht der East India Dock Road, endlos umsäumt von grauen Bürgersteigen längs der farblosen Ziegelmauern, verlor sich in der Ferne vor unseren Blicken, erhaben und niederdrückend zugleich in ihrer geräumigen Dürftigkeit, unendlichen Eintönigkeit an Farbe und Leben – unter dem harten, hohen Himmel, der vom Winde zu klarem Blau getrocknet wurde. Der schmutzige Fahrdamm dröhnte unter der Wucht der beladenen Karren und Lastwagen. Es hatte in der Nacht geregnet. Der Sonnenschein sogar wirkte armselig. Von Zeit zu Zeit trieben ein paar Papierfetzen, ein wenig Staub und Stroh an der flachen Landzunge des Bürgersteigs vor der Eckfront des Hotels an uns vorbei.

Flora de Barral blieb eine Weile stumm. Ich sagte:

›Und am nächsten Tage hatten Sie sich's besser überlegt.‹

Wieder schlug sie die Augen zu mir auf, mit dem eigenen Ausdruck wissender Unschuld; und wieder zeigten ihre blassen Wangen einen Anflug von Farbe, den Schatten eines Errötens.

›Am nächsten Tage‹, murmelte sie sehr deutlich, ›dachte ich gar nichts. Ich erinnerte mich nur. Das war genug. Ich erinnerte mich an etwas, was ich nie hätte vergessen dürfen. Niemals. Und Kapitän Anthony kam abends in der Villa an.‹

›O ja, Kapitän Anthony‹, meinte ich halblaut. Und sie wiederholte ebenso: ›Ja. Kapitän Anthony.‹ Der schwache Hauch warmen Lebens wich aus ihren Wangen. Ich dämpfte meine Stimme noch mehr und wagte, ohne sie anzusehen, die Frage: ›Er gefiel Ihnen?‹

Ihre langen, dunklen Wimpern senkten sich ein wenig, daß es wie berechnete Zurückhaltung wirkte. Wenigstens schien es mir so. Und doch hätte niemand sagen können, daß ich gegen das Mädchen voreingenommen war. Aber da hast du's wieder! Erkläre es dir, wie du willst, aber in dieser Welt sind die Freudlosen wie die Armen immer ein wenig verdächtig, als ob Ehrlichkeit und Feingefühl ein Vorrecht der wenigen Bevorzugten wären.

›Warum fragen Sie?‹ sagte sie nach einer Weile und schlug die Augen voll zu mir auf, mit einem Ausdruck von Reinheit, der aus dem gleichen Grunde (daß eben den Enterbten nicht zu trauen ist) zweideutig wirken konnte.

›Wenn Sie damit meinen, welches Recht ich habe . . .‹ Sie machte eine kleine Bewegung mit der Hand in dem abgetragenen braunen Handschuh, als wollte sie damit sagen, sie könnte niemandes Recht einer Ausgestoßenen wie ihr gegenüber in Frage ziehen.

Ich hätte vielleicht gerührt sein sollen; aber ich stellte hur den völligen Mangel an Demut fest . . . ›Durchaus kein Recht,‹ fuhr ich fort, ›nur Anteilnahme. Frau Fyne – es ist zu schwer, alles der Reihe nach zu erklären –, Frau Fyne hat mir von Ihnen – nun – ausführlich erzählt.‹

Zweifellos habe mir Frau Fyne die Wahrheit gesagt, meinte Flora in unerwartet schroffem Ton. Das Kleid, das sie eben trüge, habe ihr Frau Fyne geschenkt. Ich sah es mir natürlich an. Das Geschenk konnte nicht aus letzter Zeit stammen. Das Kleid, eng anliegend, schwarz, mit Einsätzen aus lila Seide, sah recht abgetragen aus, beinahe schon schäbig. Es unterstrich aber vorteilhaft die Zartheit ihrer Gestalt und paßte mit den Farben von Halbtrauer gut zu dem weißen Gesicht, in dem nur die nie lächelnden roten Lippen vom Blute reicher, lebensdurstiger Leidenschaft durchpulst schienen.

Der kleine Fyne blieb ganz unvernünftig lange dort oben. Wollte er überreden, predigte er oder machte er Vorwürfe? Hatte er plötzlich Geschmack an der ganzen Sache gefunden? Oder klopfte er vielleicht, von der ganzen Geschichte angeekelt, nur so auf den Busch und machte den Kapitän Anthony zappelig? Den von der Vorsehung gesandten Mann, der doch das Mädchen jeden Augenblick erwartete und also förmlich auf Nadeln sitzen mußte vor Ungeduld, seinen Schwager den Rücken kehren zu sehen. Wie kam es aber, daß er sich Fyne nicht längst schon vom Halse geschafft hatte? Ich meine nicht gerade durch einen Hinauswurf aus dem Fenster, aber doch in sonst einer entschlossenen Art?

Sicherlich hatte ihm Fyne gar keinen Eindruck gemacht. Dagegen war es doch kaum zu bezweifeln, daß er recht wohl eindrucksfähig war. Die Anwesenheit des Mädchens da vor mir auf dem Pflaster bewies es zur Genüge – rührend genug.

Mit einmal trafen sich unsere wandernden Blicke wieder, trafen sich und blieben in einer Verbindung, die vertrauter war als ein Handschlag, vielsagend und ausdrucksvoll. Es war auch etwas Komisches in der ganzen Sachlage, wie das arme Mädchen und ich selbst da zusammen auf dem breiten Bürgersteige vor einer Eckwirtschaft auf den Ausgang von Fynes lächerlicher Sendung warteten. Die Komik aber wird rasch peinlich, sobald sie menschlich ist. Das Mädchen war augenscheinlich in größter Angst; und ich fragte mich, ob die qualvolle Spannung, kurz gesagt, von Hunger oder von Liebe herrührte.

Die Antwort auf diese Frage wäre für Kapitän Anthony sicher wichtig gewesen. Ich für mein Teil komme in der Gegenwart eines jungen Mädchens immer wieder zu der Überzeugung, daß Hochspannungen der Gefühle, wie auch religiöse Verzückungen, unbesiegbar sind; und daß es niemals Vernunft ist, was Männer wie Frauen lenkt.

Doch welche Gefühle konnten bei ihr im Spiele sein? Ich erinnerte mich an den Ton, in dem sie kurz zuvor gesagt hatte: ›An jenem Abend kam Kapitän Anthony in der Villa an.‹ Und als ich bedachte, was die Ankunft des Kapitäns Anthony unter diesen Umständen bedeutet hatte, da mußte ich mich über die Ruhe wundern, mit der sie die Tatsache erwähnte. Er kam in der Villa an. Abends. Ich kannte den späten Zug. Er ging wahrscheinlich vom Bahnhof hinüber zu Fuß. Der Abend war wohl weit vorgeschritten. Ich sah es förmlich vor mir, wie eine dunkle Gestalt die kleine Zauntür des Gartens öffnete. Wo war sie? Sah sie ihn eintreten? War sie irgendwo in der Nähe und hörte ohne das leiseste Vorgefühl seine schicksalschweren Schritte auf dem Pflasterweg, der zum Hause führte? Im Schatten der Nacht, der für das Mädchen durch den nahen Schatten des Todes noch vertieft wurde, mußte ihr der Mann wohl zu fremd, zu fern, zu unbekannt erschienen sein, als daß er sich ihren Gedanken hätte als eine lebendige Kraft aufdrängen können – als eine Kraft, wie sie ein Mann im Schicksal einer Frau bedeuten kann.

Sie sah wieder nach der Hoteltür; ich folgte ihrem Blick, und dabei trafen sich unsere Augen wieder, diesmal mit voller Absicht. Eine noch scheue, ungewisse Vertrautheit begann zwischen uns beiden zu entstehen. Sie sagte einfach: ›Sie warten, bis Herr Fyne herauskommt, nicht wahr?‹

Ich bestätigte ihr, daß ich tatsächlich wartete, um Herrn Fyne herauskommen zu sehen. Nichts sonst. Ich hätte ihm nichts zu sagen.

›Ich habe ihm gestern alles gesagt, was ich zu sagen hatte‹, fügte ich bedeutsam hinzu. ›Ich habe es ihnen sogar beiden gesagt. Ich habe auch alles gehört, was sie zu sagen hatten.‹

›Über mich‹, murmelte sie.

›Ja. Die Unterhaltung drehte sich um Sie.‹

›Es sollte mich wundern, wenn sie Ihnen alles gesagt hätten.‹

Wenn sie sich wunderte, so konnte ich nichts anderes tun als mich auch wundern. Das sagte ich ihr aber nicht. Ich lächelte nur. Das Wesentliche war ja wohl, daß dem Kapitän Anthony alles gesagt werden sollte. Ich war so ziemlich sicher, daß die gute Schwester dafür gründlich sorgen würde. Blieb noch irgend etwas aufzudecken – irgendein Jammer, irgendeine Enttäuschung, deren Opfer das arme Mädel gewesen war? Es schien kaum wahrscheinlich. Es war nicht einmal leicht denkbar. Was mir den meisten Eindruck machte, war ihre – ihre – ich glaube, ich muß es Gelassenheit nennen. Es war nicht zu erraten, ob sie sich dessen, was sie getan hatte, bewußt war. Man mußte staunen. Sie schien weit weniger verschlossen als ahnungslos; und ich war mir nicht gewiß, ob ich sie dafür bewundern oder sie aus meinen Gedanken streichen sollte, als das leidende Opfer wütenden Mißgeschicks.

Rückblickend auf die erste Gelegenheit, bei der wir auf der Straße unter dem Steinbruch ins Gespräch gekommen waren, mußte ich mir eingestehen, daß sie in mehr als einem Punkte rätselhaft wirkte. Ich weiß nicht, warum ich mir Kapitän Anthony als einen Mann vorstellte, der schwerlich den ersten Schritt tun würde – weniger aus Gleichgültigkeit, als aus der merkwürdigen Schüchternheit vor Frauen, die sich oft genug in Verbindung mit Ritterlichkeit findet, mit tiefer Sehnsucht nach Zuneigung und größter Beharrlichkeit im Gefühl. Solche Männer sind leicht zu bewegen. Bei der geringsten Ermutigung gehen sie mit der Rücksichtslosigkeit Verhungernder vor. Das konnte die Plötzlichkeit der Geschehnisse erklären. Nein! Trotz all ihrer Unerfahrenheit konnte das Mädchen bei ihren Eroberungsplänen kaum auf allzu großen Widerstand gestoßen sein. Sie mußte wohl den ersten Schritt getan haben. Und doch stand sie wieder da vor mir, geduldig, fast unbewegt, fast mitleiderregend, und wartete vor der Türe, wie eine Bettlerin, die auf nichts als Mitleid ein Recht hat, auf ein versprochenes Almosen.

Fortwährend gingen Leute an uns vorüber, einzeln, zu zweien und dreien, die Bewohner jenes Stadtteils, wo das Leben schmucklos in aller Nüchternheit seinen Gang geht; sie trieben vorüber, schäbig gekleidet, mit bleichen Gesichtern, hager, hastig, müde oder auch ausdruckslos, in einem düsteren, dunklen Strom, nicht aus dem Leben, sondern aus dem Schattendasein so vieler zusammengesetzt, deren Freuden, Kämpfe, Gedanken, Sorgen und noch Hoffnungen elend waren, nutzlos und ohne Wert für die Welt. Und der Gedanke drückte schwer, wie wirklich all das doch für die Betroffenen selber war. Von all den Wesen aber, die vorübergingen, schien mir für den Augenblick keines so ergreifend in seiner Leidensgeduld, wie das Mädchen, das vor mir stand; keines auch schwerer zu verstehen. Das kam vielleicht davon, daß ich an Dinge dachte, die ich sie nicht zu fragen wagte.

Tatsächlich hatten wir einander nichts zu sagen; doch hatte uns beide, fremd wie wir einander tatsächlich waren, der eine heimlichste und endgültigste aller Gedanken in Beziehung gebracht, der Gedanke an den Tod. Er hatte eine Art Band zwischen uns geschaffen, machte unser Schweigen schwer und drückend. Ich hätte sie vielleicht auf der Stelle verlassen sollen; aber wie ich dir wohl schon früher gesagt habe, schien die Tatsache, daß ich sie durch meinen Ruf von dem Rande eines Abgrundes abgehalten hatte, mein Verantwortlichkeitsgefühl auch bei diesem neuen Schritt geweckt zu haben. Und so war also noch ein Unausgesprochenes zwischen uns, um unser Schweigen noch schwerer und drückender zu machen. Der Gedanke an die Ehe. Dieses Wort brauche ich nicht so sehr in seinem Sinn als kirchliche Feier (hierin schienen keine Befürchtungen nötig, da Kapitän Anthony ein anständiger Mensch war) oder mit Bezug auf die gesellschaftliche Einrichtung im allgemeinen, über die ich mir keine Meinung gebildet habe; sondern rein im Hinblick auf die menschliche Bindung. Die beiden ersten Seiten der Frage scheinen mir nicht sonderlich wichtig. Die Feier, denke ich mir, wird wohl entsprechend würdig sein; die gesellschaftliche Einrichtung wohl nützlich, sonst hätte sie sich kaum erhalten. Die menschliche Bindung aber, die so anerkannt wird, scheint mir geheimnisvoll in ihrem Ursprung, in ihrem Wesen und ihren Folgen. Leider Gottes kann man nicht ein junges Mädchen einfach beim Westenknopf nehmen und ausfragen, wie man es wohl bei einem jungen Mann täte. Ich glaube nicht einmal, daß eine Frau es fertigbrächte. Sie würde kein Vertrauen finden. Zwischen Frauen fehlt das Maß wenigstens gelegentlicher Offenheit, auf das Männer bei ihren Beziehungen gegenseitig rechnen. Ich glaube, daß jede Frau sich lieber einem Mann anvertraut. In diesem mißlichen Falle bestand die Schwierigkeit darin, den rechten Ton zu finden.

So standen wir also schweigend mitten im wirren Lärm der breiten Straße, die von Schwerfuhrwerken überfüllt war. Große, hochgeladene Packwagen schwankten vorüber, wie Berge. Es war, als läge der letzte Sinn der Welt im Kaufen und Verkaufen, als kämen alle die nicht in Betracht, die mit dem Warenumsatz nichts zu tun haben.

›Sie müssen müde sein‹, sagte ich. Man mußte etwas sagen, nur um sich vor dem betäubenden, leidenschaftslosen, zermürbenden Lärm zu bestätigen. Sie hob kurz den Blick. Nein, sie war nicht müde; nicht sehr. Sie war nicht den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Sie war mit dem Zuge bis Whitechapel gefahren und nur von dort herübergekommen.

Sie hatte eine trostlose Pilgerzeit hinter sich, doch ob aus Liebe oder aus Not, wer mochte das sagen? Und gerade das hätte ich doch so gerne gewußt. Nur konnte man danach nicht kerzengerade fragen, und mir wollte keine passende Umschreibung einfallen. Ich dachte auch daran, daß sie vielleicht selbst gar nicht darum wußte – ich meine überlegt. Dieses junge Weib hatte sich unbestreitbar mit dem Gedanken an den Tod vertraut gemacht, hatte sich einen klaren Begriff davon gebildet. Über den Sinn der anderen Schicksalsmöglichkeit aber – der Liebe hatte sie, dessen war ich gewiß, nie nachgedacht.

Ich empfand plötzlich die ganze Ungewöhnlichkeit des Falles. – Dort im Hotel der Mann, den ich nicht kannte, und hier vor mir auf der Straße das Mädchen. Er war aus seiner Gesellschaftsschicht herausgetreten; sie stand außerhalb aller Grenzen. Eine Seite des Herkommens, die die Leute, die dagegen predigen, meist außer acht lassen, ist die, daß das Herkommen es erleichtert, sowohl Freude wie Schmerz in guter Form zu ertragen. Die beiden aber standen außerhalb jeden Herkommens. Sie waren in gewisser Beziehung so ungehemmt wie der erste Mann und die erste Frau. Das Schlimme für mich war, daß ich mir sowohl von Flora de Barral wie auch von dem Bruder der Frau Fyne kein rechtes Bild machen konnte. Oder, wenn du willst, ich konnte mir alles von ihnen vorstellen – was tatsächlich auf dasselbe hinausläuft. Die Dunkelheit und das Chaos sind Geschwister von Anfang an. Ich hätte gerne dem Mädchen eine Frage gestellt, die meiner Einbildungskraft hätte als Richtschnur dienen können. Aber wie durfte ich mich so weit vorwagen? Ich kann mitunter grob sein, aber ich bin nicht von Natur aufdringlich. Ich hätte sie zum Beispiel gerne gefragt: ›Wissen Sie auch, was Sie aus sich selbst gemacht haben?‹ Irgend etwas dieser Art. Jedenfalls war es hohe Zeit, daß einer von uns beiden ein Wort sagte. Und es mußte eine Frage sein. Und die Frage, die ich schließlich stellte, war die: ›So will er Ihnen also das Schiff zeigen?‹

Sie schien froh, daß ich endlich gesprochen hatte, und froh über die Möglichkeit, selbst sprechen zu können.

›Ja. Er hat gesagt, er wollte es – heute vormittag. Sagten Sie, daß Sie Kapitän Anthony kennen?‹

›Nein, ich kenne ihn nicht. Hat er Ähnlichkeit mit seiner Schwester?‹

Sie schien bestürzt und murmelte ›Schwester?‹ in einer Verwirrung, die mich wundernahm, ›Oh, Frau Fyne!‹ rief sie dann, als hätte sie sich besonnen, und vermied meinen Blick, während ich sie neugierig ansah.

Wie auffallend war doch diese Zerstreutheit! Und die ganze Zeit über rauschte der Strom schäbiger Leute an uns vorbei, begleitet von dem dumpfen Scharren müder Schritte auf den Pflastersteinen. Sogar der Sonnenschein noch, der sich an die Oberfläche der Dinge heftete, an die trüben Farben und Formen, schien von minderer Güte, verbraucht, verstaubt und ohne Glanz. Ich mußte wegen des heftigen Straßenlärms meine Stimme erheben.

›Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie die Verwandtschaft vergessen haben?‹

Sie schrie ohne langes Besinnen: ›Ich dachte nicht daran.‹ Und dann, während ich mich noch wunderte, welche Bilder wohl ihr Hirn zur Zeit erfüllen mochten, fragte sie mich: ›Sie haben meinen Brief an Frau Fyne nicht gesehen, oder?‹

›Nein, ich habe ihn nicht gesehen‹, brüllte ich zurück. Eben damals war das Getöse betäubend, denn es fuhr gerade ein großer Packwagen an uns vorüber, der mit losen Eisenstangen beladen war. ›Man hat mich dieses Vertrauens nicht gewürdigt.‹ Und im Gedanken an Frau Fynes Andeutungen, daß das Mädchen aus dem Gleichgewicht sei, fügte ich hinzu: ›War es eine rückhaltlose Beichte, was Sie geschrieben haben?‹

Sie antwortete nicht gleich, und während des Wartens überlegte ich mir, daß nichts so sehr wie eine Beichte geeignet ist, einen verrückt erscheinen zu lassen; und daß von allen Beichten eine schriftliche die vernichtendste ist. Niemals beichten! Niemals, niemals! Ein unzeitgemäßer Scherz ist immer die Quelle bitterster Reue. Manchmal kann er einen Menschen ins Verderben stürzen. Nicht weil er ein Scherz, sondern weil er unzeitgemäß ist. Und eine Beichte, von welcher Art auch immer, ist immer unzeitgemäß. Das einzige, was sie zunächst noch erträglich machen kann, ist Neugier. Du lächelst? Es ist aber so, sonst würden die Leute beim zweiten Satz einfach fortgewiesen werden. Auf wieviel mitleidige Seelen kannst du wohl in der Welt rechnen? Auf eine unter zehn – eine unter hundert – unter tausend – unter zehntausend? Oh, wie man sich mit solchen Beichten aus der Hand gibt! Wie man sich verkauft! Du suchst Mitleid, und was du erreichst, ist bestenfalls das leise Gefühl einer Erleichterung, wenn überhaupt das. Denn eine Beichte, wie sie auch sei, rührt im Zuhörer die geheimsten Tiefen auf. Oft sogar Tiefen, deren er selber sich nur unklar bewußt ist. Und so frohlockt der Rechtschaffene heimlich, der Glückliche ist belustigt, der Starke abgestoßen, der Schwache entweder empört oder gereizt, je nachdem, wie aufrichtig er gegen sich selbst ist. Und alle zusammen brandmarken sie dich in ihren Herzen entweder als verrückt oder als schamlos . . .«

Selten hatte ich Marlow so heftig, so gallig, so bitter zynisch gesehen. Ich schnitt seine Darlegungen kurz ab mit der Frage, was ihm Flora de Barral geantwortet habe. »Gab das arme Mädchen zu, daß sie Frau Fyne mit ihrer Beichte überfallen habe – acht engbeschriebene Seiten voll?«

Marlow schüttelte den Kopf.

»Sie hat es mir nicht gesagt. Ich nahm ihr Schweigen als eine Art Antwort und bemerkte, es wäre wohl besser gewesen, wenn sie Frau Fyne in der Villa einfach die Tatsache mitgeteilt hätte. ›Warum haben Sie das nicht getan?‹ fragte ich geradezu.

Sie sagte: ›Ich bin nicht sehr mutig‹, sah zu mir auf und fügte betont hinzu: ›Und Sie wissen das. Und Sie wissen auch, warum‹.

Ich muß feststellen, daß sie seit unserem ersten Zusammentreffen im Steinbruch recht demütig geworden zu sein schien. Fast ein anderes Wesen als das trotzige, ärgerliche, verzweifelte Mädel mit zitternden Lippen und bösen Blicken.

›Ich fand es damals recht vernünftig von Ihnen, daß Sie von dem Abgrund weggingen‹, sagte ich.

Sie sah auf, mit einem Schimmer jenes früheren Ausdrucks.

›Das ist es nicht, was ich meine. Ich sehe schon, Sie wollen es wahr haben, daß Sie mir das Leben gerettet haben. Nichts der Art! Ich hatte nur Sorge um das elende kleine Vieh von einem Hund. Nein! – Der Gedanke, mit mir selbst Schluß zu machen, der war feige. Das meinte ich, als ich sagte, ich sei nicht sehr mutig.‹

›Oh,‹ meinte ich leichthin, ›der kleine Hund! Ein ganz netter kleiner Hund.‹ Doch sie senkte die Wimpern und fuhr fort:

›Ich war so elend, daß ich nur an mich selbst denken konnte. Das war niedrig. Es war auch grausam. Und überdies hatte ich noch nicht mit allem abgeschlossen – damals nicht.‹«

 

Marlow änderte den Ton.

»Ich weiß nicht viel von der Psychologie der Selbstvernichtung. Man hat nicht viel Gelegenheit, die Frage aus nächster Nähe zu studieren. Ich habe einmal einen Mann gekannt, der eines Abends in meine Wohnung kam und mir bei einer Zigarre düster gestand, daß er über den passendsten Weg nachgrüble, sich aus der Welt zu schaffen. Ich habe seinen Fall nicht studiert, doch sah ich ihn am nächsten Tage bei einer Kricketpartie, wobei er sich mit einigen Frauen gut unterhielt. Dieses Verhalten kann schwerlich als vernünftig gelten. – Betrachtet man den Selbstmord als Sünde, so erscheint er als ein Anlaß zur Reue vor dem Thron eines gnädigen Gottes. Ich denke mir aber, daß Fräulein de Barrals Religiosität sich unter der Obhut der vornehmen Erzieherin schwerlich über bloße Förmlichkeit erhoben haben dürfte. Reue im wahren Sinn, nagende Reue mit brennender Scham verbunden, ist mir nur verständlich, wenn einem Mitgeschöpf irgendein Unrecht geschehen ist. Warum aber sie, dieses Mädchen, das nur zu leben schien, um zu leiden – warum sie sich mit Reue quälen sollte, nur deswegen, weil sie einmal ein Leben wegzuwerfen versucht hatte, das doch nur ein Fluch schien –, das konnte ich nicht begreifen. Ich sah darin die Nachwirkung irgendwelcher sprichwörtlicher Gemeinplätze oder ererbter Gefühle – eines unklaren Wissens, daß der Selbstmord ein gesetzliches Verbrechen ist – oder der Worte von alten Moralisten und Predigern, die in der Luft stehenbleiben und alle die hergebrachten sittlichen Hemmungen aufbauen helfen. Jawohl, ich war überrascht von ihrer Reue. Wie sie aber nun plötzlich den Blick niederschlug, bis ihre dunklen Wimpern auf ihren weißen Wangen zu ruhen schienen, da sah sie geradezu, wie soll ich sagen – sittig aus. Es war so ansprechend, daß ich ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken konnte. Daß Flora de Barral in irgendeinem Augenblick die Macht haben sollte, ein Lächeln hervorzurufen, war tatsächlich das letzte, was ich geglaubt hätte. Nach kurzem Zögern fuhr sie fort:

›Eines Tages machte ich mich dahin auf den Weg, nach jenem Platz.‹

Sieh doch an, welche Wirkungen ein bloßes Mienenspiel haben kann. Wenn du dich erinnerst, worüber wir gesprochen hatten, so wirst du es kaum glauben können, daß ich mich selbst dabei überraschte, wie ich zu dem sittigen kleinen Mädchen niederlächelte. Ich muß auch sagen, daß ich mich ihr freundschaftlicher als je zuvor verbunden fühlte.

›Oh, taten Sie das? Wieder um hinunterzuspringen? Sie sind eine sehr entschlossene kleine Person! Nun, und was geschah dieses zweite Mal?‹

Ein fast unmerklicher Wechsel in ihrer Haltung, ein leichtes Neigen des Kopfes vielleicht – ein reines Nichts – ließ sie noch sittiger erscheinen.

›Ich hatte die Villa verlassen‹, begann sie etwas hastig. ›Ich ging die Straße entlang – Sie wissen ja, die Straße. Ich war fest entschlossen, diesmal nicht wiederzukehren.‹

Ich will nicht leugnen, daß diese Worte, die unter dem Hutrand hervorkamen (o gewiß, sie hatte den Kopf gesenkt), mir förmlich einen Stoß gaben; denn tatsächlich hatte ich ihre Aufrichtigkeit nie bezweifelt. Ihre Verzagtheit konnte nicht auf Täuschung berechnet sein.

›Ja,‹ flüsterte ich, ›Sie gingen die Straße entlang.‹

›Als . . .‹ Wieder zögerte sie, mit einem Ausdruck unschuldiger Scheu, weltenweit von jedem Pathos. Dann fuhr sie fort: ›. . . als plötzlich Kapitän Anthony aus einem Wiesengatter herauskam.‹

Ich verbarg eine sehr unziemliche Lachlust unter einem Husten und fühlte mich lebhaft beschämt. Sie hob kurz die Augen, in denen unschuldiges Leid stand, doch auch eine unausgesprochene Drohung, in der Tiefe der erweiterten Pupillen hinter dem dunklen Blau der Iris. Es war – wie soll ich dir sagen – wie eine nächtliche Erscheinung, wenn du schemenhafte Gestalten zu sehen meinst und nicht weißt, worauf du wirklich im nächsten Augenblick stoßen wirst. Dann senkte sie die Lider und nahm der Lage das Geheimnisvolle, bis auf die nachschwingende Erinnerung an diesen merkwürdigen Blick, der nächtlich gewirkt hatte im vollen Sonnenschein, eindrucksvoll noch in der rauhen Unrast der Straße.

›Und Kapitän Anthony schloß sich Ihnen also an?‹

›Er öffnete ein Wiesengatter und kam auf die Straße heraus. Er kam an meine Seite und ging neben mir weiter. Er hatte seine Pfeife in der Hand. Er sagte: ›Wollen Sie heute morgen weit gehen?‹

Diese Worte (ich beobachtete ihr weißes Gesicht, während sie sprach) jagten mir einen Schauer über den Leib. Dabei blieb sie sittig, fast geziert! Ich bemerkte:

›Sie hatten vorher schon miteinander gesprochen, natürlich!‹

›Nicht mehr als zwanzig Worte im ganzen seit seiner Ankunft‹, antwortete sie einfach. ›An jenem Tage hatte er mir guten Morgen gesagt, als wir uns zwei Stunden vorher beim Frühstück getroffen hatten, und ich hatte ihm guten Morgen gesagt. Dann hatte ich ihn nicht mehr gesehen bis zu dem Augenblick, wo er auf die Straße heraustrat.‹

Ich stellte innerlich fest, daß das natürlich kein Zufall gewesen war. Er hatte sie beobachtet. Ich war auch gewiß, daß er keinerlei Fragen an Frau Fyne gerichtet hatte.

›Ich wollte ihn nicht ansehen‹, sagte Flora de Barral. ›Ich hatte damit abgeschlossen, Leute anzusehen. Er sagte mir: ›Meine Schwester kümmert sich nicht viel um uns. Wir sollten einander lieber gegenseitig Gesellschaft leisten. Ich habe jedes einzelne Buch in der Villa durchgelesen.‹ Ich ging weiter. Er verließ mich nicht. Ich dachte, daß er das doch tun sollte. Aber er tat es nicht. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß ich nicht mit ihm sprechen wollte.‹

Sie brach ab. Der kümmerliche, kleine Sonnenschirm hing an ihrem Kleid aus den gefalteten Händen nieder. Ich war starr gespannt. Man bekommt nicht alle Tage eine solche Geschichte von Mädchenlippen zuhören. Der wüste Straßenlärm schwoll einen Augenblick lang an und übertönte die nächsten paar Worte, die sie sagte. Es war ärgerlich. Das erste Wort, das ich wieder verstand, war Qual.

›Es war Ihnen eine Qual, ihn da an Ihrer Seite zu haben?‹

›Ja, das war es‹, fuhr sie mit niedergeschlagenen Augen fort. In ihrer Haltung und in ihrem Ton lag eine liebenswürdige Komik; unterdessen malte ich mir selbst aus, wie ein armes, leichenblasses Mädchen in den Tod ging, während ein ahnungsloser Mann sich neben ihr hielt. Ahnungslos? Ich weiß es nicht. Vor allem war ich gewiß, daß es keine Zufallsbegegnung war. Irgend etwas war vorher geschehen. War er der Mann für einen coup de foudre? Der Mann, den die Liebe wie ein Blitz trifft? Ich glaube nicht. Die Art von Empfänglichkeit ist glücklicherweise selten. Eine Welt voll leicht entzündlicher Liebhaber, vom Schlage Romeos und Julias, würde bald in Verwilderung und Elend enden. Doch bleibt die Tatsache bestehen, daß in jedem Mann (nicht in jeder Frau) ein Liebhaber lebt, ein Liebhaber, der oft durch die unbedeutendsten Kleinigkeiten mit aller Macht zum Leben erweckt wird – sobald sie im schicksalhaften Augenblick sich einstellen. Der Anblick eines Gesichtes unter einem besonderen Winkel, eine kleine Gebärde, der Umriß einer Wange, vielleicht oft zuvor gesehen, gerade in jenem Augenblick aber voll ungeahnter Bedeutung. Das sind natürlich große Geheimnisse. Zauberdinge.

Ich weiß nicht, worin in diesem Falle der Zauber gelegen hat. Es mochte vielleicht ihre Blässe gewesen sein (die weder krankhaft noch unbeseelt wirkte), das weiße Gesicht mit Augen voll blauem Feuer und Lippen wie glühende Kohlen; in gewissem Licht, in gewissen Stellungen des Kopfes gemahnte es an endloses Leid. Vielleicht auch war es ihr welliges Haar gewesen. Oder nur ihr spitzes, ein wenig vorstehendes Kinn, das übelnehmerisch und nicht sonderlich fein aussah und die geheimnisvolle Abgeschlossenheit ihrer zarten Erscheinung fast zunichte machte. Doch so oder so, in einem gegebenen Augenblick muß Anthony plötzlich das Mädchen gesehen haben. Und dann war ihm dieses eine Etwas geschehen. Vielleicht nicht mehr, als daß ihm der Gedanke in den Kopf kam, dies sei ›eine mögliche Frau‹.

Nun, was immer ihn auch ermutigt haben mochte – jedenfalls hielt sich Kapitän Anthony an Flora de Barral in einer Weise, die man bei einem schüchternen Mann hätte heldenhaft nennen können, wenn sie nicht so einfältig gewesen wäre. Ob es nun berechnet, zielbewußt, aus Einfalt oder Eingebung geschah – er fuhr jedenfalls bedächtig zu reden fort, fast ohne anzuhalten. Dann plötzlich, als hätte er sich besonnen:

›Es ist komisch. Ich glaube nicht, daß Ihnen meine unerbetene Gesellschaft unangenehm ist. Aber warum sagen Sie gar nichts?‹

Ich fragte Fräulein de Barral, welche Antwort sie darauf gegeben habe.

›Ich antwortete gar nichts‹, sagte sie mit der gleichmütigen, leisen Stimme, die scheinbar ihre Stimme für alle zarten Geständnisse war. ›Ich ging weiter. Er schien sich nicht darum zu kümmern. Wir kamen an den Fuß des Steinbruchs, wo die Straße anzusteigen beginnt, an dem Platz vorbei, an dem Sie damals gesessen waren. Ich begann mich zu fragen, was ich tun sollte. Als wir die Höhe erreicht hatten, sagte Kapitän Anthony, daß er seit Jahren und Jahren keinen Spaziergang mehr mit einer Dame gemacht habe, fast seit seiner Knabenzeit nicht mehr. Wir waren nun an den Punkt gekommen, wo ich abzubiegen und über ein Feld wegzugehen gedacht hatte. Und natürlich hätte er mir nicht meinen Willen gelassen. Ich konnte ihm nicht entwischen.‹

›Warum haben Sie ihn nicht aufgefordert, Sie zu verlassen‹, forschte ich neugierig.

›Er hätte es kaum beachtet‹, fuhr sie gleichmütig fort. ›Und was hätte ich dann tun sollen? Ich hätte doch nicht mit ihm zu streiten anfangen können, oder? Ich hatte nicht einmal die Kraft, ärgerlich zu werden. Ich war plötzlich sehr müde. Ich stolperte nur so dahin. Kapitän Anthony erzählte mir, daß die Familie – Verwandte seiner Mutter – die er in Liverpool gekannt hatte, sich zerstreut und daß er seither keine anderen Freunde gefunden hatte. Alle waren ihrer Wege gegangen. Die Mädchen alle verheiratet. Nette Mädchen waren es gewesen, und sehr freundlich zu ihm, als er selbst noch fast ein Junge war. Er wiederholte: ›Sehr nette, lustige, hübsche Mädel!‹ Ich setzte mich auf den Rand längs einer Hecke und begann zu weinen.‹

›Sie müssen ihn nicht wenig damit überrascht haben‹, warf ich ein. Anthony, so schien es, war auf der Straße stehengeblieben und hatte auf sie heruntergesehen. Er machte keine Anstalten, sich ihr zu nähern, machte aber auch sonst keine Bewegung oder Gebärde. Flora de Barral sagte mir das alles. Sie konnte ihn durch ihre Tränen sehen, wie er auf der weißen Straße zu einem bloßen Schatten verschwamm und dann wieder deutlich wurde, doch immer völlig reglos und wie in tiefe Gedanken verloren vor einer merkwürdigen Erscheinung, die die gespannteste Aufmerksamkeit erforderte.

Flora erfuhr später, daß er nie zuvor eine Frau weinen gesehen hatte, wenigstens nicht so weinen. Das Geheimnisvolle daran machte ihm den größten Eindruck. Sie war sich wohl bewußt, daß sie beobachtet wurde, konnte aber doch nicht aufhören zu weinen. Tatsächlich war sie keiner Anstrengung mehr fähig. Plötzlich tat er zwei Schritte vor, beugte sich, faßte ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen, und zog sie empor; sie fand sich neben ihm stehen, bevor sie noch recht wußte, was er getan hatte. Einige Leute kamen des Weges, und Kapitän Anthony murmelte: ›Sie wollen sich doch nicht angaffen lassen? Wie ist es denn mit dem Gatter dort? Können wir über die Felder zurückgehen?‹

Sie befreite ihre Hand aus seinem Griff (er hatte es scheinbar unterlassen, sie freizugeben), trat von ihm weg und stieg über das Gatter. Dahinter lag ein weites Feld, von vielen weißen Schafen bevölkert. Ein kleiner Gehweg führte quer durch. Nachdem sie ihn mehr als zur Hälfte durchschritten hatte, wandte sie zum ersten Male den Kopf. Etwa fünf Schritte zurück folgte ihr Kapitän Anthony in augenscheinlicher Anteilnahme. Anteilnahme oder Spannung. Jedenfalls bemerkte sie einen Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie erschreckte. Nicht genug allerdings, um sie zum Rennen zu bringen. Und es hätte ja wohl auch etwas unsagbar Grausiges sein müssen, das ein Mädchen am Ende ihres Lebensmutes noch hätte so weit erschrecken können.

Als hätte ihn dieser Blick über die Schulter weg ermutigt, kam Kapitän Anthony ohne weiteres an ihre Seite, und nun, da er neben ihr war, empfand sie seine Nähe zuinnerst wie eine Berührung. Sie versuchte, dieses Gefühl nicht zu beachten. Doch war sie nun nicht mehr ärgerlich über ihn. Es war nicht der Mühe wert. Sie war dankbar, daß er vernünftig genug war, nicht nach dem Grund ihres Weinens zu fragen. Natürlich fragte er nicht, weil es ihm gleichgültig war. Keinem Menschen in der Welt bedeutete sie etwas, weder denen, die es glauben machen wollten, noch den anderen, die sich nicht einmal die Mühe nahmen. Sie zog die letzteren vor.

Kapitän Anthony öffnete für sie die Türe in ein anderes Feld. Während sie durchging, hielt er sich immer noch neben ihr, fast Ellenbogen an Ellenbogen. Seine Stimme brummte begütigend, dicht in ihrem Ohr. Der Aufenthalt in dem langweiligen Nest konnte einem die Stimmung wohl verderben. Seine Schwester kritzelte den ganzen Tag. Das war bestimmt nicht nett. Er nannte seine Nichten ungeschliffene, selbstsüchtige Affen, ohne Gefühl und Benehmen. Und dann sprach er von seinem Schiff, das für einen Monat auf Dock gelegt und zur Ausbesserung abgetakelt war. Das Schlimme sei gewesen, daß er bei der Ankunft in London seine gewohnten Zimmer nicht habe bekommen können, in denen es ihm die Leute so gemütlich zu machen pflegten, wie es sich ein alter Seebär wie er an Land nur erhoffen durfte.

In der Anstrengung, durch eifriges Reden die geheimnisvolle Kraft zu dämpfen oder aufzuhalten, die ihn schon zu dem zarten jungen Wesen von Fleisch und Blut hinzog, mit den blassen Wangen, den dunklen Augenlidern und den Augen, in denen heiße Tränen brannten, fuhr er fort, sich selbst als einen ausgemachten Feind des Lebens an Land zu erklären – des Lebens, das mit seiner leeren Förmlichkeit und dem zimperlichen Getue einem einfachen Menschen geradezu fürchterlich sein müsse. Er haßte das alles. War nicht dafür geschaffen. Ruhe, Frieden und Sicherheit gab es nur auf See.

Das ließ den Kapitän Anthony als einen Einsiedler erscheinen, der sich von der törichten Welt zurückgezogen hatte. Mir war es spaßhaft überraschend, nichts weiter. Die wunde junge Seele des Mädchens aber muß es ganz anders angesprochen haben. Während sie immer noch vor seiner Nähe zurückscheute, hatte sie doch schon begonnen, ihm gespannt zuzuhören. Seine tiefe, leise Stimme besänftigte sie. Und plötzlich fiel ihr ein, daß auch im Grab Friede und Ruhe war.

Sie hörte ihn sagen: ›Sehen Sie sich meine Schwester an. Sie ist durchaus keine schlechte Frau. Sie lädt mich hierher ein, weil es so in der Ordnung ist, nehme ich an. Aber sie weiß nichts mit mir anzufangen. Da haben Sie die Landratten. Ich verstehe ganz gut, daß man darüber weinen kann. Ich wäre schon längst fortgegangen, aber – die Wahrheit zu sagen – ich habe keine Freunde, zu denen ich gehen könnte.‹ Unvermittelt fügte er hinzu: ›Und Sie?‹

Sie machte eine leichte Gebärde der Verneinung. Er muß sie wohl beobachtet und sich einen Vers darauf gemacht haben. Nach einer Pause sagte er einfach: ›In den ersten Tagen meines Hierseins hielt ich Sie für die Erzieherin der Mädchen. Meine Schwester hat mir kein Wort über Sie gesagt.‹

Hier sprach Flora zum erstenmal: ›Frau Fyne ist meine beste Freundin.‹

›Meine auch‹, sagte er ganz ohne Spott oder Bitterkeit, fügte aber überzeugt hinzu: ›Daraus können Sie sehen, was das Leben an Land ist. Viel besser, man hält sich weg davon.‹

Als sie in die Nähe der Villa gekommen waren, hörte sie ihn wieder sagen, als wäre nicht ein langer, schweigsamer Marsch dazwischen gelegen: ›Aber keinesfalls werde ich sie etwas über Sie fragen.‹

Er blieb kurz stehen, und sie ging allein weiter. Seine letzten Worte hatten ihr Eindruck gemacht. Alles, was er gesagt hatte, schien unter dem belanglosen Gesprächston noch besondere Bedeutung zu haben. Sie fühlte seinen Blick auf ihrer Gestalt, noch als sie in die Türe der Villa trat.

Das ist es. Er hatte sich ihrem Bewußtsein aufgezwungen. Das Mädchen hatte sozusagen mit schlaffen Gliedern in der Brandung des Lebens gekämpft, ohne die Möglichkeit, frei ausgreifen zu können, und plötzlich war es ihr zum Bewußtsein gekommen, daß jemand neben ihr im Wasser war. Für sie ein überaus merkwürdiges Erlebnis, ob sie es sich nun klarmachte oder nicht. Sie trafen sich um ein Uhr beim Mittagessen wieder. Da sie trotz ihrer anscheinenden Zartheit ein gesundes Mädel war und schnelles Gehen, zugleich mit dem erlösenden Ausweinen (es gibt viele Arten des Weinens) Hunger erzeugt, so wird sie, denke ich mir, mit Appetit gegessen haben. Es war Kapitän Anthony, der keinen Appetit hatte. Seine Schwester machte darüber eine kurze, kühle Bemerkung, und die älteste seiner entzückenden Nichten sagte ihm spöttisch: ›Du hast heute vormittag zuviel Bewegung gemacht, Onkel Roderick!‹ Der milde Onkel Roderick wandte sich ihr zu mit einem ›Was weißt du davon, junge Dame?‹ so voll unterdrückter Wildheit, daß die ganze Tischrunde zusammenzuckte und für den Rest der Mahlzeit in Schweigen verharrte. Kapitän Anthony hatte keine Blicke für Flora de Barral. Ich glaube nicht, daß er das aus Vorsicht oder irgendeiner Berechnung getan hat. Ihr Bild wird wohl so stark in ihm gewesen sein, daß er sie gar nicht anzusehen wünschte, in Gegenwart anderer Leute, die seine Vorstellungskraft beeinträchtigen konnten.

Du mußt wissen, daß ich hier lose Bruchstücke von Mitteilungen zusammensetze. Am nächsten Tage sah ihn Flora an dem Wiesengatter lehnen. Als sie mir das sagte, da fragte ich sie natürlich nicht, wieso sie denn dorthin gekommen war. Wahrscheinlich hätte sie es mir auch gar nicht sagen können. Die Schwierigkeit in alledem besteht darin, sich ihren damaligen Gemütszustand vor Augen zu halten, der aus Kummer und Grauen gemengt war.

An diesem Wiesengatter also lehnte dieser Seemann, der solche Neigung zum Einsiedler hatte, ohne doch geradezu Menschenverächter zu sein. Als er die todblasse Flora hastig die Straße daherkommen sah, wie ein welkes Blatt im Wind, da steckte er seine Pfeife in die Tasche und rief ein merkwürdig frohes ›Guten Morgen, Fräulein Smith‹ herüber. Sie, mit dem einem Fuß im Leben, mit dem andern in einem bösen Traum, war zugleich gelähmt und zerfahren, ganz wehrlos plötzlichen Antrieben hingegeben. Sie zauderte, kam wie geistesabwesend auf das Gatter zu und sagte ihm dann gerade in die Augen: ›Ich bin nicht Fräulein Smith. Das ist nicht mein Name. Nennen Sie mich nicht so.‹

Sie zitterte vor Erregung. Seine Augen drückten gar nichts aus; er klinkte nur schweigend das Gatter auf, faßte ihren Arm und zog sie hinein. Dann schlug er das Türchen hinter ihr mit einem Fußtritt zu.

›Nicht Ihr Name? Das ist mir alles eins. Ihr Name ist das letzte an Ihnen, worauf ich Wert lege.‹ Er führte sie entschlossen von der Türe fort, obwohl sie sich leise wehrte. In seinen Augen stand eine Art Freude, die sie ängstigte. ›Sie sind keine verkleidete Prinzessin‹, sagte er mit einem unerwarteten Lachen, das ihr Blut erstarren machte. ›Und das ist alles, worauf ich Wert lege. Sie sollten sich klarmachen, daß ich weder blind noch blödsinnig bin. Und selbst für einen Blödsinnigen wäre es leicht zu sehen, daß die Welt mit Ihnen hart umgesprungen ist. Sie liegen an einer Leeküste und verbrennen vor Kummer.‹

Was ihr dabei am fürchterlichsten schien, das war der Glanz in seinen Augen und das gierige Lächeln, das auf seinen Lippen kam und ging, als freute er sich an ihrem Elend. Aber ihr Elend hatte ihn ja eben zu ihr geführt. Und er freute sich, während doch das reinste Mitleid sein ganzes Wesen durchflutete. Er sagte ihr, daß sie wohl wisse, wer er sei. Er sei Frau Fynes Bruder, und, nun, wenn seine Schwester die beste Freundin sei, die sie auf der Welt habe, dann, bei Gott, wäre es hohe Zeit, daß jemand anders käme, um sich ihrer ein wenig anzunehmen.

Flora hatte öfter als einmal versucht, sich freizumachen, aber er hatte seinen Griff um ihren Arm nur verstärkt und sie sogar ein wenig geschüttelt, während er unaufhörlich fortredete. Die Nähe seines Gesichtes schüchterte sie ein. Er schien ihr durch und durch sehen zu wollen. Es sei offenkundig, daß die Welt ihr übel mitgespielt habe. Und während er noch mit Entrüstung von den Merkmalen sprach, die diese bösen Erfahrungen hinterlassen hatten, schien eben dadurch seine unerklärliche Zuneigung zu ihr noch zu wachsen. Es war meiner Überzeugung nach sicher nicht nur Mitleid. Das Gefühl, das ihn beherrschte, war viel unmittelbarer, unerwarteter und tiefergehend. Es hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, daß, wenn er sie erst gewonnen hätte, keine Frau ihm so unbedingt gehören würde wie diese Frau.

›Was immer Ihre Nöte auch sein mögen,‹ sagte er, ›ich bin der Mann, um Ihnen davon zu helfen; heißt das, wenn Sie keine Angst haben. Sie haben mir gesagt, daß Sie keine Freunde haben. Ich habe auch keine. Kein Mensch hat mich lieb gehabt, fast solange ich denken kann. Vielleicht könnten Sie es tun. Ja, ich lebe auf See. Aber von wem hätten Sie Abschied zu nehmen? Von niemandem. Sie haben niemanden, der zu Ihnen gehört.‹

Hier machte sie sich plötzlich los und rannte davon. Er verfolgte sie nicht. Die hohen Hecken, die sich im Winde bogen, die weiten Felder, die Wolken, die am Himmel hintrieben, und noch der Himmel selbst, umkreisten sie in Grün und Weiß und Blau, als geriete die ganze Umwelt in einen stummen Wirbel und ihr Fuß müßte bei dem nächsten Schritt das leere Nichts finden. Sie kam richtig wieder zu dem Gatter, trat hinaus und entdeckte, sobald sie auf der Straße war, daß sie nicht den Mut hatte zurückzugehen. Den Rest des Tages verbrachte sie mit den Fynemädchen, die ihr zu verstehen gaben, daß sie eine langweilige, wenig ansprechende Gefährtin sei. Lange nach dem Tee, fast schon in der Dämmerung, tauchte Kapitän Anthony (der Sohn des Dichters) plötzlich in dem kleinen Vorgarten der Villa vor ihr auf. Sie waren im Augenblick allein. Der Wind hatte sich gelegt. In der ruhigen Abendluft waren die Stimmen der Frau Fyne und ihrer Töchter von der Straße her deutlich zu hören. Er fragte sie streng:

›Sie haben verstanden?‹

Sie sah ihn schweigend an.

›Daß ich Sie liebe‹, schloß er.

Sie schüttelte ganz leicht den Kopf.

›Sie glauben mir nicht?‹ fragte er mit leiser, wütender Stimme.

›Niemand würde mich lieben wollen‹, gab sie sehr ruhig zurück. ›Niemand könnte es.‹

Er war eine Weile sprachlos, über jedes Maß erstaunt, wie es ja wohl auch begreiflich war. Er traute seinen Ohren nicht. Er war empört.

›Wie? Was? Sie nicht lieben können? Was wissen Sie davon? Das ist meine Sache, nicht wahr? Sie wagen das einem Mann zu antworten, der Ihnen gerade gesagt hat . . . Sie müssen verrückt sein!‹

›Wirklich, beinahe‹, gab sie mit größter Offenheit zu, fast erleichtert davon, daß sie etwas sagen konnte, was, wie sie wußte, zutraf. Denn während der letzten Tage hatte sie sich mehr als einmal jenem Irrsinn nahe gefühlt, der nichts ist als eine übersteigerte Empfindungsfähigkeit.

Die hellen Stimmen der Frau Fyne und ihrer Töchter kamen näher, klangen mißtönend durch den Frieden der leidenschaftsschwangeren Erde. Er begann sie zu bestürmen.

›Unsinn! Niemand kann . . . Wirklich! Pah! . . . Man wird Ihnen zeigen müssen, daß es doch jemand kann! Ich kann es! Niemand . . .‹ Er zischte vor Verachtung. ›Weit eher können Sie nicht. Man hat Ihnen etwas angetan. Irgend etwas hat Ihnen den Lebensmut zerschlagen. Sie können keinen Mann sehen – das ist es! Wodurch sind Sie so geworden? Wo kommen Sie her? Man hat auf Ihnen herumgetreten. Die Schufte – wer immer sie auch sind, Männer oder Frauen, scheinen Ihnen sogar noch Ihren Namen gestohlen zu haben. Sie sagen, daß Sie nicht Fräulein Smith sind? Wer sind Sie denn dann?‹

Sie antwortete nicht. Er murmelte: ›Nicht, daß es mir wichtig wäre‹, und schwieg wieder, weil das törichte, selbstbewußte Geschwätz der Fynemädchen schon unmittelbar vor der Gartentüre zu hören war. Aber sie wollten noch nicht zu Bett. Sie gingen vorbei. Er wartete eine Zeit in reglosem Schweigen, stampfte dann mit dem Fuß und verlor sich völlig aus der Hand. Sie war ganz sicher, daß er sie bedrohte und mit Schimpfnamen belegte. Es war ihr nicht neu, ausgescholten zu werden, wie wir wissen, diesmal aber fühlte sie eine eigene Wildheit heraus, die ihr neu war. Sie begann zu zittern. Was sie besonders entsetzte, das war, daß sie sich nicht klar werden konnte, welcher Art die scheußlichen Drohungen und Schimpfworte eigentlich waren. Sie verstand kein Wort. Und doch empfand sie nicht die wilde Angst wie früher wohl bei ähnlichen Auftritten. Sie nahm alle Kräfte zusammen, obwohl ihr die Knie unter dem Leib einknicken wollten, und bat mit vergehender Stimme, er solle sie ins Haus gehen lassen. ›Halten Sie mich nicht auf. Es hat keinen Sinn. Es hat keinen Sinn‹, wiederholte sie schwach und fühlte dabei einen unbeschreiblichen Widerstand in sich wachsen, der aber doch von allem Ärger gegen den wütenden Mann frei war.

Er wurde plötzlich verständlich und hörbar, ohne doch seine Stimme zu heben.

›Keinen Sinn! Keinen Sinn! Sie wagen es dazustehen und mir das zu sagen – Sie blasses Irrlicht! Sie Nebelhauch! Sie kleines Gespenst aller Kümmernis! Habe ich Sie nicht angesehen? Sie sind nur noch Auge. Was macht Ihre Wangen immer so weiß, als ob Sie etwas gesehen hätten . . . Reden Sie nicht! Ich liebe Sie . . . Keinen Sinn! Und Sie glauben wirklich, daß ich jetzt für ein Jahr oder länger in See gehen kann, wieder irgendwohin auf die andere Seite der Welt, und Sie zurücklassen? Was denn! Sie würden vergehen . . . Das bißchen, was von Ihnen noch da ist! Irgendein rauher Wind wird Sie ganz wegblasen. Sie stehen ja nicht fest auf der Erde. Nun also, vertrauen Sie sich mir an – der See, die tief ist wie Ihre Augen.‹

Sie sagte: ›Unmöglich!‹ Er blieb eine Weile ruhig und fragte dann in ganz verändertem Ton, im Ton einer düsteren Neugier:

›Sie können mich also nicht leiden? Ist es das?‹

›Nein‹, sagte sie etwas fester. ›Ich denke überhaupt nicht an Sie.‹

Die unbeseelten Stimmen der Mädchen klangen über die dunklen Felder herüber, dünn, klar, wie sie einander zuriefen. Er murmelte: ›Sie könnten es wenigstens versuchen. Wenn Sie nicht an jemanden andern denken?‹

›Ja. Ich denke an jemand anders. An jemanden, der niemand als mich hat, der an ihn denkt.‹

Seine dunkle Gestalt trat von ihr fort und lehnte sich plötzlich an den Holzpfeiler des Hauseingangs. Und während sie noch, von der merkwürdig unsicheren Bewegung überrascht, stille stehenblieb, hörte sie wieder seine Stimme, in einem Ton, der ihr ganz fremd war:

›Gehen Sie also hinein. Gehen Sie mir aus den Augen – ich dachte, Sie hätten gesagt, daß niemand Sie lieben könne.‹

Sie wollte an ihm vorbei, doch da drängte sich ihr das Bewußtsein, wie bekümmert er war, so stark auf, daß sie sich nicht enthalten konnte, zu sagen:

›Niemand hat mich je geliebt, nicht in dieser Art – wenn es das ist, was Sie meinen. Niemand könnte es tun.‹

Er löste sich plötzlich von dem Holzpfeiler los, und sie wich nicht zurück. Doch Frau Fyne und die Mädchen waren schon in der Gartentüre.

Er verstand nur, daß noch nicht alles vorbei war. Zeit war nicht zu verlieren; Frau Fyne und die Mädchen kamen eben durch die Türe. Er flüsterte: ›Warten Sie!‹ so befehlend (er war der Sohn von Carleon Anthony, dem Haustyrannen), daß es sie einen Augenblick lang aufhielt, lange genug, um ihn sagen zu hören, sie könne ihn unmöglich so verlassen, damit er etwa die ganze Nacht über ihren Unsinn zu grübeln hätte. Sie sollte später nochmals in den Garten herunterkommen, sobald sie es tun könnte, ohne gehört zu werden. Er würde da auf sie warten bis – bis zum Morgen. Sie dächte doch wohl nicht, daß er schlafen gehen könnte, oder? Und sie sollte nur ja kommen, sonst, – er brach mit einer unausgesprochenen Drohung ab.

Sie verschwand in dem unbeleuchteten Hause, gerade als Frau Fyne in die Diele trat. Während sie erregt mit angehaltenem Atem im Wohnzimmer stand, hörte sie draußen ihre beste Freundin sagen: ›Du hättest mit uns kommen sollen, Roderick!‹ und dann: ›Hast du Fräulein Smith irgendwo gesehen?‹

Flora erschauerte, denn sie dachte nicht anders, als daß Anthony nun in endlose Verwünschungen gegen Fräulein Smith ausbrechen und so eine demütigende Auseinandersetzung herbeiführen würde. Sie war immer noch der Meinung, daß er voll unbegreiflicher Wut sei. Zu ihrer größten Überraschung aber klang Anthonys Stimme ganz wie gewöhnlich, nur vielleicht mit einem grimmigen Unterton: ›Fräulein Smith? Nein, ich habe nichts von Fräulein Smith gesehen.‹

Frau Fyne schien befriedigt – und auch ziemlich gleichgültig.

Flora lief wie erlöst in ihr Zimmer hinauf, schloß sich ein und ließ sich in einen Stuhl fallen. Sie war an Vorwürfe, Scheltworte, schlechte Behandlung jeder Art gewöhnt – fast auch an Schläge. Früher schon hatte sie unmittelbare Wutausbrüche von unbarmherziger Wucht über sich ergehen lassen müssen – hauptsächlich deshalb, so schien es wenigstens, weil sie die Tochter des Finanzmannes de Barral und also auch zu drückender Armut verurteilt war, durch die Niedertracht einiger Verräter, die sich in der Stunde der Not gegen ihren Vater gestellt hatten. Sie dachte mit größter Zärtlichkeit an die aufrechte Gestalt in dem langen schwarzen Gehrock und an die weiche Stimme, die dem kleinen Mädchen doch so wenig zu sagen gehabt hatte. Sie glaubte noch, seine Hand um die ihre zu fühlen. Bei seinen kurzen Besuchen in Brighton pflegte er immer Hand in Hand mit ihr zu gehen. Die Leute starrten nach ihnen, die Musik spielte, und das Meer war da, das blaue, frohe Meer. Sie waren so ruhig und glücklich zusammen gewesen . . . es war alles vorbei!

Eine unendliche Angst vor der Gegenwart preßte ihr das Herz zusammen, und sie wäre fast in lautes Weinen ausgebrochen. Die Angst vor dem Kommenden, die langsam im Laufe häßlicher Jahre ihren Lebensmut zermürbt hatte, schoß plötzlich zu greller Flamme auf, zu dem namenlosen Entsetzen, das sie schon zweimal an den Steilrand des Steinbruchs geführt hatte. Sie sprang auf und sagte sich: ›Warum nicht jetzt? Sofort? Ja! Ich will es jetzt tun! Im Dunklen!‹ Das Grauen noch, das darin lag, schien sie in ihrem Entschlusse zu bestärken.

Sie ging ganz leise die Treppen hinunter, und erst, als sie die Türe öffnen wollte und sie unverschlossen fand, erinnerte sie sich an Kapitän Anthonys Drohung, die ganze Nacht im Garten warten zu wollen. Sie zauderte. Sie wußte nicht recht, was der Mann im Sinne hatte. Er war heftig. Aber sie war über den Punkt hinaus, wo noch irgend etwas ins Gewicht fallen kann. Was würde er denken, wenn sie nun zu ihm hinunterkam – denn natürlich mußte er es so ansehen. Aber auch das fiel nicht mehr ins Gewicht. Er konnte sie nicht mehr verachten, als sie sich selbst verachtete. Sie muß wohl etwas irre gewesen sein, denn der Gedanke schoß ihr durch den Kopf, daß er vielleicht aus Enttäuschung in unberechenbare Wut geraten, sie etwa gar erdrosseln würde, und daß das dann ein Weg wie ein anderer sein würde, um mit allem Schluß zu machen.

›Der Gedanke kam Ihnen?‹ rief ich verblüfft aus.

Sie schlug die Augen nieder und sagte mit größter Anstrengung (ihre Lippen, ihre roten Lippen bewegten sich gerade genug, um eben noch hörbare Worte hervorzubringen), daß, ja, daß der Gedanke ihr gekommen sei. Dabei faßt einen der Schauder darüber an, auf wie geheimnisvolle Weise Mädchen es zu Erfahrungen bringen. Denn dieser Gedanke, wild genug, wie ich zugebe, konnte doch eigentlich nur aus den Tiefen einer Erfahrung kommen, die sie ja nicht gehabt hatte, und ging jedenfalls weit über alle Begriffe hinaus, die sich ein junges Mädchen möglicherweise von den stärksten und absonderlichsten menschlichen Gefühlsausbrüchen gemacht haben konnte.

›Er war natürlich da‹, sagte ich.

Ja, er war da. Sie sah ihn auf dem Pflasterwege, sobald sie aus der Diele hinausgetreten war. Er war ganz still. Es schien, als hätte er da stundenlang gestanden, das Gesicht dem Hause zugekehrt.

Zwischen Leidenschaft und Zärtlichkeit hin und her gerissen, muß er wohl auf jedes noch so außergewöhnliche Verhalten gefaßt gewesen sein. Da ich das tiefe Schweigen kannte, das sich jede Nacht über den abgelegenen Landstrich senkte, so konnte ich mir leicht vorstellen, daß die beiden sich als die einzigen Menschen auf der weiten Welt fühlten. Eine Reihe von sechs oder sieben hohen Ulmen, der Villa gerade gegenüber, ließ die Nacht in dem kleinen Garten noch dunkler erscheinen. Gerade noch, daß die beiden einander unterscheiden konnten.

›Und fürchteten Sie sich sehr?‹ fragte ich.

Sie ließ mich ein wenig warten, bevor sie die Augen aufschlug und leise antwortete: ›Er war die Zartheit selbst.‹

Ich bemerkte drei ekelhafte, versoffene Halunken, schmierig und zerlumpt, die sich knapp neben uns in einer Reihe an die Stirnwand der Wirtschaft gedrückt hatten und nun gespannt auf Flora de Barrals Rücken starrten.

›Gehen wir ein wenig weiter‹, schlug ich vor.

Sie machte sofort kehrt und wir gingen ein paar Schritte; nicht so weit, als daß wir nicht den Hoteleingang noch hätten im Auge behalten können. Ich konnte gerade noch hinsehen. Schließlich war ich ja nicht allzulange mit dem Mädchen beisammen gewesen. Wenn du dir die Mühe genommen hast, die Worte, die ich tatsächlich mit ihr wechselte, von den Bemerkungen auseinanderzuhalten, die ich dazu gemacht habe, dann wirst du sehen, daß wir nicht allzuviel miteinander geredet hatten, alles das eingeschlossen, was sie mir von ihrer Geschichte gesagt hatte. Nein, wirklich nicht viel. Und nun schien es, als ob nichts mehr nachkommen sollte. Nein! Es war wunderbar genug, daß sie mir so viel anvertraut hatte, und es wäre wohl von keinem anderen Mädchen unter der Sonne zu erwarten gewesen. Ich schämte mich ein bißchen. Der erste Anlaß zu unserer Vertrautheit war zu unheimlich. Mir schien es so, als hätte ich, indem ich ihr zuhörte, die Tatsache ausgenutzt, daß ich ihre arme, ratlos erschreckte Seele einmal hüllenlos gesehen hatte. Aber ich war auch neugierig; oder, um mir selbst ohne falsche Bescheidenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – ich war besorgt; ängstlich besorgt, ein wenig mehr zu erfahren.

Trotzdem kam ich mir wie ein Erpresser vor, als ich mit einer beinahe leichtfertigen Bemerkung auf mein Vorhaben losging.

›Und da haben Sie also den Gang, den Sie vorhatten, aufgegeben?‹

›Ja, ich habe ihn aufgegeben‹, sagte sie langsam, bevor sie die Augen wieder zu mir aufschlug. Als sie es aber tat, war die Wirkung völlig unerwartet. Mir war, als hätte ich ein Stück blauen Himmels, einen Streifen offenen Wassers gesehen. Und einen Augenblick lang verstand ich die Sehnsucht jenes Mannes, dem die See und der Himmel seines einsamen Lebens plötzlich unvollkommen erschienen waren ohne diesen Blick, der von ihnen beiden seine Bläue zu haben schien. Er war nicht umsonst der Sohn eines Dichters. Ich sah ihr in die tiefen Augen, während das Mädchen zu sprechen fortfuhr und dabei mit einmal sehr ernst wurde. Die Frau ist wirklich veränderlich.

›Ich möchte Ihnen aber begreiflich machen, Herr . . .‹ – sie mußte sich tatsächlich anstrengen, um sich an meinen Namen zu erinnern . . . ›Herr Marlow, daß ich Frau Fyne geschrieben habe, ich sei nicht – ich hätte nichts getan, um Kapitän Anthony zu dem Benehmen zu veranlassen, das er mir gegenüber gezeigt hat. Ich habe es nicht. Wirklich nicht. Es ist nicht mein Werk. Es ist nicht mein Fehler – wenn sie es so nennen will. Sie mit ihren Ansichten müßte es doch verstehen, daß ich es nicht gekonnt hätte, nie gekonnt hätte . . . Ich weiß, daß sie mich jetzt haßt. Ich glaube, sie hat mich nie liebgehabt, so wenig wie irgend jemand sonst. Mir wurde einmal gesagt, niemand könnte mich liebhaben; und ich glaube, daß das wahr ist. Jedenfalls kann ich es nicht vergessen.‹

Das furchtbare Erlebnis mit ihrer Erzieherin hatte in ihrem armen kleinen Herzen einen brennenden Zweifel zurückgelassen, ein unerschütterliches Mißtrauen gegen sich selbst und andere. Ich sagte:

›Erinnern Sie sich, Fräulein de Barral, daß Sie, um es recht zu machen, einem Mann ganz und gar vertrauen müssen – oder überhaupt nicht?‹

Sie schlug plötzlich die Augen nieder. Ich glaubte einen schwachen Seufzer zu hören. Ich versuchte nochmals, einen leichten Ton anzuschlagen, und doch schien es unmöglich, den Boden zu verlassen, auf dem ich mich mit ihr getroffen hatte.

›Frau Fyne ist töricht. Sie ist eine ausgezeichnete Frau, aber man kann doch tatsächlich nicht von Ihnen erwarten, daß Sie Ihr Lebensglück hinwerfen, nur damit Frau Fyne Sie in gutem Andenken behält? Das ginge denn doch zu weit!‹

›Ich dachte nicht an mein Leben, während Kapitän Anthony mit mir sprach‹, brachte Flora de Barral mit Anstrengung hervor.

Ich sagte ihr, daß sie damit unrecht getan hätte. Sie hätte nicht nur an ihr Leben denken sollen, sondern auch an das des Mannes, der mit ihr sprach. Sie ließ mich ausreden und schüttelte dann ungeduldig den Kopf.

›Ich meine – an den Tod.‹

›Nun,‹ sagte ich, ›als Kapitän Anthony dort vor der Türe vor Ihnen stand, da stand er tatsächlich zwischen Ihnen und dem Tod. Das habe ich aus Ihrem eigenen Munde. Sie können es nicht leugnen.‹

›Wenn Sie es so wollen, daß er mir das Leben gerettet hat, so mag es so sein. Aber es war nicht für mich, o nein – es war nicht für mich, daß ich – Es war nicht Angst! Da!‹ Sie schloß heftig. ›Wenn Sie es denn schon wissen müssen.‹

Sie ließ den Kopf hängen und schwenkte den Sonnenschirm nachlässig auf und ab. Ich dachte ein wenig nach.

›Verstehen Sie Französisch, Fräulein de Barral?‹ fragte ich.

Sie bejahte mit einer Kopfbewegung, ohne jedoch Überraschung zu zeigen oder mit dem Schlenkern des Sonnenschirms aufzuhören.

›Nun also. Ich bin, so oder so, der Meinung, daß Kapitän Anthony das ist, was die Franzosen einen galant homme nennen. Es wäre mir lieb, zu wissen, daß er so behandelt wird, wie er es verdient.‹

Die Linie ihrer Lippen (ich konnte sie unter dem Hutrand sehen) spannte sich plötzlich zu einer entschlossenen Geraden. Der Sonnenschirm hörte zu pendeln auf.

›Ich habe ihm gegeben, was er gewollt hat – das heißt mich selbst‹, sagte sie ohne Beben und mit überraschender Würde.

Unter dem Eindruck des geraden, festen Ausspruchs zögerte ich eine Weile mit der Antwort. Dann entschloß ich mich, den Punkt aufzuklären.

›Und Sie haben erreicht, was Sie wollten? Ist es das?‹

Die Tochter des großen Finanzmannes de Barral antwortete nicht gleich auf diese Frage, die den Dingen auf den Grund ging. Dann hob sie den Kopf, sah scheinbar ziellos über die lärmende, belebte Straße weg, und sagte tiefernst:

›Er war sehr großmütig!‹

Es war mir lieb, das zu hören. Nicht, daß ich an Roderick Anthonys Hingabe gezweifelt hätte. Aber es war mir lieb, zu hören, daß das Mädchen sich für das Gefühl der Dankbarkeit empfänglich zeigte, das in diesem Falle bezeichnend war. Angesichts des Begehrens eines Mannes ist ein Mädchen entschuldbar, wenn sie sich für unschätzbar hält. Ich meine ein Mädchen unseres Kulturkreises, das sich eine dithyrambische Ausdrucksweise für die Liebe zurechtgelegt hat. Ein verliebter Mann wird jedes Herkommen anerkennen, das den Gegenstand seiner Leidenschaft und damit mittelbar seine Leidenschaft erhöhen kann. Ich konnte nicht recht ermessen, inwieweit der Kapitän der Ferndale Proben einer solchen verliebten Übertreibung gegeben hatte. Aber es war mir lieb, zu hören, daß sie es anerkannte. Es ist ein Glück, daß Frauen durch Kleinigkeiten zu erfreuen sind, und es ist durchaus nicht töricht, daß sie sich darüber freuen. In Kleinigkeiten nämlich kann sich die tiefste Treue, die, die sie am meisten brauchen, die Treue des flüchtigen Augenblicks, am besten äußern. Sie blieb in Gedanken und ließ ihre tiefen, stillen Augen weiter auf dem Verkehrsstrom ruhen. Plötzlich sagte sie:

›Und ich wollte Sie fragen . . . Ich war wirklich froh, als ich Sie gerade hier traf. Wer hätte Sie hier erwartet, an diesem Ort, vor diesem Hotel! Ich sicher nie . . . Es war mir sehr viel wert, sehen Sie! Sie sind der einzige, der weiß . . . der gewiß weiß . . .

›Was weiß?‹ fragte ich, da ich nicht sofort begriff, wo sie hinaus wollte. Dann fiel es mir ein. ›Warum können Sie das nicht ruhen lassen?‹ meinte ich vorwurfsvoll, recht ärgerlich über die in gewissem Sinne beneidenswerte Stellung, die sie mir damit anwies. ›Es ist wahr, daß ich der einzige Augenzeuge war,‹ fügte ich hinzu, ›aber wie es so geht – nach Ihrem geheimnisvollen Verschwinden habe ich den Fynes die Geschichte unseres ersten Zusammentreffens erzählt.‹

Ihre Augen, die die meinen suchten, zeigten den Ausdruck träumerischer, unergründlicher Reinheit, wenn ich so sagen darf. Und wenn du nicht verstehst, was ich meine, so kann ich dir nur sagen, daß ich den gleichen Ausdruck ein- oder zweimal an der See beobachtet habe, kurz vor Sonnenaufgang an einem ruhigen, frischen Tage. Sie sagte, als dächte sie laut, daß die Fynes wohl kaum darüber reden würden. Sie könne sich wenigstens keinen Anlaß vorstellen, wobei . . . Warum sollten sie auch?

Da ihr Ton fragend geklungen hatte, so stimmte ich bei. ›Sicherlich. Es gibt durchaus keinen Grund . . .‹ Dabei dachte ich selbst, daß sie wohl wirklich allen Anlaß hatten, darüber zu schweigen. Sie hatten andere Gesprächsstoffe. Dann fiel mir der kleine Fyne ein, der so unbegreiflich lange dort oben blieb, lange genug, um alles heraussprudeln zu können, was er je in seinem Leben gewußt hatte. Und ich überlegte, daß er wohl von der Annahme ausgegangen war, Kapitän Anthony habe von ihm über Flora de Barral nichts mehr zu erfahren. Das war wirklich auch meine Meinung gewesen. Nun sah ich meinen Fehler ein. Noch die aufrichtigste Frau wird einem Mann keine unnötigen Geständnisse machen. Und das ist ganz in Ordnung.

›Nein, nein‹, sagte ich tröstend. ›Es ist sehr unwahrscheinlich. Haben Sie große Sorge deswegen?‹

›Nun, sehen Sie, als ich damals herunterkam‹, sagte sie, wieder in dem merkwürdig zimperlichen Ton, ›als ich damals herunterkam, in den Garten, da mißverstand mich Kapitän Anthony . . .

›Natürlich mußte er das tun. Die Männer sind so eitel‹, warf ich ein.

Ich sah klar genug, daß er natürlich angenommen haben mußte, sie sei seinetwegen heruntergekommen. Was sonst hätte er denken sollen? Und dann war er ›die Zartheit selbst‹ gewesen. Ein neues Erlebnis für das arme, zarte und doch so widerstandsfähige Geschöpf. Zartheit in der Leidenschaft! Was sonst hätte dem erschreckten, durstigen Gemüt des armen Mädchens noch verführerischer scheinen können? Hätte er sich heftig gezeigt, so hätte sie ihm vielleicht gesagt, daß sie des Todes und nicht der Liebe wegen heruntergekommen war. Wie ich sie so jung, zerbrechlich, und doch so beseelt in ihrer Ruhe vor mir sah, fiel es mir ein, daß sie selbst sich vielleicht nicht im klaren gewesen war, welches Vorhaben sie in den Garten geführt hatte.

Sie lächelte schwach, fast linkisch, über meinen spaßhaften Einwurf, als wäre sie des Lächelns völlig ungewohnt. Dann sagte sie mit einer Entschiedenheit, die beinahe gemacht wirkte:

›Ich wollte nicht, daß er es wissen sollte.‹

Ich stimmte von Herzen zu. Ganz recht. Viel besser so. Mochte er doch bei seinem Mißverständnis bleiben, das für ihn so viel schmeichelhafter war!

Das sagte ich in einem etwas schauspielerischen Ton; aber sie war wohl viel zu einfach, um meine Absicht zu verstehen. Sie fuhr mit niedergeschlagenen Blicken fort:

›Oh, meinen Sie das! Als ich Sie sah, da wußte ich nicht, weshalb Sie hier waren. Ich war froh, als Sie mich ansprachen, denn ich wollte Sie eben das bitten. Ich wollte Sie bitten, daß Sie, wenn Sie mit Kapitän Anthony zusammenkommen sollten – zufällig – irgendwo – Sie sind ja auch Seemann, nicht wahr? – daß Sie dann niemals – niemals erwähnen sollten, daß – daß Sie mich dort oben gesehen haben.‹

›Mein liebes Fräulein‹, rief ich, entsetzt über die Zumutung, ›warum sollte ich das? Wie kommen Sie darauf, daß es mir im Traum einfallen könnte . . .

Sie hatte unter meinen heftigen Worten den Kopf gehoben. Sie verstand mich nicht. Die Welt hatte sie so schlecht behandelt, daß ihr kein Begriff vom einfachsten Schicklichkeitsgefühl mehr geblieben war. Es war nicht ihr Fehler. Wirklich, ich weiß nicht, warum sie irgendwelchen Versprechungen hätte trauen sollen. Und doch hielt ich es für besser, ihr das Versprechen zu geben, und versicherte ihr also, daß sie sich auf mein unbedingtes Schweigen verlassen könne.

›Es ist wenig wahrscheinlich, daß ich Kapitän Anthony je zu Gesicht bekomme‹, fügte ich zur weiteren Beruhigung hinzu.

Sie nahm meine Versicherung schweigend, ohne die kleinste Bewegung hin. Ihr Ernst wirkte sonderbar berechnet, wohl wegen des spitzen Kinns. Während wir einander noch ansahen, erklärte sie:

›Es ist ja keine Täuschung dabei. Wenn ich heute so hier stehe, so glauben Sie doch, bitte, daß ich es nicht der Angst zu danken habe. Gewiß nicht!‹

›Ich verstehe sehr gut‹, sagte ich. Aber in ihren festen Blick kam etwas wie Zweifel. ›Wirklich!‹ bekräftigte ich. ›Ich verstehe vollkommen, daß es nicht der Tod war, den Sie fürchteten.‹

Sie schlug langsam die Augen nieder, und ich fuhr fort:

›Ob vielleicht das Leben – nun – das ist eine andere Frage. Und ich weiß nicht, ob man Sie wirklich sehr tadeln dürfte – obwohl es ja ein verzweifelter Schritt war. Nun frage ich mich, ob nicht das Grauen darin mehr noch als der bittere Kampf . . .‹ Sie unterbrach mich zitternd, mit dem heftigen Ausruf: ›Aber ich tadle mich selbst! Ich schäme mich!‹ Dabei ließ sie den Kopf sinken und sah einen Augenblick wie das Bild der Reue und Scham aus.

›Nun, Sie werden ja alle diese Schrecken hinter sich lassen,‹ sagte ich, ›und Sie haben sicher auch keine Angst vor der See. Sie sind ja die Enkelin eines Seemanns, soviel ich weiß.‹

Sie seufzte tief. Sie erinnerte sich an ihren Großvater nur schwach. Er war ein glattrasierter Mann mit rotem Gesicht und langem, schneeweißem Haar. Er pflegte sie sich aufs Knie zu setzen, sein Gesicht hart zu dem ihren zu beugen und in zärtlichem Flüsterton mit ihr zu reden. Wenn er nur jetzt lebte . . .!

Sie schwieg eine Weile.

›Haben Sie keine Eile, das Schiff zu sehen?‹ fragte ich.

Sie senkte den Kopf noch tiefer, so daß ich nichts mehr von ihrem Gesicht sehen konnte.

›Ich weiß nicht‹, murmelte sie.

Ich hatte schon längst den Verdacht, daß sie sich über ihre eigenen Gefühle nicht im klaren war. Dies ganze Werk reinen Zufalls war so unerwartet und plötzlich gekommen. Und sie hatte nichts, auf das sie sich hätte stützen können, keine Erfahrungen, außer solchen, die geeignet waren, ihren Glauben an jedes menschliche Wesen zu erschüttern. Sie war entsetzlich, erbarmungswürdig einsam. Fast um meine eigene Bedrückung abzuschütteln, sagte ich heiter:

›Nun, ich kenne jemanden, der schon recht ungeduldig darauf warten wird, Sie zu sehen!‹

›Ich bin zu früh dran‹, sagte sie einfach und richtete sich auf. ›Ich hatte nichts zu tun – so bin ich ausgegangen.‹

Ich sah plötzlich ein armseliges kleines Zimmer am anderen Stadtende vor mir. Ihre Unrast hatte sie darin nicht gelitten. Der bloße Gedanke daran bedrückte sie. Flora de Barral sah ihren Zufallsvertrauten offenherzig an.

›Und ich bin hierhergekommen‹, fuhr sie fort. ›Ich hatte gestern die Zeit selbst bestimmt, aber es hätte Kapitän Anthony nichts ausgemacht. Er sagte mir, er würde bis zu meinem Kommen einige Geschäftspapiere durchsehen.‹

Mich belustigte der Gedanke, daß der Sohn des Dichters, der Erlöser der verwunschensten aller Jungfrauen dieser Zeit, der Mann der Heftigkeit, Zartheit und Großmut, bis über die Ohren in Schiffsrechnungen steckte. ›Sicher hätte es ihm nichts ausgemacht‹, sagte ich lächelnd. Aber der Blick des Mädchens war finster. In dem schmalen, weißen Gesicht stand ein tiefer Schmerz.

›Ich kann es immer noch nicht glauben‹, flüsterte sie furchtsam.

›Und doch ist es ganz wirklich. Keine Angst!‹ sagte ich ermutigend, mußte aber meinen Ton sofort ändern. ›Sie sollten lieber ein paar Schritte dort hinuntergehen‹, wies ich sie unvermittelt an.

 

Ich hatte Fyne mit langen Schritten aus der Hoteltür herauskommen sehen. Das kluge Mädchen hielt sich nicht damit auf, Fragen zu stellen, sondern ging ruhig von mir weg die eine Straße hinunter, während ich in der anderen vorwärtsstürzte, um Fyne aufzuhalten. Ich wollte ihn verhindern, bis an die Ecke zu kommen. Er schien zu tief in Gedanken verloren, als daß er noch Blick für seine Umgebung behalten hätte. Ich stellte mich ihm in den Weg, und er rannte mich beinahe um.

›Hallo!‹ sagte ich.

Er schien außerordentlich überrascht. ›Sie hier? Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie auf mich gewartet haben?‹

Ich erklärte ihm obenhin, daß ich in der Nachbarschaft durch unerwartete Besorgungen aufgehalten worden wäre und ihn daher zufällig herauskommen gesehen hätte.

Er starrte mich mit feierlicher Zerstreutheit an und dachte offenbar an etwas ganz anderes. Ich regte an, daß er die nächste Tram ins Stadtinnere nehmen sollte. Er blieb unaufmerksam, und ich sah, daß er hochgradig aufgeregt war. Da Fräulein de Barral (sie war schon außer Sicht) sich unmöglich dem Hoteleingang nähern konnte, solange wir da standen, wo wir waren, schlug ich vor, wir sollten die Tram auf der anderen Straßenseite erwarten. Er folgte mehr dem leichten Druck auf seinen Arm als meinen Worten und rief, während wir die breite Straße mitten in dem lebhaften Wagenverkehr kreuzten, in seinen tiefsten Tönen aus: ›Ich weiß wirklich nicht, wer von den beiden verrückter ist als der andere.‹

›Wirklich!‹ sagte ich und riß ihn dabei hart unter den riesigen Köpfen eines schweren Zweigespanns weg. Mit völlig triebhafter Gewandtheit wich er aus und sprang auf den Randstein hinauf. Sein Verstand hatte mit den Bewegungen nichts zu tun. Noch im Sprung, während er düster durch die Luft segelte, fuhr er fort, seinen gekränkten Gefühlen Luft zu machen.

›Sie würden es nie glauben! Die beiden sind verrückt!‹

Ich nahm mit Bedacht eine solche Stellung ein, daß er, um mir ins Gesicht zu sehen, dem Hoteleingang jenseits der Straße den Rücken zukehren mußte. Ich glaube, er war ganz froh, daß er mich da hatte, um mit mir reden zu können. Doch fühlte ich auch ein gewisses Mißverständnis aus der ersten der Feststellungen heraus, die er mir an den Kopf warf, daß nämlich Kapitän Anthony froh gewesen sei, ihn zu sehen. Es war wohl tatsächlich schwer, zu glauben, daß der ›Seemannsbruder seiner Frau‹, sobald Fyne nur die Türe geöffnet hatte, wirklich ausgerufen haben sollte: ›Oh, du bist es! Gerade der Mann, den ich zu sehen gewünscht hatte!‹

›Ich fand ihn am Tisch sitzen‹, fuhr Fyne mit Nachdruck in seiner starken, tiefen Bruststimme fort. ›Er schrieb sein Testament.‹

Das war unerwartet. Ich bewahrte aber eine unbefangene Haltung, da mir sehr wohl bewußt ist, daß unsere Handlungen an sich weder verrückt noch gesund sind. Ich sah keinen Grund zur Aufregung darin. Und Fyne war merklich aufgeregt. Ich begann es besser zu verstehen, als ich hörte, daß der Kapitän der Ferndale den kleinen Fyne zum Zeugen gewünscht hatte. Er gedachte alles seiner Frau zu hinterlassen. Und natürlich mußte dem kleinen Fyne das Begehren hinlänglich verrückt erschienen sein, er solle gewissermaßen ein Vorgehen gutheißen, das zu verhindern er von seiner Frau ausgeschickt war.

›Mich! Mich, von allen Leuten in der Welt!‹ wiederholte er stimmgewaltig. Aber ich konnte sehen, daß er auch erschreckt war. Ein solcher Mangel an Feingefühl!

›Er wußte, daß ich von seiner Schwester kam. Man bringt einen Mann nicht in eine so fürchterliche Lage‹, beklagte sich Fyne. ›Das legte mir viel schärfere Worte gegen die ganze dumme Geschichte in den Mund, als ich sie sonst wohl übers Herz gebracht hätte.‹

Ich wies ihn nachdrücklich darauf hin, daß er und seine Frau das einzige Band zwischen Kapitän Anthony und dem Festlande darstellten, und hielt dabei die Augen auf den Hoteleingang gerichtet. Wen sonst hätte er als Zeugen bitten sollen?

›Ich setzte ihm auseinander, daß er dabei sei, dieses Band zu zerreißen‹, erklärte Fyne feierlich. ›Ein für allemal. Und warum – warum?‹

Er stierte mich an. Ich hätte ihm vielleicht wegen des Warum einige Winke geben können, sagte aber nichts. Er brach wieder los.

›Meine Frau versichert mir, daß das Mädel nicht daran denke, ihn zu lieben; das schließt sie aus dem Brief, den das Mädel ihr geschrieben hat. Es ist eine Stelle darin, wo sie einwandfrei zugibt, daß sie bei der Annahme dieser Werbung ganz rücksichtslos gewesen sei, dabei aber auch die Hoffnung ausspricht, daß meine Frau sie deswegen nicht tadeln würde – weil es in Selbstverteidigung geschehen sei. Meine Frau hat ihre eigenen Anschauungen. Dies aber ist ein beleidigendes Verkennen ihrer Absicht. Beleidigend!‹

Der gute kleine Mann hielt inne und fügte dann hinzu:

›Das habe ich meinem Schwager nicht gesagt – ich meine, die Ansicht meiner Frau.‹

›Nein‹, sagte ich. ›Wozu hätte es auch gut sein sollen?‹

›Es ist wirklich wie eine Behexung‹, stimmte der kleine Fyne bei, in einem Ton, als hätte er eine furchtbare Entdeckung gemacht. ›Nie in meinem Leben habe ich etwas so Hoffnungsloses und Unerklärliches gesehen. Ich – ich war sehr erschreckt und bekümmert‹, fügte er hinzu. Ich sah ihn neugierig an und fragte mich dabei, ob wohl der ausgezeichnete Staatsbeamte und bekannte Gehsportler in dem Zimmer des Eastendhotels dort oben wirklich den Hauch eines schicksalhaften, großen Liebeszaubers vorüberwehen gefühlt hatte. Er sah einen Augenblick aus, als hätte er ein Gespenst gesehen, ein Ding aus der anderen Welt. Doch der Ausdruck verlor sich augenblicklich, und als er mir nun zunickte, schien er mir lediglich über etwas sehr Irdisches verzweifelt – was immer es auch sein mochte. ›Es ist eine böse Geschichte. Mein Schwager weiß nichts von Frauen‹, rief er im Brustton tiefster, erfahrenster Weisheit.

Wieviel er sich einbildete, selbst von Frauen zu verstehen, kann ich nicht sagen. Ich wußte nichts von den Möglichkeiten, die er dazu gehabt hatte. Das ist aber ein Gegenstand, der sich, wenn man ihn mit unziemlicher Feierlichkeit anfaßt, dem Zugriff völlig entzieht. Zweifellos wußte Fyne etwas von einer Frau, die Kapitän Anthonys Schwester war. Doch das war zugestandenermaßen ein sehr feierliches Studium gewesen. Ich lächelte ihm freundlich zu, und als wäre er dadurch ermutigt oder herausgefordert worden, ergänzte er seine Gedanken mit einiger Heftigkeit:

›Und das Mädel versteht überhaupt nichts . . . Es ist blanke Verrücktheit.‹

›Ich weiß nicht,‹ sagte ich, ›ob der Umstand, daß sie ja auf See ganz miteinander allein sein werden, die Gefahr irgendwie verringern wird. Aber es ist gewiß, daß sie in diesem einsamen tête-à-tête Gelegenheit haben werden, alles über einander zu lernen.‹

›Aber zum Henker‹, rief er in hohlem Ton, dem doch auch der bittere Spott nicht fehlte – nie zuvor hatte ich so übertrieben häßliche, fast grauenhafte Laute gehört –: ›Sie vergessen Herrn Smith!‹

›Was für einen Herrn Smith?‹ fragte ich harmlos zurück.

Fyne schnitt eine außerordentlich affenartige Grimasse. Ich glaube, es geschah ohne alle Absicht, aber du weißt ja, daß ein ernstes, faltiges, glattrasiertes Gesicht bei ungewöhnlicher Verzerrung ganz affenartig wirken kann. Es war ein erstaunlicher Anblick, der mir nicht nur die Sprache nahm, sondern auch mein Weiterdenken völlig hinderte. Ich muß geradezu verblödet ausgesehen haben.

›Mein Schwager gefiel sich darin, mich aufzuziehen, weil wir ihm das Mädchen als Fräulein Smith vorgestellt hatten‹, sagte Fyne mit jähem Unwillen. ›Er sagte, wenn er gleich von Anfang an ihren wahren Namen gewußt hätte, so hätte ihn das vielleicht zurückhalten können. So aber habe er die Entdeckung zu spät gemacht. Das und noch mehr Unsinn der Art bat er mich, Zoe zu bestellen.‹

Fyne kam mir vor wie ein Mann, der der grimmigen Laune eines unnatürlich gut aufgelegten Menschen entronnen ist. Es mußte ihm wohl sehr widerwärtig gewesen sein; und ich konnte feststellen, daß seine Würde aus dem Vorfall einigermaßen beschädigt hervorgegangen war. Sie wies Löcher auf, durch die ich einen neuen, unbekannten Fyne sehen konnte.

›Sie würden es nicht glauben,‹ sagte er, ›aber sie sieht in ihrem Vater einfach nur ein Opfer. Ich weiß nicht,‹ fuhr es ihm plötzlich durch einen ungeheuren Riß in seiner Würde heraus, ›ob sie ihn ganz und gar für einen Heiligen hält, aber jedenfalls bildet sie sich ein, daß er ein Märtyrer ist.‹

Es ist einer der Vorteile der großartigen Erfindung, des Gefängnisses, daß man Leute, die hineingesetzt sind, vergessen kann, als wären sie tot. Man braucht sich nicht um sie zu sorgen. Nichts kann ihnen geschehen, was man etwa verhindern könnte. Sie können auch nichts tun, was für irgend jemanden von Belang sein könnte. Sie kommen zwar wieder heraus, doch das scheint kaum von Vorteil für sie oder sonst jemand. Ich hatte den Finanzmann de Barral vollständig vergessen. Das Mädchen war für mich eine Waise, doch nun erkannte ich plötzlich die volle Bedeutung von Fynes anfänglicher Bemerkung ›bis zu einem gewissen Grade‹. Es wäre gegen alle Welt unendlich gütiger gewesen, wenn das Gesetz diesen dummen de Barral erschossen, enthauptet, aufgehängt oder sonstwie vernichtet hätte, da er ja doch eine Gefahr für diese moralische Welt darstellte, deren leichtgläubige Bewohner unfähig schienen, auf sich selbst aufzupassen. Ich hielt aber Fyne entgegen, daß es, wenn die Ansicht des Mädchens vielleicht auch überspannt sein mochte, trotzdem nicht anging, sie deswegen für verrückt zu erklären.

›Sie denkt also an ihren Vater, ja? Ich glaube, sie würde uns gesünder erscheinen, wenn sie nur an sich selbst denken wollte.‹

›Ich bin ganz sicher,‹ sagte Fyne ernsthaft, ›daß sie hergegangen ist und Anthony verzweifelte Augen gemacht hat . . .

›Oh, gehen Sie doch,‹ unterbrach ich, ›Sie haben sie keine Augen machen sehen! Sie kennen nicht einmal die Farbe ihrer Augen!‹

›Ganz recht! Es tut nichts zur Sache. Doch es wäre schwerlich so weit gekommen, wenn sie es nicht getan hätte . . . Aber es ist ja alles eins. Ich sage Ihnen, sie hat ihn nur angelockt oder angenommen, wenn Sie wollen, weil sie an Ihren Vater gedacht hat. Sie macht sich gar nichts aus Anthony, glaube ich. Sie macht sich überhaupt aus niemandem etwas. Hat es nie getan. Fragen Sie Zoe. Ich für meinen Teil tadle sie nicht‹, fügte Fyne hinzu und eröffnete mir dabei durch die Fetzen und Lumpen seiner beschädigten Würde neue Ausblicke auf ungeahnte Dinge. ›Nein! Bei Gott! Ich tadle sie nicht – das arme Ding.‹

Ich stimmte ihm schweigend zu. Ich glaube, Gefühle müssen bis zu einem gewissen Grade erlernt werden. Wenn von Geburt an in jedem von uns ein Funke von Liebe ist, so muß er wohl angefacht werden, während wir jung sind. Der ihre nun, wenn sie ihn je gehabt hatte, war mit der ätzendsten Säure erstickt worden, die sich nur denken läßt. Dennoch überraschte es mich, daß auch Fyne dies dunkel empfand.

›Sie liebt niemanden außer dem alten Reklamebetrüger‹, fuhr er immer noch heftig, doch etwas überlegter fort, ›und Anthony weiß das.‹

›Weiß er es?‹ fragte ich zweifelnd.

›Sie scheint mir sehr wohl imstande, es ihm selbst gesagt zu haben‹, versicherte Fyne mit verblüffender Einsicht. ›Doch ob so oder so – ich habe es ihm gesagt.‹

›Taten Sie das? In Frau Fynes Auftrag, natürlich!‹

Fyne zwinkerte nur eulenhaft zu diesem Beweis meiner Einsicht.

›Und wie nahm Kapitän Anthony diese wichtige Mitteilung auf?‹ fragte ich weiter.

›Sehr ungehörig‹, sagte Fyne, der wirklich in einem Zustand schien, wo es ihm gleichgültig war, was er heraussprudelte. ›Er ist nicht er selbst. Er bat mich, seiner Schwester zu sagen, daß er sich eines Urteils über ihr Benehmen enthalte. Sehr ungehörig und widerspruchsvoll. Er sagte . . . Ich hatte das Gekampel satt. Ich sagte ihm, daß ich ihm seine Aufregung zugute hielte.‹

›Sie müssen wissen, Fyne,‹ warf ich ein, ›ein Mann im Gefängnis scheint mir eine so unglaubliche, grausame, böse Sache, daß ich an sein Dasein kaum glauben kann, bestimmt nicht in Beziehung zum Dasein anderer Menschen.‹

›Aber zu allen Teufeln,‹ schrie Fyne, ›er ist ja nicht lebenslänglich eingesperrt. Sie werden ihn demnächst herauslassen! Er kommt heraus! Das ist ja die Hauptsorge! Wozu er überhaupt herauskommt, möchte ich wissen? Das scheint ja noch viel schlimmer als seine Einsperrung es damals war. Das ist seit Wochen der ganze Schmerz. Sehen Sie es jetzt ein?‹

Ich sah es. Allerhand sah ich! Unmittelbar vor mir sah ich die Aufregung des kleinen Fyne, einen bloßen Anlaß zur Verwunderung. Weiter weg, wie in einem Nebel, jenseits des Tageslichtes und des Straßenlärms, sah ich die Gestalt eines Mannes, steif wie ein Ladestock, der mit kleinen Schritten dahinging, ein kleines zartes Mädchen neben sich. Und der Nebel war wie der Dunst elender Kneipen, armseliger Schmutzwinkel, eines Lebens voll Hunger und Entwürdigung. Es war wie eine Erlösung, daß ich nur ihren hoffnungslosen Rücken sehen konnte. Er war ein schauerliches Gespenst. Und doch schien es nur eine milde Redensart, ihn ein Gespenst zu nennen, und ein Versuch, das eigene Grauen vor solchen Dingen zu verbergen. Gefängnisse sind wundervolle Einrichtungen. Zu – auf. Sehr sauber. Zu – auf . . . Und heraus kommt eine Art Leichnam, um nun diese Welt zu durchwandern, in der er keine möglichen Beziehungen mehr hat, und dabei ein Stück des Dunstkreises seines heimlichen Schlupfwinkels mit sich zu schleppen. Wunderbare Einrichtung! Sie arbeitet ganz selbsttätig, und wenn man sie ansieht, so wird einem übel vor lauter Vollendung; was ja für einen bloßen Mechanismus kein kleiner Triumph ist. Übel und schreckhaft. Der Schreck hatte das arme Mädel fast in den Tod gejagt. Stelle dir doch vor, was es heißt, so ein Ding bei der Hand nehmen zu müssen! Jetzt begriff ich auch die Reue, die in ihren Worten mitgeklungen hatte.

›Bei Gott!‹ sagte ich, ›Sie wollen ihn herauslassen! Daran hätte ich nie gedacht!‹

Fyne war voller Geringschätzung, sei es gegen mich, oder gegen die Welt im allgemeinen.

›Sie haben doch wohl nicht angenommen, daß er sein Leben lang im Gefängnis bleiben würde!‹

In diesem Augenblick bekam ich Flora de Barral an der Gabelung der beiden Straßen zu Gesicht. Gleich darauf verbargen mir einige rasch aufeinanderfolgende Wagen die schwarze, zarte Gestalt mit dem kleinen Farbfleck auf dem Hut. Sie ging ganz langsam, und es konnte Vorsicht oder Widerstreben sein. Während ich Fyne zuhörte, spähte ich scharf über seine Schulter weg, um sie wieder zu entdecken. Er hatte sich richtig in Hitze geredet, und die Fetzen seiner Würde flogen ihm bei jedem zweiten Satz vom Leibe.

Das war es eben. Er und sein Weib waren sich dessen völlig bewußt gewesen. Natürlich hatte das Mädchen nie mit Frau Fyne von dem Vater gesprochen. Ich nehme an, die Überzeugung von seiner Unschuld war dem im Wege gestanden. Doch mußte Flora wohl Tag und Nacht an ihn gedacht haben. Was sollte sie mit ihm tun? Wohin sich wenden? Wie Leib und Seele zusammenhalten? Er hatte sich niemals Freunde gemacht. Die einzigen Verwandten waren die ekelhaften Ostendvettern. Wir wissen ja, von welchem Schlage die waren. Nichts als Elend, wohin sie auch in dieser ungerechten, vorurteilsvollen Welt die Augen wandte. Und sie fühlte, daß es über ihre Kräfte gehen müßte, ihn einfach hilflos anzusehen.

Ich will nicht sagen, daß ich gerade diese Gedanken dachte. Es war nicht nötig. Das ganze Wissen stand schon in meinem Kopf, während ich scharf über die breite Straße hinüberspähte, so scharf, daß ich den kleinen Fyne gar nicht hörte, bis er endlich in Entrüstung seine tiefe Stimme erhob.

›Ich tadle das Mädchen nicht‹, sagte er. ›Er ist blind in sie verliebt. Das kann jeder sehen. Wie sie ihn so einfangen konnte, ist mir nicht verständlich. Sie hat ihm ihr Jawort nur dem alten Gauner von Vater zuliebe gegeben. Das ist sonnenklar, wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt. Man braucht nicht einmal darüber nachzudenken. Wir haben es ja von ihrer eigenen Hand. In dem Brief an meine Frau sagt sie, daß sie rücksichtslos gehandelt hat. So hat sie es also selbst zugegeben, denn was sonst könnte sie wohl gemeint haben, möchte ich wissen? Und so wollen sie also heiraten, bevor der alte Trottel herauskommt . . . Er wird schön überrascht sein‹, bemerkte Fyne plötzlich, in eigenartig boshaftem Ton. ›Er wird an der Gefängnistür von einer Frau Anthony, von einer Frau Kapitän Anthony erwartet werden. Sehr erfreulich für Zoe! Und soviel ich weiß, will auch mein Schwager pflichtgemäß erscheinen. Ein kleines Familienereignis! Eine reine Freude, daran zu denken! Entzückend! Eine nette Familienszene! Wir drei gegen die Welt – und lauter solche Sachen. Und wofür? Für ein Mädel, das sich keinen Deut um ihn schert!‹

Der Dämon der Bitterkeit war in den kleinen Fyne gefahren. Es verblüffte mich nicht minder, als hätte er seine Hautfarbe von Weiß in Schwarz geändert. Es war genau so wunderbar. Und er blieb auch dabei.

›Glücklicherweise bietet der – der Beruf eines Seemanns einige Vorteile. Solange sie der Welt auf hoher See Trotz bieten, irgendwo, achtzehntausend Meilen weit weg von hier, kümmere ich mich nicht mehr so sehr darum. Ich möchte nur wissen, was der interessante alte Knabe sagen wird. Es steht ihm noch eine zweite Überraschung bevor. Sie gedenken ihn nämlich gleich mit sich auf dem Schiff fortzuführen. Eine Rettung! Denken Sie sich doch Roderick Anthony, der ja doch schließlich der Sohn eines Gentleman ist . . .

Das erschreckte mich ein wenig. Ich hatte gedacht, er würde ›der Sohn des Dichters‹ sagen, wie gewöhnlich. Doch sein Geist war jetzt nicht auf solche Eitelkeiten gerichtet. Der unausgesprochene Nachsatz muß wohl gelautet haben: ›Und der Onkel meiner Töchter.‹ Ich vermute, daß er dort oben von Kapitän Anthony rauh angefaßt worden war. Und daß die Kränkung seinem langsamen Witz stark auf die Beine geholfen hatte. Diese nüchternen Männer werden ungemein gründlich, sobald erst einmal ihre Einbildungskraft geweckt ist. ›Denken Sie nur!‹ schrie er, ›die drei zusammen in einer Droschke, wobei Anthony ehrfurchtsvoll dem alten Zuchthäusler gegenübersitzt!‹

Der gute kleine Mann lachte. Es schien unpassend, daß dieser Laut aus seiner männlichen Brust kommen sollte; aber was es noch schlimmer machte, das war der Gedanke, daß er knapp um eines Haares Breite davon weg war, die ganze Sache von der Gefühlsseite zu nehmen. Doch Anthony war offenbar kein Diplomat. Sein Schwager muß ihm, um die Sprache der Landratten zu gebrauchen, als ein richtiger Philister mit einem Herzen von Feuerstein erschienen sein. Was Fyne eigentlich unter dem Worte ›kampeln‹ verstand, weiß ich nicht, zweifelte aber nicht, daß die beiden in einer sehr erheblichen Weise ›gekampelt‹ haben mußten. Wie weit der andere davon berührt worden war, konnte ich mir nicht vorstellen; der Mann vor mir aber war in der unbegreiflichsten Weise außer sich.

›In einer Droschke! Ihn an Bord nehmen?‹ murmelte ich, über Fynes Veränderung bestürzt.

›Das ist der Plan. Nichts weniger als das! Wenn ich das glauben darf, was mir gesagt wurde, so werden seine Füße zwischen dem Gefängnistor und dem Deck jenes Schiffes kaum den Boden berühren.‹

Der gänzlich veränderte Fyne sprach mit einer krampfhaft gedämpften Stimme, die ich aber mühelos verstand. Die vielfachen, dröhnenden Geräusche der Straße waren einen Augenblick lang verstummt, während einer der plötzlichen Pausen im Verkehr, die den Eindruck erwecken, als wäre der Strom an seiner Quelle versiegt. Da ich nun über Fynes Schulter weg freien Ausblick hatte, so sah ich überrascht, daß das Mädchen immer noch da war. Ich hatte gedacht, sie wäre längst hinaufgegangen. Doch da war ihre schwarze, schlanke Gestalt, ihr weißes Gesicht unter den Rosen ihres Hutes. Sie stand an der Kante des Bürgersteiges, wie Leute am Ufer eines Stromes stehen, ganz still, als wartete sie – oder als wüßte sie nicht, wo sie war. Die drei versoffenen Lumpen (auch sie konnte ich sehen, sie hatten sich keinen Zoll breit gerührt) schienen sie zu beobachten. Es sah schrecklich aus.

Unterdessen erzählte mir Fyne sehr bemerkenswerte Dinge – für ihn. Er erklärte zunächst, es sei in gewissem Sinne ein Glück. Dann fragte er mich, ob es nicht richtige Verrücktheit sei, sein Leben mit einem solchen steten Mahner zu belasten. Das tägliche Leben. Das einsame Leben auf See. Die Einsamkeit, die für zwei Leute ohnedies schon drückend sein mußte, dadurch noch zu verschärfen, war doch ganz verkehrt. Unerwünschte Verwandtschaften waren schon an Land schlimm genug. Aber da konnte man sie doch schneiden – oder ihr Dasein gelegentlich vergessen. Er selbst bereite sich vor, das Dasein seines Schwagers von nun an so sehr wie irgend möglich zu vergessen.

Das war der allgemeine Sinn seiner Bemerkungen, nicht ihr Wortlaut. Ich dachte mir, daß das Dasein des Bruders seiner Frau ihm niemals besonders wichtig gewesen war, daß er aber von nun an seine Anspielungen auf ›den Sohn des Dichters, Sie wissen ja‹ zu unterlassen haben würde. Ich warf während der Pausen ›ja, ja‹ ein, denn ich wollte nicht, daß er sich umdrehen sollte. Und die ganze Zeit über behielt ich das Mädchen scharf im Auge. Nun glaubte ich zu verstehen, was sie mit den Worten gemeint hatte: ›Er war sehr großmütig.‹ Jawohl. Großmut mag einen Mann über jede Lage wegbringen. Warum ging sie denn aber nicht zu ihrem großmütigen Mann hinauf? Warum stand sie dort unten, als haftete sie an dem festen Boden, den sie doch sichtlich haßte, wie man den Platz hassen muß, auf dem man gequält worden ist, hoffnungs- und glücklos? Plötzlich rührte sie sich. Kam sie herüber? Sie wandte sich, begann langsam den Randstein entlang zu gehen und erinnerte mich dabei an das eine Mal, wo ich sie am Rande einer dreißig Meter hohen Steilwand hingehen gesehen hatte. Es war derselbe Eindruck, dieselbe Haltung, gerade, scheu, mit aufgerecktem Kopf, die beiden Hände vor sich leicht gefaltet niederhängend – nur pendelte jetzt ein kleiner Sonnenschirm darin. Ich sah etwas Schicksalhaftes in diesem gemessenen Schreiten gegen die unauffällige Türe, die auf den Glasscheiben die Aufschrift ›Hotel-Eingang‹ trug.

Sie war nun der Türe gerade gegenüber angekommen, und ich dachte, sie würde vielleicht wieder stehenbleiben; doch nein! Sie bog scharf ab – in einem Augenblick, als gerade niemand neben ihr war; sie hatte das Stück Pflaster ganz für sich – mit seelenlosen Bewegungen, die ihr von außen aufgezwungen schienen.

›Ein verdammter Sträfling,‹ dröhnte Fyne.

Im Klang dieser Worte, die mein Ohr verletzten, sah ich das Mädchen den Arm ausstrecken, die Tür ein wenig öffnen und hineinschlüpfen. Ich sah die Bewegung ganz deutlich; sie hatte die Hand nach der Art eines Schlafwandlers vor sich hingestreckt.

Sie war verschwunden; ihre schwarze Figur war mit dem Dunkel des offenen Eingangs verschmolzen. Eine Zeitlang sagte Fyne nichts. Ich dachte an das Mädchen, das nun da hinaufging und vor den Mann hintreten würde. Würden sie einander schweigend ins Gesicht sehen, mit dem Gefühl, allein auf der Welt zu sein, wie Liebende es beim Zusammentreffen haben sollen? Doch das schöne Selbstvergessen war sicherlich unmöglich für den Seemann Anthony, so kurz nach der gehässigen Auseinandersetzung mit Fyne, dem Sendboten einer Weltordnung, die am Gestade der See halt macht. Den Grad seiner Aufregung konnte ich nicht ermessen, da ich ja nicht wußte, was der stürmische Liebhaber alles anzuhören gehabt hatte.

›Sie wollen also den alten Mann mit sich auf See nehmen‹, sagte ich. ›Nun, ich kann mir tatsächlich nicht vorstellen, was sie sonst hätten mit ihm tun sollen? Haben Sie Ihrem Schwager gesagt, wie Sie darüber denken? Ich möchte wohl wissen, wie er es aufgenommen hat.‹

›Sehr ungehörig‹, wiederholte Fyne. ›Sein Benehmen war von Anfang an beleidigend und spöttisch. Ich will nicht sagen, daß er sich in Worten gehen ließ. Ich bin ja schließlich, verdammt noch mal, kein ganz gleichgültiger Esel. Aber er frohlockte förmlich, daß er dies armselige Mädchen zu fassen bekommen hatte.‹

›Es scheint ziemlich gewiß, daß sie von nun an weit weniger armselig sein wird‹, murmelte ich.

Kapitän Anthonys Frohlocken war Fyne augenscheinlich auf die Nerven gegangen. ›Ich sagte dem Burschen sehr eindringlich, daß er hierin abscheulich selbstsüchtig handelte‹, versicherte er unerwartet.

›Taten Sie das? Selbstsüchtig?‹ sagte ich ziemlich verblüfft. ›Aber wie denn, wenn das Mädchen gerade im Gegenteil meinte, daß er sehr großmütig sei?‹

›Was wissen Sie davon?‹ knurrte Fyne. Die zerfetzten Reste seiner Würde begannen sich allmählich wieder zusammenzuschieben, aber es wurde nur noch eine säuerliche Würde daraus. ›Großmut! Ich neige dazu, es anders zu nennen. Nein, nicht Verrücktheit!‹ fuhr er mich an, als hätte ich ihn unterbrechen wollen. ›Noch anders. Viel schlimmer. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was es ist‹, fügte er düster bedeutsam hinzu.

›Gewiß. Sie brauchen es nicht – außer wenn es Ihnen Spaß macht‹, sagte ich unbefangen. Der kleine Fyne hatte mich seit dem Beginn der de Barral-Anthony-Geschichte, als ich zuerst Möglichkeiten in ihm entdeckt hatte, noch nie so sehr interessiert. Die Möglichkeiten lederner Menschen sind aufregend, denn wenn sie sich einmal äußern, dann erinnern sie an die sagenhaften Fälle von ›Besessenheit‹, nicht gerade vom Teufel, aber doch von irgendeinem bösen Geist.

›Ich habe ihm gesagt, daß es eine Schande ist‹, sagte Fyne. ›Sogar wenn das Mädchen ihm Augen gemacht hat. Aber ich glaube mit Ihnen, daß sie es nicht getan hat. Jawohl! Eine Schande, aus dem Kummer eines Mädchens Vorteile zu ziehen – eines Mädchens, das ihn nicht im geringsten liebt.‹

›Glauben Sie wirklich, daß es so schlimm ist?‹ sagte ich. ›Denn Sie wissen ja, daß ich es nicht tue!‹

›Was können Sie davon wissen?‹ fragte er zurück und durchbohrte mich mit einem feierlichen Blick. ›Ich halte mich an ihren Brief an meine Frau.‹

›Oh, an den famosen Brief! Aber Sie haben ihn ja nicht einmal gelesen‹, sagte ich.

›Nein. Aber meine Frau hat mir davon erzählt. Es war natürlich unter den gegebenen Umständen ein sehr ungehöriger Brief. Es hat Frau Fyne betrübt, zu sehen, wie gründlich sie mißverstanden worden war. Aber das, was darin geschrieben steht, ist ja noch nicht alles. Es kommt darauf an, was meine Frau zwischen den Zeilen hat herauslesen können. Sie sagt, daß das Mädchen wirklich im tiefsten Herzen entsetzt ist.‹

›Sie hat nicht viel im Leben gehabt, das ihr großen Mut oder besonderes Vertrauen in die Menschheit hätte geben können. Das ist sehr wahr. Aber was Ihre Frau sagt, scheint mir doch übertrieben.‹

›Ich möchte wissen, was für einen Grund Sie haben, so etwas zu behaupten‹, fragte Fyne mit gekränkter Würde. ›Ich sehe wirklich keinen. Aber ich war meiner Sache sicher genug, um meinem Schwager sagen zu können, daß er gründlich im Irrtum sei, wenn er sein Vorhaben etwa für besonders ritterlich halte. Ich sehe ganz gut, daß er alles tun will, was sie von ihm verlangt – aber es bleibt trotzdem eine recht unbarmherzige Handlungsweise.‹

Einen Augenblick lang fühlte ich, daß es wirklich so sein mochte. Fyne bemerkte eine ankommende Tram und trat auf den Fahrdamm hinaus, um sie anzuhalten. ›Haben Sie eine mitleidigere Erklärung bei der Hand?‹ rief ich ihm nach. Er antwortete nicht, kletterte auf die rückwärtige Plattform hinauf und sah sich erst dann um. Wir winkten einander kurz zu, sahen einander auch an, er mich recht ärgerlich, glaube ich, ich ihn erstaunt. Ich kann auch gleich sagen, daß es das letzte Mal war. Von dem Tage an habe ich die Fynes nie wieder zu Gesicht bekommen. Wie gewöhnlich trat etwas Unerwartetes in mein Leben. Es hatte nichts mit Flora de Barral zu tun. Tatsache ist, daß ich wegfuhr. Mein Weg war nicht ihr Weg. Meiner war mir nicht mit leidenschaftlicher Wucht oder verliebter Zartheit vorgeschrieben, noch vertieft durch das Beiwerk der Großmut, die eine Tugend ist, geheimnisvoll wie alle anderen, doch von eigenem Glanz. Nein. Es war ein ganz nüchternes Stellenangebot zu ziemlich guten Bedingungen, das ich ungesäumt annahm, in der vollen Erkenntnis, daß ich meine Zeit lange genug an Land versäumt hatte. Und einmal aus meiner Trägheit aufgejagt, fuhr ich, wie es meine Gewohnheit ist, weit, weit weg, für lange, lange Zeit. Was ein neuer Beweis für meine Trägheit ist. Wie weit Flora fuhr, kann ich nicht sagen. Aber ich will dir sagen, was ich denke. Ich denke mir, sie ging so weit, wie sie es imstande war – wie sie es ertragen konnte – wie es ihr bestimmt war . . .«

 


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