Joseph Conrad
Spiel des Zufalls
Joseph Conrad

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III
Der wirtschaftliche Aufschwung und das Kind

»Ich hielt es aber nicht für ungehörig, Fyne gegenüber zu bemerken, daß seine Frau am Abend zuvor annähernd gewußt zu haben schien, wohin sich das unternehmende junge Mädchen gewandt haben mochte. Fyne schüttelte den Kopf. Nein. Seine Frau war ihrer Sache bei weitem nicht so sicher gewesen, wie sie vorgegeben hatte. Sie hatte lediglich ihre Gründe, anzunehmen, besser, zu hoffen, daß das Mädel irgendwo in London ein Zimmer genommen habe und in der Stadt untergetaucht sei – in Erwartung oder vielleicht im Grauen vor dem herannahenden Tage.

Er brach ab und saß in düsterem Sinnen, aber immer noch würdig da.

›Vor was für einem Tage?‹ fragte ich vorsichtig. Doch er hörte mich offenbar nicht. Er strahlte eine so unheilvolle Atmosphäre aus, daß ich schließlich die Geduld verlor.

›Warum in aller Welt tun Sie denn gar so trübselig?‹ rief ich ehrlich überrascht und ungeduldig. ›Man könnte meinen, das Mädel sei eine Staatsgefangene und Ihrer Obhut anvertraut gewesen.‹

Und plötzlich war ich noch mehr über mich selbst überrascht, da ich so ohne weiteres Dinge als gegeben hingenommen hatte, die bei näherem Zusehen merkwürdig genug erschienen.

›Warum denn nur all die Geheimnistuerei? Warum sind sie geflohen – wenn es eine Flucht ist? – Hatte das Mädel Angst vor Ihrer Frau? Und Ihr Schwager? Welcher Teufel reitet ihn, sich heimlich trauen zu lassen? Hatte auch er Angst vor Ihrer Frau?‹

Fyne versuchte sich aufzuraffen.

›Natürlich hat mein Schwager, Kapitän Anthony, der Sohn des . . .‹ Er brach ab, als wollte er eine schlechte Gewohnheit abtun. ›Er hat sich von ihr bereden lassen. Wir waren sehr gut gegen das Mädchen.‹

›Ich habe es gleich für ein verdrehtes und unbedachtes kleines Ding gehalten. Warum aber sollten Sie und Ihre Frau sich eine verrückte Laune oder sonst eine Rücksichtslosigkeit so sehr zu Herzen nehmen?‹

›Es ist eine ganz unerhörte Rücksichtslosigkeit‹, erklärte Fyne gewichtig – und seufzte.

›Ich nehme an, daß sie arm ist,‹ hob ich nach kurzem Schweigen wieder an, ›aber schließlich . . .

›Sie wissen nicht, wer sie ist.‹ Fyne hatte seine gewohnte Würde zurückgewonnen.

Ich gestand, daß mir ihr Name entgangen war, als uns seine Frau bekannt gemacht hatte. ›Es war irgendwas mit S, oder nicht?‹ Fyne erwiderte darauf mit größter Kühle, daß das nichts zur Sache täte, der Name sei nicht ihr Name gewesen.

›Wollen Sie damit sagen, daß Sie mir eine junge Dame unter einem falschen Namen vorgestellt haben?‹ fragte ich in dem vergnüglichen Gefühl, daß die Tage der Wunder und Zeichen noch nicht vorüber seien. Daß die so unheimlich wohlanständigen Fynes sich zu etwas Ähnlichem hergegeben haben sollten, überstieg alle Begriffe. Etwas heftiger als sonst versicherte mir der kleine Fyne, daß ich keine Entschuldigung für diesen Formfehler verlangen würde, sobald ich den wahren Namen des jungen Mädchens kennte. Dabei bekam sein Baß eine wärmere Färbung.

›Wir haben in jeder Weise versucht, dem Mädchen freund zu sein. Es ist die Tochter und das einzige Kind von de Barral.‹

Offenbar rechnete er damit, ich würde sprachlos überrascht sein; er sah mich starr an, als spähte er nach den ersten Anzeichen. Ich aber konnte seinen durchdringenden Blick einfach nur erwidern. So sahen wir uns eine Weile gegenseitig an. Da ich mir meiner Begriffsstutzigkeit bewußt war, so begann ich in meiner Erinnerung zu kramen: de Barral . . . de Barral . . . und mit einem Strahl brachen Licht und Wärme über mich herein, als wäre ein Fenster meines Gedächtnisses, einer Hauptstraße zu, plötzlich aufgerissen worden. De Barral! Konnte es denn der sein? Doch gewiß nicht!

›Der Finanzmann?‹ stammelte ich halb ungläubig.

›Jawohl‹, sagte Fyne, und diesmal paßte seine starre Würde gut. ›Der Sträfling‹.«

Marlow sah mich bedeutungsvoll an und erklärte: »Merkwürdig genug hat wohl niemand jemals daran gedacht, daß de Barral Kinder haben könnte oder ein anderes Heim als die Bureaus der ORB oder andere als finanzielle Lebensinteressen. Du erinnerst dich ja an den Krach, wie ich sehe . . .

»Ich fuhr damals gerade auf dem Indischen Ozean,« sagte ich, »aber natürlich . . .«

»Natürlich,« fiel Marlow ein, »die ganze Welt . . . Du magst dich wundern, daß ich den Namen nicht sofort wiedererkannt hatte. Aber du weißt ja, daß mein Gedächtnis ein reines Massengrab von Eigennamen ist. Da liegen sie leblos und erwarten den Zauberschlag, und wenn er kommt, dann folgen sie ihm nicht einmal gar zu willig. Der Name ist das erste, was ich von einem Manne vergesse. Der Gerechtigkeit halber muß ich zugeben, daß es oft auch das letzte ist. Und daraus erklärt es sich, daß ich so viele namenlose Erinnerungen habe. De Barral nun hatte ich in meinem Massengrab zugleich mit so vielen Namen seiner eigenen Erfindung bestattet, daß er tatsächlich einen recht beträchtlichen Haufen gebleichter Gebeine wegschaffen mußte, bevor er auf den Ruf des Geisterbanners Fyne vor mich hintreten konnte. Der Bursche hatte eine wahre Leidenschaft für Namen: Die ORB-Depositenbank, die SZEPTER-Darlehensgenossenschaft, die ›Wohlfahrt- und Eigenheim-Gesellschaft‹ . . . Jawohl, ausgesprochenen Geschmack in der Erfindung von Namen. Und sonst nichts, ganz und gar nichts. – Keinerlei anderes Verdienst. – Da war noch ein Name, ein reiner Glücksfall –, sein eigener Name de Barral, den er nicht erfunden hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein einfacher Jones oder Brown einen so ungeheuren Fischzug im Meere menschlicher Dummheit fertig gebracht hätte wie er. Vielleicht unterschätze ich aber auch die Leichtigkeit, mit der die Menschheit an den Köder geht. Wahrscheinlich sogar. Die Gier dieses Ungetüms ist unbeschreiblich, undenkbar, übersteigt jeden Begriff. De Barrals Laufbahn bildet den Beweis dafür, daß sie auch den nackten Haken annehmen. Er hatte ihn nicht einmal mit einem Märchen beködert. Dazu hatte seine Vorstellungskraft nicht ausgereicht . . .«

»War er ein Ausländer?« fragte ich. »Sein Name ist offenbar französisch. Es war doch sein Name?«

»Oh, er hat ihn nicht erfunden. Er hatte ihn bei der Geburt bekommen, in Bethnal Green, wie sich während des Prozesses herausstellte. Er liebte Anspielungen auf seine schottische Verwandtschaft. Doch das hat jeder große Mann getan. Die Mutter, glaube ich, war übrigens wirklich Schottin von Geburt. Der Vater de Barral aber, wo immer er auch herstammen mochte, begann, als er sich vom Finanzdienst (als Zollwächter, glaube ich) zurückgezogen hatte, in London-Ost in ganz kleinem Maßstabe Geld auszuleihen. An Leute, die auf den Docks zu tun hatten, an Stauer, kleine Leichterschiffer, Schiffslieferanten, kleine Buchhalter – lauter armseliges Volk. Der Alte lebte davon. Er war durchaus ehrenwert, glaube ich, und hatte Einfluß genug, um seinen einzigen Sohn als Unterbeamten in die Buchhaltung einer der Dockgesellschaften zu bringen. ›Nun, mein Junge‹, sagte er ihm, ›habe ich dir einen schönen Anfang geschaffen.‹ Aber de Barral fing nicht an. Er klebte. Seine Leistungen befriedigten. Nach drei Jahren wurde sein Gehalt etwas erhöht, und der Junge ging abends auf Werbung aus. Er umwarb die Tochter eines alten Schiffskapitäns, der Kirchenvorsteher seiner Pfarrei war und in einem alten, baufälligen Haus mit Garten aus der Zeit des letzten Georg lebte: in einem der Häuser, wie man sie heute noch inmitten kleiner ›Bauplätze‹ in den elendesten Straßen sieht, einander zum Verwechseln ähnlich, jedes mit sechs Zimmern.

Einige davon waren die Pfarrhäuser armer Kirchspiele. Der alte Seemann hatte eines davon billig bekommen und de Barral bekam seine Tochter. – Was für ihn kein schlechtes Geschäft war. Der alte Seemann war sehr nett gegen das junge Paar und liebte ganz besonders das kleine Mädchen. Frau de Barral war eine ausgeglichene, anspruchslose Frau, damals noch von Herzen fröhlich und ohne Ehrgeiz; aber nach Art aller Frauen sehnte sie sich doch nach Abwechslung und, dann und wann, nach einem neuen Ereignis. Sie war es, die de Barral ermutigte, einen Posten in der Westendfiliale einer großen Bank anzunehmen, der ihm angeboten war. Er hatte scheinbar lange Zeit nicht den Mut zu diesem großen Wagnis aufgebracht. Schließlich siegten die Beweisgründe seiner Frau. Später pflegte sie zu sagen: ›Das war das einzige Mal, daß er auf mich gehört hat; und heute weiß ich nicht, ob ich nicht lieber hätte sterben als ihm zureden sollen.‹

Du wirst dich vielleicht wundern, daß ich alle diese Einzelheiten kenne. Ich erfuhr sie viel später von Frau Fyne. Frau Fyne nämlich hatte, als sie selbst noch Fräulein Anthony war, in den Tagen ihrer Knechtschaft, Frau de Barrel in ihrer Verbannung gekannt. Frau de Barral wohnte damals in einem großen, steinernen Schloß mit Bogenfenstern, in einem großen, feuchten Park, genannt ›Die Priorei‹, unfern des Dorfes, in dem der feinsinnige Dichter sich sein Haus gebaut hatte.

Das waren die Tage von de Barrals Erfolgen. Er hatte den Besitz gekauft, ohne ihn je gesehen zu haben, und hatte seine Frau und sein Kind sofort hingeschickt. Er wußte nicht, was er mit ihnen in London anfangen sollte. Er selbst bewohnte eine Zimmerflucht in einem Hotel. Dort gab er Abendgesellschaften, an die sich Kartenpartien anschlossen. Er hatte allmählich eine Leidenschaft für Glücksspiele entwickelt – vielleicht auch nur eine Manie für die Karten. – Jedenfalls spielte er hoch, zum Zeitvertreib, hatte aber recht zweifelhafte Partner.

Inzwischen lebte Frau de Barral, die ihn jeden Tag erwartete, in der Priorei, hatte eine zweispännige Equipage, eine Erzieherin für das Kind und viele Dienstboten. Die Leute aus dem Dorfe sahen durch das Gitter, wie sie unter den Bäumen des großen Parks mit ihrem kleinen Mädchen umherwanderte, verloren in der fremden Umgebung. Nie kam jemand zu ihr. Dort starb sie auch, wie manche treue und empfindliche Tiere sterben – an Vernachlässigung. Ganz einfach daran. Recht unerwartet und ohne alles Aufsehen. Das Dorf trauerte ihr nach, denn trotz ihres offenbaren Kummers war sie doch immer gütig gegen die Armen und jederzeit zu einem kleinen Schwatz mit den einfachen Leuten bereit gewesen. Natürlich wußten alle, daß sie keine wirkliche Dame war – nicht das, was man eine wirkliche Dame nennt. Und auch ihr Verkehr mit Fräulein Anthony hatte sich nur vor der Türe und auf der Dorfstraße abgespielt. Carleon Anthony war eingefleischter Aristokrat (sein Vater hatte als Architekt Edelsitze restauriert) und erlaubte seiner Tochter nur den Verkehr mit den jungen Damen des Landadels. Trotz dieser erklärten Abneigung des Dichters gegen nicht ganz makellose Verfeinerung kam es doch zu einigen ruhigen, etwas trübseligen Spaziergängen, auf und ab in der großen Kastanienallee, die zum Parktor führte, wobei Frau de Barral schließlich Fräulein Anthony ›meine Liebe‹ nannte und sogar ›mein armer Schatz‹. Die arme Seele hatte niemanden, mit dem sie hätte sprechen können, außer diesem nicht eben glücklichen Mädchen. Die Erzieherin verachtete sie, die Haushälterin wahrte auf ihre Art Abstand. Auch liebte Frau de Barral ja das leere Frauengeschwätz nicht. Fräulein Anthony aber vertraute sie einiges an. Es sei ganz furchtbar, versicherte sie, wenn plötzlich ein solcher Reichtum über einen hereinbreche. Einmal gestand sie sogar, daß sie wohl an der Angst sterben würde. Herr de Barral (sie sprach nie anders von ihm) sei ein ausgezeichneter Gatte und musterhafter Vater gewesen, aber: ›Sehen Sie, meine Liebe, ich kenne ihn von Grund auf. Ich weiß ganz gewiß, daß er schließlich mit all dem Geld, das die Leute ihm zur Verwaltung übergeben, nichts wird anfangen können. Es scheint mir mehr als wahrscheinlich, daß er Dummheiten machen wird. Wenn er herkommt, muß ich das alles einmal richtig mit ihm durchsprechen. So wie wir es in den glücklichen Zeiten unseres Lebens oft zu tun pflegten.‹ Und dann entrang sich ihr eines Tages ein Angstschrei: ›Meine Liebe, er wird nie hierherkommen, niemals, niemals!‹

Damit hatte sie unrecht. Er kam zum Begräbnis, schien tief erschüttert und weinte bitterlich am offenen Grabe, das kleine Mädchen fest an der Hand. Fräulein Anthony sah dies alles mit eigenen Augen an und hatte dafür dem Dichter mit einer ganzen Woche voll Zank und Streit zu zahlen. De Barral klammerte sich an das Kind wie ein Ertrinkender. Dennoch brachte er es fertig, den Halbsechs-Uhr-Schnellzug zu erreichen, und fuhr in einem reservierten Abteil mit niedergelassenen Vorhängen ganz allein in die Stadt . . .«

»Und ließ das Kind zurück?« fragte ich.

»Jawohl, ließ es zurück . . . Er scheute das Problem; das war so seine Art. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihm anfangen sollte, so wenig übrigens, wie mit sonst jemandem, sich selbst mit eingeschlossen. Er flüchtete in seine Hotelwohnung zurück. Er war der hilfloseste . . . Sie wäre wohl bis zum Ende ihrer Tage in der Priorei geblieben, wenn nicht die hochnäsige Erzieherin gedroht hätte, ihre Entlassung zu fordern. An dem Kind lag ihr gar nichts. Und die einsame, düstere Priorei ging ihr auf die Nerven. Sie dachte nicht daran, sich mit einem solchen Leben abzufinden, und da sie geradeswegs aus dem Hause irgendeines Herzogs gekommen war, so behandelte sie de Barral sehr von oben herab. Um sie zu versöhnen, nahm er für sie ein prachtvoll eingerichtetes Haus im teuersten Teil von Brighton und fuhr dann und wann über den Sonntag hinaus, mit einem Koffer voll ausgesuchter Süßigkeiten und einer dicken Tasche voll Geld. Das gab die Erzieherin für ihn in hochfürstlicher Weise aus. Sie war an die Vierzig und fand insgeheim Geschmack daran, männliche Zufallsbekannte – junge Männer einer bestimmten Sorte – zu begönnern. Davon wußte natürlich Frau Fyne damals aus eigener Anschauung nichts. Sie sagte mir nur, daß sie sogar während der Zeit in der Priorei die Erzieherin im Verdacht gehabt habe, ein falsches, herzloses, gewöhnliches Frauenzimmer mit recht niedrigen Neigungen zu sein. Doch de Barral wußte es nicht. Er wußte buchstäblich überhaupt nichts . . .«

»Aber, sag' mir doch, Marlow,« fiel ich ein, »wie willst du mir diese Behauptung beweisen? Er muß doch in seiner Art, in irgendeiner Art eine Persönlichkeit gewesen sein! Man kann doch nicht den größten Krach eines Jahrzehnts in einem Wirtschaftskörper zuwege bringen, ohne irgend etwas los zu haben?«

Marlow schüttelte den Kopf.

»Er war nur ein Symptom, ein Potenzexponent. Er hatte gar nichts los. Damals war gerade das Wort ›Wirtschaftlicher Aufschwung‹ in aller Munde. Du kennst die Macht des Schlagworts. Wir machen ganze Zeitspannen durch, die von dem oder jenem Wort beherrscht werden, mag es nun Entwicklung heißen oder Wettbewerb, Erziehung, Reinheit, Tatkraft, meinetwegen auch Heiligkeit. Es ist dann das Deckwort der Zeit. Damals also war es das Wort ›Aufschwung‹, das Arm in Arm mit Rechtschaffenheit, dem unzertrennlichen Gefährten und Rückhalt aller solchen Schlagworte, durch die Straßen lief und jedermann sozusagen ins Auge sah. Nicht einmal die kleinen Straßenmädchen, die armen Dinger, konnten sich dem Zauber entziehen . . . Nun gut! . . . Die meisten Tagesblätter kreischten in allen erdenklichen Tönen, wie eine Rotte verdammter Papageien, von einem scherzhaften Teufel abgerichtet, daß der Finanzmann de Barral berufen sei, unserem Volke zu der neuentdeckten Tugend des Aufschwungs zu verhelfen. Das wolle er mit allen den großen Unternehmungen bewirken, die die sittlichen Vorzüge des Aufschwungs auch noch den engsten Köpfen sinnenfällig machten, einfach dadurch, daß sie zehn Prozent Zinsen für alle Einlagen versprachen. Und man brauchte durchaus nicht den wohlhabenden Kreisen anzugehören, um an dem Vorteil der Tugendhaftigkeit teilhaben zu können. Und wenn einer nur einen halben Schilling übrig hatte und hinging und ihn de Barral gab, so half er am Aufschwung mit. Es sieht ganz so aus, als ob de Barral selbst daran geglaubt hätte. Er muß daran geglaubt haben. Es ist einfach undenkbar, daß er allein sich von der Behexung frei gehalten haben sollte, die die ganze Welt ergriffen hatte. Dazu war er nicht klug genug. Wenn man ihn sah, so konnte man allerdings nicht sagen . . .«

»Hast du ihn damals gesehen?« fragte ich etwas neugierig.

»Ja! Merkwürdig, nicht? Nur einmal. – Aber als ich so dem betrübten Fyne gegenübersaß, der mit einem Schlage de Barrals Namen in meinem Gedächtnis wachgerufen hatte, wo er mit anderen Bruchstücken aus der Vergangenheit begraben gewesen war, da sah ich ihn wieder vor mir, mit größter Schärfe und Deutlichkeit, so wie er in den Tagen seines Glanzes und seiner Pracht erschienen war. Nein! Keines dieser Worte reicht hin, um diesen Erfolg zu veranschaulichen. Niemals umgab Glanz oder Pracht seine Gestalt. Sagen wir also: in den Tagen, da er, wie die Zeitungen es nannten, eine Geldmacht war, die für die sittliche Hebung des Volkes wirkte. Ich will dir erzählen, wie es dazu kam.

Damals kannte ich einen dicken, kahlköpfigen, wohlhabenden kleinen Mann, der im Albany wohnte. Ein Geldmann auch er, auf seine Art, der sich aber auf besondere und nicht gerade saubere Geschäfte beschränkte, meistens mit jungen Leuten aus gutem Hause und mit Erbaussichten – obwohl ich glaube, daß er auch alten Plebejern seine Dienste nicht verweigert hat. Er war ein wahrer Demokrat; er hätte mit dem Teufel selbst Geschäfte gemacht (recht scharfe Geschäfte!). Ihm war alles Fliege, was in sein Netz geriet. Er empfing die Bittsteller in einer munteren, frohen Art, die jeden überraschte. Damit wirkte er hilfsbereit, ließ aber doch keine Vertrautheit aufkommen, was ihm wohl gerade paßte. Seine Geschäfte machte er in einem Raume, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, mit vielen nachgedunkelten Ölbildern in schweren Goldrahmen an den Wänden. Ich weiß nicht, ob sie gut waren, aber sie waren groß und erweckten in ihren schöngeschnitzten, verblaßten Goldrahmen den Eindruck ernster Würde. Der Mann selbst saß an einem glänzend polierten, eingelegten Schreibtisch, der wie ein seltenes Museumsstück wirkte. Sein Stuhl hatte eine hohe, ovale, geschnitzte Lehne, mit altem Brokat gepolstert, und diese Gegenstände ließen die teure, schwarze Havanna, die er unaufhörlich im Munde von der Mitte zum linken Winkel und zurück wandern ließ, als ein unsagbar billiges und gemeines Ding erscheinen. Ich mußte ihn mehrmals besuchen, in Sachen eines armen Teufels, der so unglücklich war, daß er nicht einmal einen gewichtigeren Freund als mich finden konnte, um ihm in einem besonders schweren Augenblick als Fürsprecher zu dienen.

Ich weiß nicht, zu welcher Stunde mein Geldmann seinen Tag begann, doch pflegte er einem ungewöhnliche Besuchszeiten anzugeben. So zum Beispiel um ein Viertel vor acht Uhr morgens. Kam man dann hin, so fand man ihn schon an seinem herrlichen Schreibtisch an der Arbeit, ganz frisch und munter, mit einem leisen Geruch feiner Seife um sich, und mit der Zigarre gut in Brand. Du kannst mir glauben, daß ich an meine Aufgabe mit recht gemischten Gefühlen herangegangen war. Doch in dem stets sauber gewaschenen kleinen Mann lebte eine so tiefe Menschenverachtung, daß sie schon wieder fast an Gutmütigkeit grenzte. Und diese ist ja, entgegen der Milch echter Güte, nie in Gefahr, sauer zu werden. Dann machte ich einmal während einer Geschäftspause, als wir gerade auf ein Dokument warteten, nach dem er geschickt hatte (wohl in den Keller?) ganz nebensächlich die Bemerkung, daß ich nie zuvor eine Ansammlung so vieler schöner Dinge in einem Raum gesehen hätte. Ich könnte nicht sagen, ob das unbewußte Diplomatie meinerseits war oder nicht, aber die Bemerkung traf zu und machte ihm unglaubliches Vergnügen. ›Es ist eine Sammlung,‹ sagte er stolz, ›nur lebe ich mitten darin, was andere Sammler kaum tun. Aber ich merke schon, daß Sie etwas von dem verstehen, was Sie ansehen. Das tun nicht viele von den Leuten, die in Geschäften hierherkommen. Denen liegen Stalleinrichtungen näher.‹

Ich weiß auch nicht, ob meine Bemerkung der Sache meines Freundes nützte. Jedenfalls aber nützte sie unserer Unterhaltung. Er behandelte mich von da ab mit einem Schimmer von Vertraulichkeit, wie einen Eingeweihten. Während meines letzten Besuches, als wir knapp vor dem Abschluß standen, wurden wir von einem Menschen unterbrochen, der wie eine Kreuzung zwischen einem Buchmacher und einem Privatsekretär aussah, durch eine Türe, nicht vom Vorzimmer her, hereinkam, zum Hausherrn hintrat und ihm ins Ohr flüsterte.

›Wie? Was? Wer, sagen Sie?‹

Das seltsame Wesen neigte sich tiefer, flüsterte nochmals und fügte endlich etwas lauter hinzu: ›Er sagte, er wolle Sie nicht lange aufhalten.‹

Der kleine Mann sah zu mir her und sagte unentschlossen: ›So, so.‹ Ich stand sofort auf und erbot mich, später wiederzukommen. Er zeigte spaßhafte Entrüstung: ›Nein, nein, es ist schon genug, daß ich mein Geld verlieren soll, aber ich möchte nicht auch noch mehr Zeit an ihren Freund verlieren. Wir müssen damit heute zu Rande kommen. Gehen Sie doch dort hinüber und sehen Sie sich einmal die Kamingarnitur an. Es gibt noch eine andere, ähnliche, im Schlosse von Laeken, aber meine ist viel feiner in der Zeichnung.‹

Ich ging gehorsam nach der anderen Seite des großen Raumes. Die Garnitur war wirklich sehr schön. Während ich aber vorgab, sie zu betrachten, beobachtete ich meinen Mann, wie er einem ungewöhnlichen Besucher entgegenging, der mit den Worten eintrat: ›Ich dachte, Sie zu so früher Stunde allein zu treffen. Ich habe Ihnen nur ein paar Worte zu sagen.‹ Nach wenigen geflüsterten Worten begleitete der Hausherr tatsächlich den anderen zur Türe und schüttelte ihm ehrerbietig die Hand. ›Durchaus nicht! Durchaus nicht! Sehr erfreut, Ihnen dienen zu können. Sie können sich auf meine Auskunft unbedingt verlassen.‹ – ›Oh, vielen Dank, vielen Dank. Ich kam eben vorbei . . .‹ – ›Gewiß. Ganz recht. Zu jeder Zeit . . . Guten Morgen!‹

Während sie diese Höflichkeiten wechselten, hatte ich gute Weile, mir den Besucher anzusehen. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß er eine flache, breite, schwarze Krawatte aus schwarzem Satin mit einer großen Kameenadel darin trug und einen niedrigen Umlegekragen. Seine Haare, farblos und seidig fein, wellten sich leicht über den Ohren. Seine Wangen waren bartlos, rund und offenbar weich. Er hielt sich sehr gerade, ging mit kleinen Schritten und sprach höflich, mit halblauter Stimme. Vielleicht machte es der Gegensatz zu der wunderbaren Vollendung der Zimmereinrichtung und der Sauberkeit ihres Besitzers, daß er mir ärmlich, dürftig und, wenn nicht geradezu demütig, so doch vom Unglück gebeugt erschien.

Ich wunderte mich noch über die Höflichkeit meines kleinen, fetten Finanziers gegen diese zweifelhafte Persönlichkeit, als er mich, während wir uns wieder zusammensetzten, fragte, ob ich wohl wüßte, wer da eben hinausgegangen sei? Als ich verneinend den Kopf schüttelte, lächelte er merkwürdig, sagte ›De Barral‹ und freute sich an meiner Überraschung. Dann wurde er ernst: ›Das ist vielleicht ein rätselhafter Bursche! Wir alle wissen, wo er angefangen hat und wohin er es gebracht hat. Aber niemand weiß, was er eigentlich im Sinne hat!‹ Er wurde nachdenklich und fügte wie im Selbstgespräch hinzu: ›Ich wollte sein Spiel wohl kennen!‹

Und, siehst du, es gab gar kein Spiel. Gar keinen Ansatz dazu. Keine Spur davon. Das kam bei der Verhandlung sonnenklar heraus. Wie ich dir schon gesagt habe, war er ein Bankbeamter, wie tausend andere. Der Posten war ihm als zweite Anfangsmöglichkeit in den Schoß gefallen, und er saß wiederum fest und befriedigte durch seine Leistungen. Dann stand er aber eines Tages auf, als hätte ihm eine überirdische Stimme etwas ins Ohr geflüstert oder eine unsichtbare Fliege ihn gestochen, setzte seinen Hut auf, ging auf die Straße hinaus und begann, Reklame zu machen. Mehr war tatsächlich nicht dabei. Er schnappte auf der Straße das zufällig gerade zugkräftige Schlagwort auf und spannte es vor seinen Schwindelkarren.

Du erinnerst dich gewiß noch an seine ersten bescheidenen Aufrufe, die an ihrem Kopfe das Zauberwort ›Aufschwung‹ dreimal wiederholt trugen, zehn Prozent auf alle Einlagen versprachen und die Adresse der Wohlfahrt- und Eigenheim-Gesellschaft in Vauxhall Bridge Road enthielten. Augenscheinlich war sonst nichts nötig. Er gab nicht einmal an, was er mit dem Gelde anfangen wollte, das das Publikum ihm in die Taschen schütten sollte. Natürlich gedachte er es zu hohen Zinssätzen auszuleihen. Das tat er auch – aber ohne System, Plan, Voraussicht oder Urteil. Und als ihm die eingezahlten Summen unter den Fingern zerronnen waren, verlangte er neue – und bekam sie. Während einer geschäftlichen Hochkonjunktur machte er die ORB-Bank und den SZEPTER-Trust auf, ganz einfach aus Reklamegründen, so scheint es wenigstens. Es waren bloße Namen. Er war völlig unfähig, irgend etwas zu organisieren, irgendein Unternehmen hochzutreiben, und sei es auch nur, um mit den Aktien zu spekulieren. Damals hätte er auf bloßen Aufruf jede beliebige Anzahl von Herzögen, pensionierten Generälen, Parlamentsmitgliedern, Exbotschaftern und so weiter als Direktoren für die wildesten seiner Gründungen haben können. Er versuchte es nicht einmal. Er hatte keine echte Einbildungskraft. Er konnte nichts weiter, als immer neue Aufrufe veröffentlichen und immer neue Filialen der ›Wohlfahrt und Eigenheim‹, der ORB, der SZEPTER zur Entgegennahme von Einlagen aufmachen. Erst in dieser Stadt, dann in jener, im Norden, im Süden – überall, wo er passende Räumlichkeiten billig mieten konnte. Denn das war das wahre Kennzeichen bei seinem ganzen Tun: Bescheidenheit, Einschränkung, Einfachheit. Weder die ORB noch die SZEPTER, noch deren Vater, die ›Wohlfahrt und Eigenheim‹, hatten sich die üblichen Paläste gebaut. Diese Enthaltsamkeit wurde in dummen Broschüren als ein Beweis dafür gelobt, wie sehr in ihrer Leitung der Grundsatz des Aufschwungs, dem sie dienen sollten, vorherrschte. In Wirklichkeit dachte de Barral einfach nicht daran. Natürlich war er bald von Vauxhall Bridge Road ausgezogen. So viel Verstand hatte er. Als Nächstes erwarb er einen alten, weitläufigen, von Ratten bevölkerten Ziegelbau in einer engen Gasse nächst dem Strand. Fremde wurden vor die schäbige, moderige, schmucklose Ziegelmauer geführt, die zwei Reihen kahler Fenster übereinander aufwies, und wurden mit angehaltenem Atem aufgefordert, die Schlichtheit des Hauptquartiers zu bewundern, das sich die größte Geldmacht des Tages erwählt hatte. Das Wort Wohlfahrt, das gerade unter dem Dach in riesigen goldenen Lettern querüber angebracht war, und zwei riesige Messingschilder zu beiden Seiten des Eingangs waren die einzigen Farbflecke in de Barrals Geschäftsauslage. Niemand wußte, welcher Art die Geschäfte waren, die dort drinnen abgeschlossen wurden. Nur das eine war bekannt: daß man hineingehen und sein Geld auf den Schalter hinzählen konnte und daß dann jemand da war, der es einem gleichmütig abnahm und eine vorgedruckte Quittung herausgab. Das und nichts weiter. Es scheint, daß diese Kenntnis unwiderstehlich wirkte. Die Leute gingen hinein und zahlten; und sobald man es ihnen aus der Hand genommen hatte, war das Geld gründlicher verloren, als wenn sie es geradeswegs in die See geworfen hätten. Das also, und nichts sonst ging dort drinnen vor . . .«

»Nun, Marlow,« sagte ich, »du übertreibst ganz gewiß, und sei es nur in der Art der Darstellung. Das wäre doch zu blödsinnig!«

»Ich übertreibe!« verteidigte er sich. »In der Art der Darstellung! Mein lieber Junge, ich habe nichts weiter getan, als daß ich die paar Brocken der Geschäfts- und Börsensprache aus meiner Erzählung weggelassen habe. Und du bist entsetzt! Was ich dir sage, ist die nackte Wahrheit! Es ist ja auch wahr, daß nichts so sehr den Vorwurf der Übertreibung herausfordert als die Sprache der nackten Wahrheit. Das Unvermittelte stößt meist auf Unglauben. Aber was sagst du denn zu dem Ende dieser Laufbahn?

Das kam natürlich überraschend und recht plötzlich. Es begann mit der ORB-Depositenbank. Unter dem Deckmantel dieser Unternehmung hatte de Barral mit der Hartnäckigkeit eines Mannes ohne Einbildungskraft einen indischen Prinzen finanziert, der mit der Regierung einen Prozeß um ungeheure Summen führte. Es handelte sich um ungezählte Hunderttausende von Rupien, einen elenden Rest der Schätze seiner Vorfahren. – Du verstehst mich schon. Und es war auch alles echt genug. Da war also ein wirklicher Prinz; und auch der Prozeß war ganz wirklich. Nur war leider die Klage nicht gerechtfertigt. So verlor also der Prinz seinen Prozeß in der letzten Instanz, und de Barrals Ende wurde dem Publikum offenbar, in Form von vier gestempelten Aktenbogen, die in die vier Ecken der Eingangstür zu der ORB-Bank geheftet waren und die Einstellung der Zahlungen verkündigten.

Die Schwesterunternehmung, die SZEPTER, brach noch in der gleichen Woche zusammen. Ich möchte nicht den amerikanischen Ausdruck gebrauchen, daß mit einem Schlage aus allen Unternehmungen de Barrals der Boden herausfiel, denn sie hatten nie einen Boden gehabt. Sie waren alle wie Danaidenfässer, in die das Publikum allzu willig seine Einlagen geschüttet hatte. Daß diese verloren waren, lag auf der Hand. Und die nachfolgenden Konkursverhandlungen sahen sich an wie eine böse Posse, wobei lautes Gelächter mit stummen Ängsten abwechselte; denen der Hunderttausende von Einlegern. Das Gelächter war unwiderstehlich und bildete die Begleitung zu der öffentlichen Konkursverhandlung.

Ich weiß nicht, ob es dem völligen Mangel an Einbildungskraft zuzuschreiben war, oder dem Übermaß einer gewissen Abart davon, oder beidem – die drei Möglichkeiten sind denkbar – aber es stellte sich heraus, daß dieser Mann, den die Leichtgläubigkeit des Publikums zu solcher Höhe erhoben hatte, selbst noch leichtgläubiger war als der Leichtgläubigste seiner Einleger. Er war allen möglichen Schwindlern, Abenteurern, Wahrsagern und sogar Narren zur Beute geworden. Während er sich in tiefes, törichtes Geheimnis gehüllt hatte, war er den phantastischesten Plänen nachgegangen: einer Hafenanlage mit Docks an der Küste von Patagonien, Steinbrüchen in Labrador und ähnlichen Unternehmungen. Auch eine Fischerei gehörte dazu, der eine Konservenfabrik an den Ufern des Amazonas angegliedert werden sollte. Ein Fürstentum in Madagaskar sollte gekauft werden. Als diese grotesken Einzelheiten nacheinander herauskamen, da liefen Wogen von Gelächter durch den dichtgefüllten Gerichtssaal – eine immer lauter als die andere. Schließlich brüllten die Zuhörer vor Lachen über das Übermaß von Dummheit. Der Protokollführer lachte, die Advokaten lachten, die Berichterstatter lachten. Die enggedrängten Reihen der armen Einleger, die ängstlich auf jedes Wort lauerten, lachten wie ein Mann. Sie lachten krampfhaft, die armen Teufel, auf der Kippe zum Weinen.

Nur ein Einziger blieb unbewegt. Das war de Barral selbst. Er bewahrte seinen ruhigen, höflichen Ausdruck (so erzählte man mir, denn ich war nicht selbst mit bei der Verhandlung) und blickte mit ruhiger Überlegenheit über die Menge weg. Damit zeigte er zum ersten Male vor aller Welt seine übermenschliche, maßlose Eitelkeit, die sich bis dahin unter einem gewissen Mißtrauen verborgen hatte. Man konnte sie auch aus seiner trockenen Versicherung heraushören, daß er alles ins Lot gebracht haben wollte, wenn man ihm nur Zeit genug und etwas mehr Geld gegeben hätte. Und es gab einige Leute (jawohl, sogar unter seinen Opfern!), die ihm das mehr als halb glaubten, sogar noch nach dem Strafprozeß, der sich alsbald anschloß. Als er auf der Anklagebank saß, da verlor er seine gewohnte Ruhe, als wäre ihm sein innerer Rückhalt plötzlich in Stücke gebrochen. Er hörte völlig auf, im Benehmen und sogar in der Gemütsart er selbst zu sein, denn seine matten, unbestimmbaren Augen, die so gut zu seinen farblosen Haaren paßten, konnten, wie sich nun plötzlich zeigte, eine Art verstohlenen Hasses ausdrücken. Er zeigte sich zuerst herausfordernd, dann frech, dann klappte er zusammen und brach in Tränen aus. Es konnte aber auch Wut sein. Schließlich beruhigte er sich und fand zu seiner sanften Sprechweise zurück und zu der bescheidenen, stillen Haltung, die ihm selbst in seinen größten Tagen gewohnt gewesen war. Doch schien es, als sei ihm in diesem Augenblick des Umschwungs endlich zum Bewußtsein gekommen, welche Macht er dargestellt hatte. Denn einem der Vertreter der Anklage, der bei der Vernehmung einen etwas hochmütig moralischen Ton anschlug, erwiderte er: Ja, er habe hoch gespielt, habe die Karten gerne gemocht; – doch hätten kaum ein Jahr zuvor Angehörige der besten Kreise nur zu gerne eine Partie mit ihm gespielt. Jawohl, fuhr er fort, sogar einige der Leute, die nun in Polsterstühlen am Richtertisch säßen. Und zum Staatsanwalt gewandt rief er: ›Sie selbst gerade so!‹ Er hätte die halbe Stadt in seiner Wohnung haben und sich von ihr den Hof machen lassen können, wenn ihm was daran gelegen gewesen wäre. ›Was denn – wenn ich es jetzt überlege, so hat es mich die meiste Zeit gekostet, Leute gerade Ihres Schlages mir vom Leibe zu halten!‹ So schloß er mit einem Anflug hochmütiger, ganz unaufdringlicher Verachtung, als wäre ihm die Tatsache zum ersten Male aufgedämmert.

Das war der Augenblick, der einzige Augenblick vielleicht, wo er wohl die gesamte Zuhörerschaft des Gerichtssaals auf seiner Seite hatte, in einem plötzlichen, drückenden Schweigen. Dann ging die Verhandlung wieder ihren schleppenden Gang. Im Verhältnis zu dem allgemeinen Aufsehen war es der langweiligste aller großen Prozesse. Die Konkursverhandlung hatte die gesamte Lächerlichkeit vorweggenommen. Es blieb nichts als ein trostloses Trümmerfeld und die Kränkung vieler, vieler Leute, daß sie sich durch Mittel hatten bestechen lassen, zu kindlich stümperhaft, um ihre Eigenliebe vor einer tiefen Wunde bewahren zu können; diese Eigenliebe, die vielleicht durch die Geschicklichkeit eines ausgemachten Schurken nicht berührt worden wäre. Eine verblüffte Beschämung kennzeichnete die Verhandlung, in der nicht nur de Barral schlecht abschnitt. Er selbst blieb bei seinem Ruf: ›Zeit! Zeit!‹ Die Zeit hätte alles ins rechte Gleis gebracht. Mit der Zeit hätten einige seiner Spekulationen sicher Erfolg gehabt. Er wiederholte diese Verteidigung, diese Entschuldigung, dieses Glaubensbekenntnis mit einer Beharrlichkeit, die ermüdend wirkte. Alles, was er getan oder unterlassen hatte, war darauf berechnet gewesen, Zeit zu gewinnen. Er hatte sich selbst ganz in die Hypnose dieses Wortes begeben. Mitunter, so erzählte man mir, geriet er beinahe in Verzückung; seine starren, blauen Augen schienen in ferne Zukunft zu blicken. Zeit – und, natürlich, mehr Geld. ›Oh, hätten Sie mich nur noch ein paar Jahre länger machen lassen‹, rief er einmal leidenschaftlich aus. ›Die Gelder liefen so regelmäßig ein!‹ Die Einlagen, verstehst du wohl! – Die Spargroschen für den Aufschwung. O ja, an denen hatte es bis zum letzten Augenblick nicht gefehlt. Und er trauerte ihnen nach. Infolge irgendeiner merkwürdigen Gemütsverfassung war er dazu gekommen, sie als sein Eigentum anzusehen. Und doch war es alles andere eher als eine Lüge, wenn er später dem Staatsanwalt, der eine Frage mit den Worten begann: ›Sie haben alle diese ungeheuren Summen gehabt . . .‹ mit der entrüsteten Gegenfrage antwortete: ›Was habe ich davon gehabt?‹

Das war vollkommen richtig. Er hatte nichts davon gehabt. Nichts von den irdischen Wunderdingen, an die sich die Neigungen genußgieriger Menschen zu heften pflegen. Er hatte keinen verfeinerten Geschmack bewiesen, hatte sich keinen Luxus erlaubt. Hatte sich keine Märchenpaläste gebaut oder herrliche Galerien gegründet, von diesen ›ungeheuren Summen‹. Er hatte nicht einmal ein Heim. Er war in seine Hotelwohnung eingezogen und für immer darin sitzengeblieben. Wahrscheinlich zur vollen Zufriedenheit der Hoteldirektion. Man hatte ihn zweimal in der Miete gesteigert, wohl um die Hochachtung vor dem vornehmen Mieter zu beweisen, wie ich glaube. Für all den Reichtum, der durch seine Finger gegangen war, hatte er sich weder Verehrung noch Liebe gekauft, weder Pracht noch Behaglichkeit. Es lag eine Art von Vollendung in seinem beharrlichen Mittelmaß. Sogar seiner Eitelkeit schien die Genugtuung versagt, Macht entfalten zu können. In den Tagen, da er im hellsten Lichte der Öffentlichkeit stand, hing ihm der Schatten seiner niedrigen Herkunft wie ein dunkles Gewand an. Er hatte Millionen durchgebracht, ohne sich an irgend etwas von dem erfreuen zu können, was in der menschlichen Gesellschaft als kostbar gilt. Denn ihm fehlte zu sehr die Genußkraft, wie die feine Geistigkeit, um es mit all der Gewalt eines erfolgreichen Abenteurers herbeiwünschen zu können.«

»Du scheinst den Mann studiert zu haben«, bemerkte ich.

»Studiert?« wiederholte Marlow nachdenklich. »Nein, nicht studiert. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Du weißt, daß ich ihn nur bei der einen eben genannten Gelegenheit gesehen habe; aber vielleicht ist ein einziger kurzer Blick der beste Weg, um eine Persönlichkeit voll zu erfassen; und das war de Barral, kraft seiner Mängel, denn sie machten ihn zu etwas von jeder vorgefaßten Meinung Grundverschiedenem. Für einen Mann wie mich gab es ja auch wenig Grundlagen, um ein Urteil darauf aufzubauen. In diesem Falle glaube ich aber, daß weniges besser ist als viel. Wenn jemand Sinn für all diese Fragen hat, so bietet oft die geringste Kleinigkeit einen triftigen Anhaltspunkt, und dann kommt man durch eine Reihe logisch gefolgerter Wahrscheinlichkeiten zur Wahrheit – oder doch nahe zur Wahrheit, so nahe, wie es den Umständen nach überhaupt möglich ist. Ich habe de Barral nicht studiert. Doch dies ist das Bild, das ich mir nachher aus den Begleitumständen des Krachs von ihm gemacht habe. Das Heulen und Zähneklappern, die dicken Zeitungsüberschriften ›Der Schwindel mit der Wirtschaftsorganisation. Kreuzverhör des Angeklagten. Extraausgabe‹ –, die nicht verstummen wollten; das salbungsvolle Mitgefühl mit den Opfern, die ernsten Töne der Tagesblätter, die von Erbarmen übergingen, als wären sie das Herz der Nation, all dies hielt durch eine Woche langwieriger Sitzungen an. – Ein Pressemensch, den ich kannte, sagte mir: ›Er ist ein Idiot‹, was recht gut möglich war. Kurz vorher hatte ich jemanden sagen hören, er hätte ein Verbrechergesicht, was, wie ich wußte, nicht zutraf. Das Urteil wurde bei künstlichem Licht verkündigt, in drückender, verbrauchter Luft. Der Richter sprach einige erbauliche Sätze darüber, daß nun den Mann die gerechte Strafe ereile, der in bisher noch nicht dagewesenem Ausmaße die gewissenlosesten Betrügereien verübt hatte. Ich verstehe nicht viel von diesen Sachen, aber es schien, daß er Bücher gefälscht, Bilanzen frisiert und Einlagen angenommen hatte, noch durch Monate nachdem ihm seine völlige Zahlungsunfähigkeit schon bekannt gewesen sein mußte; auch sonst noch einiges vom menschlichen Standpunkte aus höchst Verwerfliche unternommen hatte, was ihm schließlich sieben Jahre Zuchthaus eintrug. Das Urteil wurde draußen günstig aufgenommen. Eine kleine Menschenmenge, hauptsächlich aus Leuten bestehend, die selbst nicht sonderlich gewissenhaft und zimmerrein aussahen, und von richtigen Taschendieben durchsetzt, machte sich den Spaß, mitten in einem ekelhaften, kalten Sprühregen Hochrufe auszubringen. Ich ging zufällig gerade vorbei, auf dem Rückweg von Eastend, wo ich den Tag in den Docks mit einem alten Kameraden verbracht hatte, der die Ausstattung eines neuen Schiffes beaufsichtigte. Ich bin immer vergnügt, wenn es mir möglich ist, ein neues Schiff zu besichtigen. Die sprechen mich an wie entzückende junge Leute.

Ich geriet in die Menge hinein, deren kochende Entrüstung so sinnlos war, wie die Gefühle der Straße es immer sind, und während ich mir einen Weg hinaus bahnte, wurde der Zeitungsmensch, von dem ich vorher sprach, gegen mich gedrängt. Er ließ mir die Gerechtigkeit widerfahren, überrascht zu sein: ›Was, Sie hier? Der letzte Mensch in der Welt . . . Hätte ich das gewußt, dann hätte ich Sie hineinbringen können! Platz genug. Interesse während der letzten drei Tage völlig geschwunden. Sieben Jahre Zuchthaus. Ich bin froh.‹

›Warum froh? – Weil er sieben Jahre bekommen hat?‹ fragte ich und wurde dabei halb erdrückt von einem ungeschlachten Kerl, der einigen seiner nicht minder ungeschliffenen Genossen eben erklärte, daß der Bursche ›mit einem Beil erschlagen gehört hätte‹. Ich weiß nicht, ob er jemals seine Ersparnisse de Barral anvertraut hatte, doch wenn ja, dann könnten sie nur die Frucht eines geglückten Raubüberfalls gewesen sein. Der Zeitungsmann neben mir beantwortete meine Frage mit Nein. Er war froh, weil alles vorüber war. Er hatte sehr unter der Hitze und der schlechten Luft im Gerichtssaal gelitten. Die rauhe, naßkalte Straßenluft schien sich ihm augenblicklich auf die Leber zu schlagen. Er wurde gehässig und gereizt und gebrauchte rücksichtslos seine Ellbogen, um für sich und mich Platz zu schaffen.

Eine langweilige Geschichte. Alle diese Fälle waren langweilig. Keine wahrhaft dramatischen Spannungen. Die Buchführung der ORB und der übrigen Unternehmungen ergab wohl lehrreiche Enthüllungen, aber das Publikum hatte für Enthüllungen dieser Art nichts übrig. ›Langweiliger Tropf, dieser de Barral‹, knurrte er. Er war außerstande, oder wollte sich vielleicht nicht die Mühe nehmen, mir ein Bild des Mannes zu entwerfen, der nun von Gesetzes wegen ein Verbrecher war (wir waren quer über die Straße in eine Bar gegangen), sondern erzählte mir nur in ganz geringschätzigem Ton, daß der Bursche nach der Urteilsverkündigung sich noch an die Anklagebank geklammert habe, um so etwas wie einen Einspruch anzubringen. ›Sie haben mir keine Zeit gegeben! Hätte man mir Zeit gegeben, so hätte ich es sicher zum Pair gebracht, wie einige unter Ihnen!‹ Und dabei habe er sich, zum ersten und letzten Male während all dieser Tage, eine Gebärde gestattet und eine hart geballte Faust über seinen Kopf erhoben.

Der Zeitungsmann mißbilligte diese Kundgebung. Es war nicht sein Geschäft, sie zu verstehen. Ist es übrigens jemals das Geschäft irgendeines Zeitungsmannes gewesen, irgend etwas zu verstehen? Ich denke nicht. Es müßte ihn ja auch zu weit von den Aktualitäten wegführen, die das tägliche Brot der öffentlichen Meinung sind. Ihm schien wahrscheinlich die Gebärde vom malerischen Standpunkt aus recht unbedeutend. Die schwache Stimme, die farblose Persönlichkeit, einer großen Geste unfähig wie ein Bettpfosten, auch noch die Verfettung der geballten Hand selbst, die so übel zum Ort und der Stunde paßte – nein, es war nicht viel wert. Und dann war auch für ihn das Denken ein ausgesprochen schlechtes Geschäft, das sich mit seiner vollendeten Berufsauffassung nicht vertrug. Sein Geschäft war es, einen lesbaren Bericht zu schreiben. Ich aber, der ich nichts zu schreiben hatte, erlaubte mir einiges Nachdenken, während wir vor unseren noch unberührten Gläsern saßen. Und dabei erschloß sich mir eine Erkenntnis, wie sie sich so oft zum Lohn einstellt, wenn man von bloßen Gesichtseindrücken absieht und den Dingen auf den Grund geht. Ich glaubte plötzlich zu begreifen, daß in diesem Mann unter dem Druck der Aufregungen und Ängste der Verhandlung die Einbildungskraft erwacht war. In diesem Mann, dessen Stimmungen, Urteile und Beweggründe so häufig tief geheimnisvoll erschienen waren. Und das war furchtbar. Versuche dir nur das Gefühl eines Menschen vorzustellen, dessen Einbildungskraft in dem Augenblick erwacht, wo er ins Grab steigen soll . . .«

 

»Du mußt nicht glauben,« fuhr Marlow nach einer Pause fort, »daß an jenem Morgen mit Fyne alle diese Erinnerungen in mir lebendig wurden. Durchaus nicht. Ich gab mir durchaus nicht gleich Rechenschaft über alles das, was ich dir nun erzählt habe. Wie hätte das auch sein können, da Fyne im Zimmer mir gegenübersaß? Er saß unbeweglich, statuenhaft nach seiner Art, nachdem er sich der nachdrücklichen Zustimmung entledigt hatte: ›Jawohl. Des Sträflings!‹ Und ich, weit davon entfernt, mich in Erinnerungen zu verlieren, blieb so völlig in der Gegenwart, daß ich mir sogar über die erheblichen Ausmaße und, alles in allem, doch nicht unschöne Form seiner festen Wanderschuhe Gedanken machte; denn er hatte die Beine achtlos übereinander geschlagen, wohl um unter der bequemen Haltung seine Verwirrung zu verbergen.

Wie du weißt, hatte ich es vorgehabt, jenen Tag innig und ruhig zu genießen, dessen strahlende Bläue bestimmt schien, noch auf die harmloseste Beschäftigung ihren Abglanz zu gießen. Zum Gefährten hatte ich mir ein Buch erwählt – unberührt von den Reizen des Tages –, ein richtiges Schönwetterbuch, klar und ehrlich in der Sprache, wie ein selbstloser Freund. Als ich aber den kleinen Fyne so vor mir sitzen sah, merkte ich wohl, daß es mit meiner geplanten Beschaulichkeit nichts werden würde, daß mir vielmehr in der einen oder anderen Weise ein scharfes Training bevorstünde; wahrscheinlich wohl ein Marsch, so fürchtete ich. Diese Vorstellung war für mich mit dem bloßen Anblick Fynes zwangsläufig verbunden. Warum und wieso ein schneller Gewaltmarsch eine brauchbare Lösung für des guten Fyne augenblickliche Sorgen darstellen konnte, war mir zunächst nicht erfindlich; höchstens aus dem Grundsatz, daß der sinnlose Gehsport Fynes Allheilmittel für alle leiblichen und geistigen Übel und Kümmernisse zu sein schien. Es schien für mich ganz nutzlos, irgend etwas zu sagen oder zu tun. Es mußte kommen. Mit einem Blick auf seine muskulösen Beine in Golfstrümpfen, und unter dem starken Eindruck der Mitteilung, die er mir eben gemacht hatte, sagte ich verwundert und eigentlich gedankenlos:

›So hatte de Barral also Weib und Kind! Das Mädchen ist seine Tochter! Und wie . . .

Fyne unterbrach mich, als gälte es etwas schwer Glaubliches zu bekräftigen, durch die neuerliche, nachdrückliche Feststellung, daß seine Frau und er selbst sich bemüht hätten, dem Mädchen in jeder Art freund zu sein – wirklich und wahrhaftig! Das bezweifelte ich natürlich keinen Augenblick, mein Erstaunen aber wuchs noch mehr. In jener Morgenstunde, darfst du nicht vergessen, wußte ich noch nichts von Frau Fynes Berührung (es war ja kaum mehr) mit de Barrals Frau und Kind während ihrer Verbannung in der Priorei, als jenes Mannes Ruf auf seiner Höhe gewesen war.

Fyne, der ja offensichtlich nur zu dem Zweck herübergekommen war, um sich mit mir darüber auszusprechen, gab mir die ersten Andeutungen über diese oberflächlichen Anfänge einer Beziehung. ›Das Mädchen war damals noch ein Kind‹, fuhr er fort. ›Später wurde sie Frau Fynes Bereich entrückt und einer Erzieherin in Obhut gegeben – einer durchaus unzulänglichen Person‹, erklärte er. Seine Frau hatte ihn damals – hm – kennengelernt; und bei ihrer Verheiratung verlor sie das Kind ganz aus den Augen. Nach der Geburt von Polly aber – Polly war das dritte Mädchen der Fynes – konnte sie sich nicht recht erholen, ging für einige Monate nach Brighton, und dort erkannte sie eines Tages das Kind (es trug immer noch die Haare offen über den Rücken herabfallend) auf der Straße, vor einem Laden, und stürzte sich, stürzte sich tatsächlich in Frau Fynes Arme. Geradezu rührend, das. Und darum hatte seine Frau, ohne Rücksicht auf die kalte Unverschämtheit der . . . hm . . . Erzieherin, mit der Erwiderung nicht gezögert.

Hier brach er mit Würde ab. Ich warf die Bemerkung ein, daß das wohl vor dem Krach gewesen sein müsse.

Fyne nickte mit verstärkter Würde, stellte in tiefem Baß fest: ›Unmittelbar zuvor‹, und gefiel sich darauf in einem besonders langen, feierlichen Stillschweigen.

De Barral, hob er plötzlich wieder an, sei damals nicht mehr regelmäßig zum Wochenende nach Brighton gekommen. Er mochte sich wohl des bevorstehenden Unglücks schon bewußt sein. Frau Fyne vermied es, seine Bekanntschaft zu machen, und kam damit den Absichten der Erzieherin entgegen, die sich gegen jeden äußeren Einfluß eifersüchtig wehrte. Es wäre übrigens keinesfalls leicht gewesen. Eine außergewöhnliche Erscheinung, etwas steif in der Haltung, mager, ganz in Schwarz, Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, während er Hand in Hand mit dem Mädchen spazieren ging; scheinbar schüchtern, aber – und hierbei verriet Fyne beinahe etwas wie Scharfblick – wohl mit einem nicht unerheblichen, geheimen Dünkel unter der Schüchternheit. Frau Fyne hatte lange vor der Katastrophe das innigste Mitleid mit Flora de Barrals Geschick. Höchst unglückliche Erziehung. Äußerst ungünstige Umgebung. Das Mädchen wurde auf allen Straßen erkannt, wurde an allen öffentlichen Orten angestarrt, als wäre sie eine Art Prinzessin, wurde aber auch mit merkwürdiger Beharrlichkeit verhindert, irgendwelche Bekanntschaften zu machen, obwohl ja natürlich Leute genug dagewesen wären, die sich – hm – mit größtem Vergnügen dem Fräulein de Barral gefällig erwiesen hätten. Das paßte aber nicht in die Absichten der Gouvernante, einer hinterlistigen Person, die unter dem Deckmantel strengster, vornehmster Abgeschlossenheit finstere Pläne spann. – Dem guten, kleinen Fyne traten vor sittlicher Entrüstung die Augen aus dem Kopfe, als er mir in erregten Worten eröffnete, seine Gattin habe schon zu jener Zeit mehr als bloße Vermutungen über jener Frau . . . Frau . . . Soundso doppelzüngiges Verhalten gehegt. Sie schien nämlich – so versicherte Frau Fyne – alle Vorkehrungen getroffen zu haben, um ihren Zögling mit einem ihrer eigenen, völlig mittellosen Verwandten zu verheiraten, einem jungen Mann mit rastlosen Augen und einer gewissen Unverschämtheit im Benehmen, den das Weib ihren Neffen nannte und den sie alle Augenblicke bei sich zu Besuch hatte.

›Und vielleicht war es nicht ihr Neffe. Überhaupt kein Verwandter!‹ – Es kostete Fyne sichtbare Anstrengung, den letzten, furchtbarsten der Verdachtsgründe auszusprechen, die ihm Frau Fyne, wenn er zum Wochenende sie und die Kinder besuchen kam, stückweise zu entwickeln pflegte. In ihrer gutmütigen Anteilnahme für das unglückliche Kind des Mannes, der mit vollen Händen im Golde zu wühlen schien, brachten die Fynes ihr allwöchentliches Zusammensein mit ernsthaftem Nachdenken darüber hin, wie wohl dieser schauerlichsten aller Verschwörungen zu begegnen sein könnte, und mühten sich, ein taktvolles Verhalten unter diesen außergewöhnlichen Umständen zu ersinnen. Ich sah sie förmlich vor mir, wie sie, einfältig und gewissenhaft, sich um das schutzlose große Mädchen sorgten, während ihre eigenen kleinen Mädchen vor ihnen auf dem Strande spielten. Fyne versicherte mir, daß die große Frage einer Einmischung seiner Frau keine Ruhe mehr gelassen habe.

›Es spricht doch sehr für Frau Fynes Scharfblick, daß sie ein so verzwicktes Spiel durchschauen konnte‹, sagte ich und fragte mich dabei verwundert, wo jetzt wohl der Scharfblick hingekommen sein mochte, da sie sich ja von einem weit einfacheren Spiel hatte überrumpeln lassen, das überdies unmittelbar vor ihren Augen vor sich gegangen war. Damals aber, zu der Zeit, als ihre nächtliche Ruhe von der Sorge um das Schicksal gestört worden war, das de Barrals schutzlosem Kind bevorstand, damals also schrieb sie ja auch noch nicht an einem kurzgefaßten, doch unbarmherzigen Handbuch über die Theorie und Praxis des Lebens, für unverstandene Frauen bestimmt. Bevor die Aufgabe, ihre aufrührerische Lehre zu entwickeln, ihre Geistesschärfe abgestumpft hatte, war sie noch imstande, Dinge zu begreifen, die – so nehme ich an – ziemlich offensichtlich waren. Denn ich neige zu dem Glauben, daß die Frau, der der Zufall die Leitung von Fräulein de Barrals Schicksal in die Hand gelegt hatte, sich keine allzu große Mühe gab, ihr Spiel zu verbergen. Sie war sich bewußt, völlig Herrin der Sachlage zu sein, da sie ein für allemal ihr Übergewicht über de Barral sichergestellt hatte. Auch waren alle Maßnahmen gegen Beobachtung ihrer Aufführung von außen her getroffen – und ich mußte unwillkürlich lächeln, bei dem Gedanken, wie fürchterlich lästig ihr wohl die ernsthaften, harmlosen Fynes gewesen sein mochten. Wie sie außer sich geraten sein mochte, als das Ehepaar, wie vom Himmel gefallen, in Brighton auftauchte, und wie sie sie gehaßt haben mußte!

Schließlich glaube ich aber doch, daß sie wohl alle ihre Absichten erreicht hätte. Ich kann mir de Barral gut vorstellen, der seit Jahren gewohnt war, allen ihren Wünschen zu entsprechen, und, sei es aus Dünkel oder aus Schüchternheit, oder einfach zufolge seiner phantasielosen Dummheit, außerhalb jeder Gesellschaft geblieben war und außer einigen wenigen Spielbekanntschaften keine anderen hatte. Ich kann mir leicht denken, wie ihn die Aussicht erschreckt haben muß, plötzlich die Sorge um ein heiratsfähiges Mädchen auf dem Halse zu haben, was ja einen völligen Bruch mit seinen bisherigen Gewohnheiten und die Notwendigkeit bedeutet hätte, ein ganz anderes Leben zu führen, dem er schon von Beginn an ratlos gegenübergestanden wäre. Es steht für mich felsenfest, daß die Frau Soundso mit ihrer Gemeinheit mühelos recht behalten hätte, sogar wenn es den ausgezeichneten Fynes möglich gewesen wäre, irgend etwas zu tun. Sie hätte de Barral ganz einfach möglichst hochnäsig abgekanzelt. Es gibt nichts Unterwürfigeres als einen dünkelhaften Mann, wenn sein Dünkel erst einmal an irgendeinem Punkte durchbrochen worden ist.

So oder so, niemand sollte mehr Zeit oder Gelegenheit finden, irgend etwas zu tun. Die ganze Sachlage ging in dem finanziellen Zusammenbruch unter, wie ein Gebäude in einem Erdbeben – in einem Augenblick noch hier, und im nächsten verschwunden, mit nur einem unheimlichen, kurzen Knistern dazwischen. Nun, vielleicht ist es eine Übertreibung, zu sagen: in einem Augenblick; doch ist es eine einwandfreie Tatsache, daß alles in vierundzwanzig Stunden vorbei war. Fyne konnte mir alle Einzelheiten darüber erzählen; und vielleicht wird dem Ereignis am besten der Satz gerecht: eine plötzliche und völlige Enterbung. Ich verstehe nicht viel von den Sachen, aber nach Fynes Darstellung schien es, als ob die Gläubiger, oder Einleger, oder die zuständigen Behörden in einem Umsehen Hand auf alles gelegt hätten, was de Barral in der Welt besaß, bis hinunter auf seine Uhr mit Kette, das Geld in seinen Hosentaschen, seine übrigen Anzüge und auch wohl bis auf die Kameenadel in seiner schwarzen Satinkrawatte. Auf alles. Ich glaube, er gab sogar den Trauring seiner verstorbenen Frau hin. Die düstere Priorei mit ihrem feuchten Park und ein paar Pachtgütern war auf Frau de Barrals Namen geschrieben gewesen. Als die Frau aber ohne Testament gestorben, war das Gut wohl wieder an ihn zurückgefallen, denke ich mir. So wurde es natürlich beschlagnahmt, aber es war nur ein Sandkorn in der Sahara, ein Tropfen im Meer. Ich glaube nicht, daß irgendein lebender Mensch in der Welt die Genugtuung hatte, auch nur einen viertel Schilling aus dem Landbesitz herausgezahlt zu bekommen. Dann gab es, noch geringer als Sandkörner, noch geringer als Tropfen, einiges zusammenzuraffen: die Miete für das große Haus in Brighton, die Einrichtung darin, die zweispännige Equipage, das Reitpferd des Mädchens, ihren kostbaren Schmuck, bis hinunter zu dem schwer mit Gold beschlagenen Halsband ihres reinrassigen Bernhardiners. Auch der Hund ging hin – vielleicht als edelstes Stück der kümmerlichen Konkursmasse.

Was aber als Allererstes hinging, oder besser, verschwand, das hatte nichts mit der Konkursmasse zu tun: es war die listige Erzieherin mit ihren falschen Damenmanieren und der Gefühllosigkeit eines Wegelagerers. Wenn eine Frau sich einmal darauf eingelassen hat, es im Verbrechen den Männern gleichzutun, so kommt ihr an Gründlichkeit nicht so leicht etwas gleich.

Es ergab sich aus Fynes Schilderung, daß am Tage vor dem ersten großen Krach der gewisse junge Mann unerwartet in Brighton zum Besuch seiner ›Tante‹ eintraf. Nach außen hin hatte es den Anschein, als ginge alles seinen gewohnten Gang. Der Bursche ritt nachmittags mit dem Mädchen aus, wie er es oft zu tun pflegte – ein Anblick, der seine aufreizende Wirkung auf Frau Fyne nie verfehlte. Fyne selbst war gerade für eine Woche bei seiner Familie zu Besuch und wurde ans Fenster gerufen, um das stetig wachsende Ärgernis mit Augen zu sehen und die Gefühle seiner Frau zu teilen. Sie hatten nicht einmal einen Reitburschen bei sich. Und als Frau Fyne so das unglückliche Mädchen ohne jede Ahnung der Gefahr, in der sie schwebte, lächelnd vorbeireiten sah, da schwoll ihr Kummer in einem Maße an, daß ihr Gatte ernstlich zu erwägen begann, ob sie nicht verpflichtet wären, um jeden Preis einzuschreiten – einfach indem sie einen Brief an de Barral schrieben. Er sagte seiner Frau mit einer Feierlichkeit, die ich mir leicht vorstellen kann: ›Du solltest dich dieser Aufgabe unterziehen, meine Liebe. Schließlich hast du doch seine Frau gekannt. Das will immerhin etwas sagen.‹ Andererseits quälte ihn die Befürchtung, Frau Fyne irgendeiner scharfen Zurückweisung auszusetzen. Frau Fyne selbst zeigte sich kleinmütig. Ein Erfolg schien undenkbar. Da war nun also dieses Weib, das seit mehr als fünf Jahren das Kind in Obhut hatte und sich offenbar des völligen Vertrauens des Vaters erfreute. Was ließ sich da wohl vorbringen, mit Aussicht auf eine Wirkung . . . ohne Beweise, ohne . . . Dieser Herr de Barral, erklärte Frau Fyne, mußte entweder unglaublich töricht oder grundschlecht sein, um sein Kind so vernachlässigen zu können.

Du wirst bemerken, daß den Fynes – wohl weil er dieses unser irdisches Leben so wichtig nahm und sie ein natürliches Bedürfnis nach Verantwortung hatte – die einfachste Lösung der Schwierigkeit gar nicht in den Sinn gekommen war, nämlich: gar nichts zu tun und der Sache, als nicht sie betreffend, ihren Lauf zu lassen. Was ja vom rein weltlichen Gesichtspunkt aus das einzig Richtige gewesen wäre. Sie brachten aber, so erzählte mir Fyne, einen stürmischen Nachmittag mit der Erörterung der Mittel und Wege hin, wie der Gefahr, die über des armen Mädchens Kopf hing, zu begegnen sein konnte, während eben dieses Mädchen mit dem ganz verworfenen jungen Lumpen ausgeritten war (und wahrscheinlich seinen Spaß dabei hatte).«

 


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