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Wir waren aufgestanden, und ich hatte mich mit Herrn Powell ans Fenster zurückgezogen, wo sich nun Marlow, ernst und bedächtig wie immer, zu uns gesellte.
»Wie war gleich der Name?« fragte er. Herr Powell begriff erst nach einer Weile.
»Ach, Sie meinen die Ferndale. Ein Liverpool-Schiff, Holz und Eisen.«
»Ferndale,« wiederholte Marlow nachdenklich, »Ferndale.«
»Kennen Sie sie?«
»Unser Freund«, sagte ich, »kennt so ziemlich jedes Schiff. Scheint sich während seiner Zeit auf See recht gründlich umgetan zu haben.«
Marlow lächelte.
»Ich habe sie gesehen, einmal zumindest.«
»Der feinste Kahn, der je von Stapel lief«, begeisterte sich Herr Powell. »Ohne Ausnahme.«
»Sie sah fest und wohnlich aus,« bestätigte Marlow, »außergewöhnlich bequem, aber nicht schnell.«
»Sie war schnell genug für jeden vernünftigen Menschen, während ich darauf war wenigstens«, knurrte Herr Powell, der uns den Rücken zugekehrt hatte.
»Das ist jedes Schiff für einen vernünftigen Menschen«, beruhigte Marlow. »Ein Matrose ist kein Weltenbummler.«
»Nein«, murmelte Herr Powell.
»Zeit ist ihm Nebensache«, kam ihm Marlow entgegen.
»Das kann man wohl sagen«, gab Powell zu. »Aber eine schnelle Überfahrt ist doch ein Stolz.«
»Das ist wahr, aber doch mehr für den Kapitän! Übrigens, wie hieß er doch?«
»Der Kapitän der Ferndale? Anthony, Kapitän Anthony!«
»Jawohl, ganz richtig«, stimmte Marlow nachdenklich bei. Unser neuer Bekannter sah über die Schulter zurück.
»Was wollen Sie damit sagen? Warum ist es so richtiger, als hätte er Brown geheißen?«
»Er kannte ihn wahrscheinlich«, sagte ich erklärend. »Herr Marlow scheint so ziemlich jede Seele zu kennen, die jemals in einem Seemannsleib wohnte.«
Herr Powell schien sehr empfänglich für jede Anregung, denn nun sah er wieder zum Fenster hinaus und brummte dabei:
»Er war eine gute Seele.«
Dies bezog sich offensichtlich auf Kapitän Anthony von der Ferndale.
Marlow wandte sich an mich:
»Ich habe ihn nicht gekannt, wirklich nicht. Er war eine gute Seele? Das ist doch nichts so Ungewöhnliches, oder? Und ich wußte nicht einmal das von ihm. Alles, was ich von ihm weiß, ist ein Zwischenfall, mit Namen Fyne.«
Daraufhin fuhr Herr Powell herum, der scheinbar auch heftig werden konnte, und füllte den Fensterrahmen mit seinem breiten Rücken.
»Was wollen Sie nur damit sagen? Ein Zwischenfall – mit Namen – Fyne«, wiederholte er und setzte nach jedem Wort mit Nachdruck ab.
Marlow verzog keine Miene. –
»Ich meine nicht Zwischenfall im Sinne von Unfall. Durchaus nicht. – Fyne war ein guter, kleiner Kerl im Staatsdienst. – Unter einem Zwischenfall verstehe ich etwas, das unvorhergesehen und ohne erdenklichen Zweck geschieht. Auf diese Weise gerät meistens ein Schwager in das Leben eines Mannes.«
Da Marlows Ton entschuldigend klang und da sich unser Freund wieder zum Fenster gewandt hatte, nahm ich es auf mich, zu sagen: »Du bist gerechtfertigt. Es ist sehr wenig Vorbedacht in den meisten Ehen; aber sie sind deswegen auch nicht schlimmer. Die Berechnung führt den Menschen oft ebenso in die Irre wie die Leidenschaft. Ich weiß, daß du kein Zyniker bist.«
Marlow lächelte sein nachdenkliches Lächeln, das so freundlich war, als könne er keine Bitterkeit gegen Menschen aufbringen, die er einst gekannt.
»Die Ehe des kleinen Fyne schien recht glücklich. Es war keinerlei Berechnung dabei. Fyne, müssen Sie wissen, war ein leidenschaftlicher Freund des Fußwanderns. Er verbrachte all seine Freizeit damit, unsere Heimat kreuz und quer zu durchziehen. Seine Neigungen waren recht einfach. Er brachte unendlich viel Überzeugung und Ausdauer für seine Ferientage mit. Zur rechten Jahreszeit konnte man stets Fyne in den Feldern treffen, mit Richtung auf irgendeinen Kirchturm; ein kräftig gebauter kleiner Mann mit ernstem Gesicht, einen schäbigen Rucksack aufgeschnallt. Er hatte einen wahren Abscheu vor Landstraßen und schrieb einst ein kleines Bändchen, ›Des Wanderers Handbuch‹ genannt; seither galt er als Sachverständiger für die Fußwege Englands. So kam er eines Tages in seiner bekannten Art, als Hinterwäldler und Einzelgänger, in ein hübsches Surreydorf, wo ihm Miß Anthony begegnete. Reiner Zufall, wie Sie sehen. Ihre Herzen fanden sich, wahrscheinlich über irgendeinen Wiesenzaun weg. Der kleine Fyne hatte sehr ausgeprägte Ansichten über die Bestimmung der Frau in dieser Welt, über das Wesen unserer irdischen Liebe, über die Verpflichtungen, die dieses vergängliche Leben mit sich bringt, und so fort. Er wird sie seiner zukünftigen Frau wohl dargelegt haben. Fräulein Anthonys Lebensanschauungen standen gleichfalls felsenfest, waren aber anderer Art. Die Geschichte ihrer Liebe kenne ich nicht. Ich nehme an, sie spielte sich heimlich ab, doch ganz gewiß in ernster Würde, hinter Hecken oder Waldbüschen . . .«
»Warum heimlich?« unterbrach ich ihn.
»Wegen des Vaters der Dame. Der war ein wilder Gefühlsmensch, der wiederum seine eigenen, sehr bestimmten Ansichten über seine Vaterrechte hegte. Er war ein Tyrann; daß aber Fyne überhaupt Einbildungskraft besaß, zeigte sich in seinem Stolze auf die Verwandtschaft seiner Frau. Sie reizte seinen Scharfsinn. Es ist schwer – nicht wahr? –, den Mädchennamen seiner Frau in einem allgemeinen Gespräch anzubringen. Aber mein prächtiger Fyne brachte es mit Hilfe des Kapitäns Anthony fertig, sonst hätte ich nichts von der Existenz dieses Mannes gewußt. ›Der Bruder meiner Frau, der Seemann‹, hieß es da. Er führte diesen Seemannsbruder bei den verschiedensten Anlässen ins Treffen: bei indischen und Kolonialangelegenheiten, bei Verkehrsfragen, Reisegesprächen, in Verbindung mit Seebädern und anderem. Ich kann mich sogar erinnern, wie der ›Bruder meiner Frau, Kapitän Anthony,‹ sogar bei einem Sonnenuntergang herhalten mußte. Auch vergaß Fyne nie hinzuzusetzen: ›Der Sohn von Carleon Anthony, dem Dichter, Sie wissen ja.‹ Er pflegte für diese Feststellung die Stimme etwas zu dämpfen, und die Leute fühlten Ehrfurcht, oder taten doch so.
Der selige Carleon Anthony, der Dichter, besang sein Leben lang die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Annehmlichkeiten unseres Zeitalters, in überaus abgerundeten Versen; seine Absicht ging, wie er selbst sagte, dahin, das Ergebnis einer sechstausendjährigen Entwicklung, im Hinblick auf Verfeinerung der Gedanken, Manieren und Gefühle zu verherrlichen. Warum er diese Zeitspanne gerade auf sechstausend Jahre festlegte, weiß ich nicht. Seine Gedichte lasen sich wie sentimentale Romane, in wirklich gute Verse gebracht. Man kam sich vor, als führe man an einem Sommertage mit einer entzückenden Dame im Ponywagen über Land. Aber in seinem häuslichen Leben wies Carleon Anthony Anklänge an das urwüchsige Temperament des Höhlenmenschen auf. Er war ein grober, unverträglicher Mensch mit einem nicht unschönen Gesicht, herrisch und anspruchsvoll gegen seine Angehörigen, aber unglaublich süß und geschmeidig vor fremden Bewunderern. Dieses grundverschiedene Benehmen muß für seine schwergeprüfte Familie besonders aufreizend gewesen sein. Nach dem Tode seiner zweiten Frau brannte sein Sohn, den er aus bloßer Laune zu Hause erzog, in üblicher Weise durch, warf sich, wie angeekelt von den Freuden der Zivilisation, sozusagen ins Meer. Die Tochter (das ältere der beiden Kinder) hielt es aus Mitleid, oder weil Frauen im allgemeinen sehr viel mehr erdulden können, noch etliche Jahre bei dem Dichter aus, bis auch sie eine Gelegenheit zur Flucht ergriff und sich Fyne, dem Fußwanderer, in die starken Arme warf. Dabei bewies sie entweder großes Glück oder großen Scharfblick. Ein Staatsbeamter, so sollte ich meinen, ist das letzte aller Wesen, das etwa die Charakterzüge des Höhlenmenschen aufweisen könnte, vor denen sie eben floh. Ihr Vater weigerte sich, sie nach ihrer Hochzeit jemals wieder zu sehen. Eine so unversöhnliche Selbstsucht ist schwer zu erklären, außer als eine perverse Art von Überfeinerung. Übrigens bestanden geraume Zeit vor seinem Tode lebhafte Zweifel an Carleon Anthonys geistiger Gesundheit.«
Das meiste von dem Vorhergehenden erfuhr ich durch Marlow, denn ich kannte Carleon Anthony nur aus seinen wenig aufregenden, aber formvollendeten Gedichten. Marlow versicherte mir, daß Fynes Ehe eine erfolgreiche, sogar glückliche gewesen sei, ohne alles spielerische Beiwerk, doch mit drei gesunden, tüchtigen, lebhaften Kindern gesegnet, lauter Mädchen. Auch sie waren alle Wandervögel. Sogar die Jüngste pflegte stundenweit fortzulaufen, wenn man sie nicht hinderte. Frau Fyne hatte gesunde Freiluftfarbe und trug Blusen mit gestärkter Brust, wie Herrenhemden, mit Stehkragen und langer Krawatte. Marlow hatte sie eines Sommers auf dem Lande kennengelernt, wo sie für die Ferien ein Häuschen zu mieten pflegten.
Hier wurden wir von Herrn Powell mit der Erklärung unterbrochen, er müsse uns verlassen. Die Ebbe sei im Anzug, kündigte er kurz an, während er vom Fenster wegtrat. Er wollte an Bord seines Kutters sein, bevor er schwoite, und natürlich an Bord schlafen. Das halte er unterwegs immer so. Dann war er mit einmal draußen, ohne großen Abschied, aber auch nicht unhöflich, und hinterließ in uns den Eindruck, als hätten wir ihn schon lange Zeit gekannt. Die ansprechende Art, in der er uns vom Beginn seiner Laufbahn erzählt, hatte dazu beigetragen. Ich dachte nicht daran, daß wir ihn wiedersehen würden. Marlow aber äußerte die Zuversicht, ihm bald wieder zu begegnen.
»Er kreuzt den ganzen Sommer über an der Flußmündung und wird an jedem Wochenende leicht aufzufinden sein«, sagte er und läutete nach der Rechnung.
Später fragte ich Marlow, warum er diese Zufallsbekanntschaft aufrechterhalten wolle. Er mußte zugeben, daß es aus reiner Neugierde geschehe. Ich bilde mir ein, die verschiedensten Arten von Neugierde zu verstehen: Neugierde betreffs alltäglicher Vorfälle, Tagesneuigkeiten und alltäglicher Menschen. Es scheint mir die achtenswerteste Fähigkeit menschlichen Geistes. Ich wüßte tatsächlich nicht, wozu eine nicht neugierige Sinnesart gut sein sollte. Sie käme mir vor wie ein ewig verschlossenes Zimmer. In diesem besonderen Falle aber schien uns Powell ja schon völligen Einblick in seinen inneren Menschen gewährt zu haben, der Beobachtungsgabe und Gefühl für die Launen des Zufalls, aber auch eine gewisse Einfalt als Grundzug aufwies.
Marlow stimmte mir darin vollkommen bei. Aber er erklärte mir, daß sich seine Neugierde nicht ausschließlich auf Herrn Powell beschränkte. Sie reichte ziemlich viel weiter zurück, bis zu den Fynes und seiner Sommerbekanntschaft mit ihnen. Diese war durch das heutige Zusammentreffen mit einem Manne neu belebt worden, der unter Kapitän Anthony gedient hatte. Das hatte wohl auch seinen Grund, wenn keinen andern, so den einen, mich selbst mit alledem bekanntzumachen. Das geschah allmählich, in Abständen, die hier nichts zur Sache tun. Bei dieser Gelegenheit hielt ich, etwas überrascht, Marlow nur entgegen:
»Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du gesagt, du habest Kapitän Anthony nicht gekannt?«
»Nein, ich habe ihn nie gesehen. Es sind Jahre seither vergangen, aber ich meine heute noch zu hören, wie der kleine Fyne mir mit feierlicher Grabesstimme den bevorstehenden Besuch des Bruders seiner Frau ankündigte. ›Der Sohn des Dichters, Sie wissen ja‹. Er war eben von weiter Fahrt in London eingelangt und sollte nun, sobald es seine Geschäfte erlaubten, herkommen, um einige Wochen bei seinen Verwandten zu verbringen. ›Ohne Zweifel würden wir beide uns über unseren gemeinsamen Beruf manches zu sagen haben‹, fügte der kleine Fyne mit tiefernstem Unterton hinzu, als wäre die Handelsmarine ein Geheimbund.
Du mußt verstehen, daß ich mit den Fynes nur während des Sommeraufenthaltes auf dem Lande verkehrte. Dies war das dritte Jahr. Von ihrem Leben in der Stadt wußte ich nicht mehr, als was sich durch Rückschlüsse folgern ließ. Ich spielte am Spätnachmittag Schach mit Fyne und ging manchmal früh genug hinüber, um mit der ganzen Familie an einem großen runden Tisch Tee zu trinken. Sie saßen um ihn herum, sachlich, sonnverbrannt und sehr wortkarg. Sogar die Kinder schwiegen und trugen untereinander und den Eltern gegenüber eine Art Geringschätzung zur Schau. Fyne brummte manchmal in tiefernstem Brustton irgendeine nebensächliche Bemerkung. Frau Fyne lächelte gedankenlos (sie hatte herrliche Zähne), während sie Tee, Brot und Butter austeilte. Irgendetwas, es war weder Kälte noch Teilnahmslosigkeit, nur eine merkwürdig ausgeprägte Selbstbeherrschung, ließ sie wie eine sehr verläßliche, sehr fähige und ganz ausgezeichnete Erzieherin wirken. Als wäre Fyne ein Witwer und die Kinder nicht die ihrigen, sondern nur ihrer ruhigen, bestimmten Obhut anvertraut gewesen. Man wartete darauf, daß sie Fyne mit ›Herr‹ ansprechen würde. Wenn sie ihn ›John‹ nannte, klang es wie eine unpassende Vertraulichkeit. Die Atmosphäre während der Sommerferien war, wenn ich so sagen darf, strahlend langweilig. Gesunde Gesichter, blonde Haare, helle Augen, und nie ein offenes Lachen in der ganzen Gesellschaft, außer vielleicht von einem der jungen Mädchen, die zu Gast waren.
Das Problem dieser jungen Freundinnen beschäftigte mich lebhaft. Wieso und von woher sich die Fynes alle diese hübschen Dinger holten, die sie ständig im Hause hatten, kann ich mir nicht vorstellen. Ich hatte erst den wilden Verdacht, daß sie zu Fynes Zerstreuung dienen sollten. Aber ich entdeckte bald, daß er kaum eine von der andern unterscheiden konnte, obwohl ihre Anwesenheit offenbar seiner feierlichen Zustimmung begegnete. Diese Mädchen waren in der Tat für Frau Fyne da. Sie kamen ihr mit bewundernder Ehrfurcht entgegen, schienen ein Bedürfnis nach ihrer Nähe zu haben. Sie saßen zu ihren Füßen, benahmen sich wie Schülerinnen. Es war ganz eigen. Von Fyne nahmen sie kaum Notiz. Was mich anbetrifft, so ließ man mich merken, daß ich überhaupt nicht vorhanden war.
Nach dem Tee setzten wir uns zum Schachspiel, und dabei wurde Fynes unzerstörbarer Ernst gelegentlich von etwas wie einem Schimmer leiser Genugtuung überglänzt. Die göttliche Sorglosigkeit eines Lachens war ihm nur über dem Schachbrett gegeben. Gewisse Stellungen im Spiel konnten ihm witzig erscheinen, was ihm sonst mit nichts auf Erden geschah . . .«
»Er hat dich wohl gewöhnlich geschlagen«, bemerkte ich zuversichtlich.
»Ja, er hat mich meistens geschlagen«, gab Marlow rasch zu.
So pflegten also er und Fyne nach dem Tee zwei Partien zu spielen. Die Kinder spielten draußen, ernsthaft und unkindlich, wie man es von Fynes Kindern nicht anders erwarten konnte, während Frau Fyne sich mit dem jungen Mädchen, das jeweils Wochengast war, zurückzog. Sie ging immer sofort nach dem Tee hinaus, den Arm um das Mädchen geschlungen. Marlow sagte, unter all den vielen sei nur ein einziges Mädel gewesen, mit dem er jemals ein Wort gewechselt habe. Das sei ganz unerwartet gekommen, als er schon längst alle Hoffnung aufgegeben hatte, mit einem dieser verschlossenen Geschöpfe Fühlung zu gewinnen.
Eines Tages sah er eine Frau am oberen Rande eines tiefen Steinbruchs auf und ab gehen, gut dreißig Meter über der Straße, die den Hügel hinaufführte. Er rief sie warnend von unten her an, wo er zufällig vorbeiging. Sie war wirklich in ziemlicher Gefahr. Beim Klang seiner Stimme fuhr sie zurück und entschwand ihm zwischen einigen jungen Fichten, die am Rande des Abgrunds wuchsen, aus den Augen.
»Ich ließ mich auf einem Grashang nieder«, fuhr Marlow fort. »Sie hatte mir einen richtigen Schrecken eingejagt. Ihr Rocksaum hatte über die Steilwand hinausgeweht, so hart am Rande war sie gestanden. Ganz töricht – ein unbegreiflicher Leichtsinn – ohne ersichtlichen Grund! Ich dachte über die Vermessenheit so vieler Mädchen nach und rief mir andere Erfahrungen dieser Art ins Gedächtnis. Da tauchte sie an einer Biegung des steilen Weges wieder auf. Sie trug Frau Fynes Spazierstock und wurde von dem Hunde der Fynes begleitet. Ihr leichenblasses Gesicht bestürzte mich so sehr, daß ich meinen Hut zu ziehen vergaß. Ich saß einfach da und starrte sie an. Der Hund, ein lebhaftes und zutrauliches Tier, das aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen mich mit seiner Freundschaft beehrt hatte, raste den Hang mit Freudengebell herauf und kuschelte sich unter meinen Arm.
Das Mädchen, sie war eben bei Fynes zu Besuch, ging zunächst vorbei, als hätte sie mich nicht gesehen, blieb dann aber stehen und rief den Hund wiederholt zu sich; doch der drückte sich nur fester an meine Seite, und als ich versuchte, ihn wegzuschieben, entwickelte er jene merkwürdige Kraft inneren Widerstandes, durch den sich ein Hund buchstäblich gegen alles wehren kann, außer gegen einen Fußstoß. Sie blickte über die Schulter zurück und runzelte die gewölbten Augenbrauen in ihrem blassen Gesicht. Es sah fast wie eine Drohung aus. Dann veränderte sich ihr Ausdruck. Sie schien unglücklich. ›Komm her!‹ rief sie nochmals, ärgerlich und bekümmert. Ich nahm endlich den Hut ab, der Hund aber ließ seine Zunge heraushängen, mit jenem unbekümmert törichten Ausdruck, den Hunde so glänzend anzunehmen wissen, wenn es ihnen paßt, und tat, als hörte er nichts.
Sie rief aus der Entfernung verzweifelt herüber: ›Vielleicht nehmen Sie ihn dann mit nach Hause. Ich kann nicht warten!‹
›Ich übernehme keine Verantwortung für den Hund‹, widersprach ich, stand von meinem Sitz auf und ging auf sie zu. Sie sah sehr gekränkt aus, offenbar weil der Hund sie verlassen hatte. ›Aber wenn ich Sie begleiten darf, wird er uns sicher folgen‹, schlug ich vor.
Sie ging weiter, ohne zu antworten. Der Hund sauste plötzlich mit äußerster Geschwindigkeit den Weg hinunter und verschwand in einer kleinen Staubwolke. Später fanden wir ihn neben dem Wege im Grase liegend. Er hechelte im Schatten der Hecke, mit glänzenden Augen, gab aber vor, uns nicht zu sehen. Wir hatten bis dahin noch kein Wort miteinander gewechselt. Das Mädchen zu meiner Seite warf ihm im Vorbeigehen einen bösen Blick zu. ›Er wollte mit‹, sagte sie bitter.
›Und ließ Sie dann im Stich‹, stimmte ich bei. ›Das sieht sehr unritterlich aus, aber es kommt nur von seinem Mangel an Feingefühl. Ich glaube, er wollte seine Mißbilligung für Ihr Wagnis ausdrücken. Warum mußten Sie so nahe an den Rand des Steinbruchs treten? Der Boden hätte nachgeben können! Haben Sie die zerschmetterte Fichte unten im Abgrund nicht gesehen? Die ist erst neulich nach einer regnerischen Nacht abgestürzt.‹
›Ich sehe nicht ein, warum ich nicht so waghalsig sein sollte, wie ich will!‹
Ich war etwas verletzt von der trotzigen Art, in der sie ihre Torheit auch noch zu verteidigen suchte, und sagte ihr, daß es mich schließlich auch nichts anginge – und zwar in einem solchen Tone, als meinte ich, sie könne sich von mir aus gerne den Hals brechen. Dies war entschieden mehr, als ich meinte, aber ich habe eine Abneigung gegen vorlaute Mädchen. Ich war ihr erst am Tage vorher vorgestellt worden, an dem runden Teetisch, und sie hatte die Vorstellung einfach nur zur Kenntnis genommen. Ich hatte ihren Namen nicht verstanden, wohl aber waren mir ihre feinen, gewölbten Augenbrauen aufgefallen, die, wie die Physiognomiker sagen, ein Zeichen von Mut sein sollen.
Ich beobachtete unauffällig ihre Erscheinung. Ihr Haar war fast schwarz, ihre Augen blau, von langen dunklen Wimpern beschattet. Ihre Wangen hatten sich jetzt leicht gerötet. Sie sah gerade vor sich hin, der Mundwinkel nach meiner Seite zu war ein wenig gesenkt, ihr Kinn war fein und leicht zugespitzt. Ich sagte ihr noch, daß man beim Spielen mit der Gefahr die Rücksicht auf andere nicht ganz beiseite lassen sollte. Ich suchte ihr das Entsetzen zumindest der Fynes zu schildern, wenn nun ein Unglück geschehen wäre. Ich sagte ihr, daß sie die ländliche Gemütsart nicht kenne. Hätte sie Anlaß zu einer Leichenbeschau gegeben, dann hätte der Spruch auf Selbstmord gelautet, mit unglücklicher Liebe als wahrscheinlichem Beweggrund. Niemand hätte es verstehen können, daß sie sich einfach aus Spaß an dem Wagestück die Mühe genommen habe, über zwei Plankenzäune zu klettern. In der Tat fiel mir das jetzt, wo ich halb spaßhaft davon sprach, selbst auf.
Sie erwiderte, es sei nebensächlich, was ekelhafte Menschen von einem dächten, wenn man nur einmal tot sei. Das war mit unendlicher Verachtung gesagt. Aber ein leises Zittern in ihrer Stimme bewog mich, sie nochmals anzusehen. Da sah ich Tränen an ihren starken Wimpern. Und du kannst mir glauben, daß diese überraschende Entdeckung mich zum Schweigen brachte. Sie sah tiefunglücklich aus und – wie soll ich mich ausdrücken – nun, es paßte gut zu ihr. Die finsteren Brauen, der schmerzliche Mund, der leere, starre Blick! Ein Opfer! – Und diese Einzelheiten machten sie anziehend, gaben ihr eine persönliche Note, verstehst du?
Der Hund war uns vorangelaufen, sah uns nun vom Gartentor der Fynes gespannt entgegen und wedelte dazu ganz, ganz langsam mit seinem Stummelschwanz. Das Mädchen hastete durch die Zauntüre und in das Haus hinein und ließ mich höchst verdutzt auf dem Wege draußen stehen.
Einige Stunden später kehrte ich zu dem gewohnten Schach in die Villa zurück. Dabei bekam ich weder das Mädchen noch Frau Fyne zu Gesicht. Wir spielten unsere zwei Partien, und beim Abschied teilte ich Fyne mit, daß ich geschäftlich in die Stadt müsse und vielleicht einige Zeit fortbleiben würde. Er bedauerte es lebhaft. Sein Schwager wurde für den nächsten Tag erwartet, aber er wußte nicht, ob er Schach spiele. Kapitän Anthony (der Sohn des Dichters, Sie wissen ja) sei ein verschlossener Mensch, scheu gegen Fremde, jeder Geselligkeit ungewohnt und seinem Berufe leidenschaftlich ergeben, erklärte Fyne. Während all der Jahre ihrer Ehe habe er sich nur ein einziges Mal dazu bewegen lassen, einige Tage mit ihnen zu verbringen. Er habe eine ziemlich unglückliche Jugend hinter sich. Und das habe ihn zum schweigsamen Mann gemacht. Doch ohne Zweifel, schloß Fyne, als rühre er an ein schweres Geheimnis, würden wir zwei Seeleute einander viel zu sagen haben.
Das konnte niemals festgestellt werden. Ich wurde von Woche zu Woche in der Stadt festgehalten, bis es kaum mehr der Mühe wert schien, zurückzukehren. Da ich aber meine Zimmer in dem Bauernhause beibehalten hatte, beschloß ich, noch für einige Tage hinauszufahren.
Es war spät und fast dunkel, als ich an unserer kleinen Station den Zug verließ. Das erste, was ich sah, war der unverkennbare breite Rücken und die muskulösen Beine des kleinen Fyne in Kniestrümpfen. Er eilte den ganzen Zug entlang, der alsbald abdampfte und ihn allein am Ende des Bahnsteigs zurückließ. Als er in meine Nähe kam, bemerkte ich, daß er sehr verwirrt schien, so verwirrt, daß er die übliche Begrüßung vergaß. Er rief nur ›Oh!‹ als er mich erkannte, und blieb unentschlossen stehen. Als ich mich erkundigte, ob er jemand mit diesem Zuge erwartet habe, schien er es nicht zu wissen. Er stammelte zusammenhanglose Worte. Ich blickte ihn scharf an. Soviel sich beurteilen ließ, war er vollkommen nüchtern. Außerdem war es gänzlich unsinnig, Fyne auch nur die geringste Ausschweifung zuzutrauen. Auch war er zu ernsthaft und nüchtern, um etwa plötzlich verrückt werden zu können. Da er aber vergessen zu haben schien, daß er eine Zunge im Munde hatte, so beschloß ich, ihn seiner Geheimnistuerei zu überlassen. Zu meiner Überraschung folgte er mir aber durch den Bahnhof auf die Straße hinaus und blieb an meiner Seite, obwohl ich ihn nicht dazu aufgefordert hatte. Doch wies ich seine Versuche zur Anknüpfung eines Gesprächs auch nicht zurück. Er hätte gar nicht mehr mit meiner Rückkehr gerechnet, sagte er. Habe mich aufgegeben. Das Wetter sei durchweg schön gewesen – und so fort. Ich entnahm seinen Worten ferner noch, daß der Sohn des Dichters seinen Besuch etwas abgekürzt habe und tags zuvor zu seinem Schiffe zurückgekehrt sei. Ich äußerte kein Bedauern darüber, daß ich Kapitän Anthony verfehlt hatte, und wir gingen schweigend weiter, bis Fyne in der Nähe seines Hauses plötzlich erklärte, er wolle noch ein Stück mit mir weitergehen.
›Ich werde Sie bis zu Ihrer Türe begleiten‹, brummte er und ging auf die Gartentüre zu, wo die offenbar wartende Frau Fyne in Umrissen zu erkennen war. Sie war allein. Die Kinder mußten wohl schon zu Bett gegangen sein, und es fehlte der Schatten eines jungen Mädchens neben ihr.
Ich hörte, wie ihr Fyne ein ›Nichts!‹ zurief und wie sie mit ihrer wohlgesetzten, ruhigen Stimme gleichmäßig betont zurückgab: ›Es ist, wie ich dir sagte!‹ Unterdessen war ich nach stummem Gruß weitergegangen. Doch Fyne holte mich fast augenblicklich ein und paßte sich meinem langsamen Schlenderschritte an, was ihm bei seinem hochentwickelten Gehstil recht schwer gefallen sein muß. Ich bin überzeugt, daß sein ganzer, muskulöser Körper unter einer unglaublichen physischen Langeweile zu leiden hatte; aber er machte auch nicht den leisesten Versuch, ihr durch eine Unterhaltung abzuhelfen. Er hüllte sich in ein düsteres Schweigen. Und das langweilte mich auch. Plötzlich sah ich eine noch viel ärgere Langeweile voraus. Gewiß! Er war deshalb so schweigsam, weil er mir etwas zu sagen hatte.
Ich bekam einen ungeheuren Schrecken. Aber der Mann, dieses achtlose Tier, ist so beschaffen, daß in ihm die Neugierde, die niedrigste Neugierde, jedes Entsetzen überwiegt, jeden Abscheu und sogar die Verzweiflung. Meine gleichmütige Aufforderung, mit hereinzukommen und ein Glas zu trinken, beantwortete er mit einem tiefen, tragisch betonten ›Danke, ich will es‹, als spräche er vor dem Altar. Der Ausdruck seines Gesichtes, soviel ich davon beim Lampenlicht sehen konnte, gab mir keinen Aufschluß über die Art der bevorstehenden Mitteilung; wie es ja auch ganz natürlich war, da er sich für gewöhnlich schon so tiefernst zeigte. Er wirkte immer förmlich und unbeweglich und hätte das ganz gewiß auch getan, wenn er mir etwas ganz unglaublich Komisches mitzuteilen gehabt hätte.
Er blickte mich ernsthaft an und entledigte sich einiger gewichtiger Bemerkungen darüber, daß Frau Fyne die Neigung hege, sich mit jungen Mädchen jedes Standes anzufreunden und ihnen Rat und Geleit zu geben auf den Pfaden des Lebens. Es war eine freiwillige Mission. Er billigte dieses Tun seiner Gattin und desgleichen ihre Ansichten und Grundsätze überhaupt.
All dies mit undurchdringlichem Gesichte und tiefer, abgemessener Stimme. Trotzdem drängte sich mir die Überzeugung auf, daß er über irgendein besonderes Geschehnis außer sich war. In der bösen Hoffnung, mich an dem Unglück eines Mitmenschen erfreuen zu können, fragte ich ihn geradeswegs, was denn eigentlich passiert sei.
Nun, es war passiert, daß eine junge Freundin vermißt wurde, und zwar seit genau sechs Uhr an jenem Morgen. Die Bedienerin, die die Hausarbeit tat, hatte sie zu der genannten Stunde zu einem Spaziergang das Haus verlassen sehen. Der Begriff ›Spaziergang‹ war im Hause der Fynes, der Wandersportler, nicht eben eng. Aber das Mädchen war weder zum Mittagessen, noch zum Tee, noch zum Nachtmahl heimgekehrt. Weder zu Fuß, noch im Wagen oder mit der Bahn. Er hatte sich nicht entschließen können, Erkundigungen einzuziehen, um nicht den Dorfklatsch zu entfesseln. Die Fynes hatten sie jeden Augenblick zurückerwartet, bis die Schatten der Nacht und das Schweigen des Schlafes sich allmählich über die friedliche Landschaft gesenkt hatten, die sich rings um die Villa dehnte.
Nach dieser Eröffnung saß Fyne in quälenden Zweifeln da. Schlafengehen kam ja nicht in Frage – und doch konnte augenblicklich auch nichts weiter unternommen werden. Was er mit sich selbst anfangen sollte, wußte er auch nicht.
Ich fragte ihn, ob dies dasselbe junge Mädchen sei, das ich kurz vor meiner Abreise in die Stadt gesehen hätte. Er konnte sich nicht erinnern. ›Hatte sie dunkles Haar und blaue Augen?‹ fragte ich weiter. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, welche Farbe ihre Augen hatten. Seine Beobachtungsgabe beschränkte sich ausschließlich auf Fußwege, in denen er allerdings Sachverständiger war.
Ich bedachte mit Staunen, daß Frau Fynes junge Anhängerinnen für ihren Gatten nicht mehr bedeuteten als gleitende Schatten. Nach kurzem Zögern vermochte Fyne aber doch zu bestätigen, ja . . . daß ihr Haar von einer dunklen Tönung gewesen sei.
›Dieses Mädchen hat uns von Anfang bis zuletzt viel zu schaffen gemacht‹, erörterte er feierlich. Dann sprang er auf, wie von einer Feder hochgeschnellt, und griff nach seiner Mütze. ›Vielleicht ist sie nach Hause gekommen‹, rief er mit seiner Baßstimme. Ich folgte ihm auf die Straße hinaus.
Es war eine der tauigen, sternenhellen Nächte, die unseren Geist bedrücken, unseren Stolz niederzwingen, durch die Erkenntnis, wie trostlos einsam und nichtssagend unsere Erdkugel sich verliert in den strahlenden Weiten des unbeseelten Raumes. Ich hasse solchen Nachthimmel. Das Tageslicht ist dem Manne Freund, der unter wärmender Sonne seine Arbeit tut; auch wolkige, laue Nächte sind unserem Daseinsgefühl günstig. Am liebsten wäre ich in mein erleuchtetes Wohnzimmer zurückgelaufen. Denn es schien mir doch gar zu lächerlich, mich mit Fyne abzugeben, der da in Kniehosen unter den Gestirnen auf der nächtigen Erde stand und sich wegen eines unbedeutenden, kleinen Mädchens aufregte. Anderseits lag gerade in der Torheit auch wieder ein gewisser Reiz. Er hängte sein bestes Tempo ein, und ich sah mich so um elf Uhr nachts zu einer ernsthaften Leibesübung gezwungen. Weither über die Felder und Bäume, die im Dunkel verschwanden, grüßte ein erleuchtetes Fenster des Landhauses, ohne Vorhänge, wie ein Leuchtfeuer, das dem verlorenen Wanderer den Weg weisen sollte. Wir sahen Frau Fyne drinnen an dem Tisch unter der Lampe sitzen, mit gekreuzten Armen, jedes Haar sauber glatt gestrichen. Sie sah ganz und gar wie eine Gouvernante aus, die die Kinder zu Bett gebracht hat. Auch ihr Benehmen mir gegenüber war das einer Gouvernante. Ihrem Mann gegenüber auch, nebenbei bemerkt.
Fyne sagte ihr, daß ich von allem unterrichtet sei. Kein Muskel in ihrem sonnverbrannten, glatten Gesicht rührte sich. Wahrscheinlich war sie sehr stolz auf diese eiserne Selbstbeherrschung. Denn da sie es mitangesehen hatte, wie zwei Frauen des feinsinnigen Dichters nacheinander durch allerlei Quälereien ins Grab gebracht worden waren, so hatte sie wohl diese kühle, abwesende Art angenommen, um den Ausbrüchen ihres begabten Vaters zu begegnen. Nun war sie ihr zur zweiten Natur geworden. Sie konnte, glaube ich, gar nicht mehr davon lassen; wohl auch nicht in der Stunde, als sie mit dem kleinen Fyne durchgebrannt war. Erinnerte man sich übrigens in ihrer Gegenwart an diese letztere Tatsache, so kam sie einem ganz unglaublich vor. Immerhin paßte ihre Selbstbeherrschung gut zu Fynes ewiger Feierlichkeit.
Er tat mir richtig leid. Wie nahe es ihm ging! Schattenseiten der Feierlichkeit. Es belustigte mich aber auch. Ich sah die ganze Sache mit dem verschwundenen Mädchen nicht mehr so tragisch an. Konnte es nicht. Doch sagte ich auch nichts. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir saßen um den großen runden Tisch herum, als hätten wir uns zu einer Beratung versammelt, und sahen einander nicht sonderlich geistreich an. Ich war daran, laut herauszulachen, als mich Fyne davor bewahrte, indem er letzte Weisheit von sich gab.
Er eröffnete uns mit ernster Bekümmernis, daß er am nächsten Morgen zur Polizei gehen, eine Personalbeschreibung drucken lassen und Leute dazu anstellen wolle, die Brunnen in der Umgegend abzusuchen. Es klang sehr unheimlich. Ich murmelte etwas von einer Verständigung der Verwandten der jungen Dame. Das schien mir ganz natürlich. Fyne aber wechselte mit seiner Frau einen so bedeutungsvollen Blick, daß ich mir vorkam, als hätte ich eine Taktlosigkeit begangen.
Ich wollte aber dem armen Fyne helfen, und da ich sah, wie er männlich unter der Unfähigkeit zu handeln, dem tatenlosen Warten litt, so sagte ich: ›Nichts davon kann bis morgen früh veranlaßt werden. Da Sie mir aber nun gezeigt haben, in welcher Richtung sich Ihre Vermutungen bewegen, so kann ich Ihnen etwas sagen, was wir sofort tun können: wir können auf dem Grunde des alten Steinbruchs nachsehen gehen, der etwa eine Meile von hier an der Landstraße liegt.‹
Das Ehepaar schien hierüber sehr erstaunt, und so erzählte ich ihnen von meinem Zusammentreffen mit dem Mädchen. Es wird dich vielleicht überraschen, und doch versichere ich dir, daß mir bis zu diesem Augenblick diese Seite der Frage nicht zum Bewußtsein gekommen war. Es war wie eine plötzliche Erleuchtung, wobei die Vergangenheit ein düsteres Licht auf die Zukunft warf. Fyne öffnete feierlich den Mund und schloß ihn ebenso feierlich wieder. Nichts sonst. Frau Fyne sagte: ›Ihr solltet wirklich gehen!‹ mit einem Ausdruck, als wäre ihre Selbstbeherrschung an irgendeinem geheimen Fleckchen mit einer Stecknadel gekitzelt worden.
Und ich – du weißt, wie dumm ich gelegentlich sein kann – ich sah dabei erst ein, daß ich mir eine neuerliche scharfe Leibesübung auf den Hals geladen hatte, indem ich Fynes trüben Gedankengängen gefolgt war. Und ob es mir leid tat, daß ich geredet hatte! Du weißt, wie mir das Gehen verhaßt ist, zumindest auf der festen, ländlichen Erde. Denn auf einem Schiffsdeck kann ich eine ganze Nebelnacht auf und ab gehen, ohne daß es mir was ausmacht. Es kann ja auch gelegentlich seinen Reiz haben, die Straßen einer großen Stadt zu durchwandern, bis der Himmel über den Klippen der Dächer verblaßt. Damit habe ich mich öfter als einmal unterhalten. Doch ist es mir immer als der Inbegriff des Schrecklichen erschienen, bei Nacht über offenes Land hinzutrotten.
Frau Fyne sah völlig unbeteiligt zu, wie ich hinter ihrem Gatten zur Tür hinausging. Die Frau war hart wie Stein.
Die frische Nacht war erfüllt vom Geruch der Erde, der aufgebrochenen Scholle, wie ein Grab – eine Gedankenverbindung, die einem Seemann besonders verhaßt ist, weil sie ihn an Enge und Begrenzung gemahnt; sogar dann noch, wenn er die Hoffnung aufgegeben hat, im Meer bestattet zu werden. Und das ist so ziemlich die letzte Hoffnung, die ein Seemann wissentlich aufgibt, auch wenn er, wie es ja vorkommt, durch irgendeinen Zufall dazu gebracht worden ist, sich an Land sein Brot zu verdienen. Ein scharfer Grabesgeruch. Der Straßengraben mochte wohl in nächster Nähe des Dorfes neu ausgehoben worden sein.
Sobald wir vom Garten klar waren, schoß Fyne dahin wie ein Rennboot. Was war ihm eine Meile – oder zwanzig Meilen? Glaubst du vielleicht, er hätte sich zögernd auf die Suche gemacht? Es war wohl die Macht des Gehsportgeistes, der ihn erfüllte. Ich rannte neben ihm her, verhöhnte mich selbst und fühlte einen Riesenzorn gegen den Backfisch. Denn das war sie für mich, ob tot oder lebendig . . . Ein Backfisch!«
Ich lächelte ein wenig ungläubig über Marlows Heftigkeit. Marlow hielt mit einem spöttisch-nachdenklichen Ausdruck kurz im Sprechen inne, ließ sich aber im übrigen nicht beirren.
»Ja, ja, sogar tot. Und das empört dich. Du armer Teufel bist ein gar so ritterlicher Mann. Ich aber habe genug Weibliches in mir, um mein Urteil über Frauen von ritterlicher Ehrfurcht frei zu halten. Und warum sollte ich mich auch anders machen, als ich bin? Für mich ist eine Frau nicht notwendig eine Puppe oder ein Engel. Sie ist ein menschliches Wesen, mir selbst recht ähnlich. Und zu viele, zu viele habe ich am Fuße unersteigbarer Riffe abgestürzt liegen sehen, als daß die bloße Möglichkeit, einen Leichnam am Grunde eines Steinbruchs zu finden, meinen Freimut hätte bändigen können.
Die Steilwand des Steinbruchs erhob sich drohend vor uns. Ich gebe zu, daß Fyne und ich einen Augenblick zauderten, bevor wir uns von der Straße weg in das Gebüsch stürzten, das breit den Eingang abschloß. Die Sträucher hingen alle schwer voll Tau. Es gab auch ein paar verborgene Löcher. Wir krochen und strauchelten und tasteten uns mit den Händen am Boden vorwärts, wurden durch und durch naß, ganz voll Schmutz und reichlich zerkratzt. Fyne stürzte plötzlich in eine merkwürdige Höhle – wahrscheinlich einen aufgelassenen Kalkofen. Als er betrübt seine Stimme erhob, da dröhnte sie feierlicher und tiefer noch als sonst. Das war die komische Kehrseite einer angeblich tragischen Situation. Während ich ihm heraushalf, erlaubte ich mir endlich ein offenes Gelächter. Fyne natürlich tat nicht mit.
Ich brauche dir nicht zu sagen, daß wir trotz gewissenhafter Suche schließlich doch nichts fanden. Fyne bahnte sich sogar einen Weg bis zu einem verfallenen Schuppen, der in taunassem Gestrüpp verborgen lag. Er rieb Streichhölzer an, immer ein paar auf einmal, als wollte er sich unbedingte Gewißheit darüber verschaffen, daß die verschwundene Freundin seiner Frau sich nicht etwa dort verbarg. Das kurze Aufflammen beleuchtete sein ernstes, unbewegtes Gesicht, während ich mich ganz hemmungslos gehen ließ und in förmliche Lachkrämpfe verfiel.
Ich fragte ihn, ob er ernsthaft und wirklich glaube, daß irgendein gesundes Mädel hergehen und sich in einem Schuppen verbergen würde; und wenn ja, warum?
Voll Verachtung für meine Heiterkeit beschränkte er sich darauf, in tiefstem Baß Dankesworte zu murmeln, daß wir sie nirgends hier gefunden hatten. Da ich inzwischen für die Abstufungen der ganzen Geschichte ein wesentlich feineres Gehör bekommen hatte (wohl infolge des Ärgers), so empfand ich sofort den Vorbehalt in seinem Dankgebet, und daß er mit einem Auge, sozusagen, immer noch nach dem Brunnen in der Nachbarschaft schielte. Und ich erinnere mich sogar, daß ich den armen Fyne unverhohlen auslachte.
Was mich nämlich so ganz außer mir brachte, war sein Gehtempo. Verschiedene Meinungen über politische, ethische, auch ästhetische Fragen brauchen noch keine grundsätzliche Gegnerschaft zu schaffen. Man kann seine Meinungen ändern; auch seinen Geschmack. – Es geschieht ja auch oft genug. Sogar der Tugendbegriff jedes einzelnen unter uns ist einer besonderen Versuchung preisgegeben, die der Zufall uns eines Tages bescheren kann. Alle diese Dinge sind ständig im Fluß. – Ein Unterschied im Temperament aber ist die Basis des Hasses, denn das Temperament ändert sich nicht. Darum sind auch religiöse Zwistigkeiten so erbittert. – Mein Temperament nun verlangt in allem, was mit dem festen Lande zusammenhängt, gemächliche Bewegung und Muße. Und da war also der kleine Fyne, der in geradezu aufreizender Art auf der Straße vorwärtsstürmte. Ein Mann, der sich die dicksohligen Schnürschuhe erwählt hatte, während mein Temperament dünne, ganz leichte Schuhe verlangt. Natürlich konnte von Freundschaft zwischen uns nie die Rede sein. Unter dem steten Zwang aber, mit ihm Schritt zu halten, begann ich ihn tatsächlich zu hassen. Ich bat ihn höhnisch, mir zu sagen, ob wir in einer Posse oder in einem Trauerspiel mitspielten. Ich wünschte, so sagte ich, meine Gefühle danach einzurichten, die sich in einem Zustand bedauerlicher Verwirrung befänden.
Doch Fyne war für Hohn unempfänglich wie eine Schildkröte. Er trottete weiter und begnügte sich damit, zweimal aus tiefster Brust, abgerissen, zweifelsschwer vor sich hin zu sagen: ›Ich fürchte . . . ich fürchte . . .‹
Das klang tragisch. Das Aufknallen seiner dicksohligen Schuhe war der einzige Laut in der nächtigen Welt. Meine Schritte klangen daneben geisterhaft leise. Infolge einer merkwürdigen Sehtäuschung schien die Straße bergauf zu führen, ein paar scheinbar ganz nahen, niedrigen Sternen zu; im Maße aber, wie wir vorwärtskamen, wuchsen immer neue Streifen grauweißen Bandes aus dem Schoße der Dunkelheit. Im Vorübergehen stellte ich fest, daß die Lampe in meinem Wohnzimmer immer noch brannte. Doch brachte ich es nicht fertig, Fyne zu verlassen, um sie auszulöschen. Sein sportliches Vorwärtsdrängen teilte sich mir mit und riß mich in seinem Kielwasser mit fort, bevor ich zu einem Entschluß kommen konnte.
›Sagen Sie, Fyne,‹ rief ich, ›Sie glauben nicht, daß das Mädel verrückt war, oder?‹
Er antwortete nicht. Kurz darauf kam das Leuchtfeuer des Villafensters in Sicht. Da äußerte Fyne ein überzeugtes ›Gewiß nicht!‹, fügte aber fast augenblicklich hinzu: ›Sehr überspannte junge Person!‹ und stellte mich damit vor neue Zweifel. Also doch eine Tragödie?
›Niemand ist je um sechs Uhr früh aufgestanden, um Selbstmord zu begehen‹, warf ich trocken hin. ›Das wäre unerhört! Es ist eine Posse!‹
Ich will dir gleich sagen, daß es tatsächlich weder eine Posse noch eine Tragödie war.
Als wir an der Villa angekommen waren, sahen wir Frau Fyne immer noch mit gefalteten Armen im Lichtkegel der Tischlampe sitzen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie während unserer Abwesenheit den Kopf auch nicht um einen Zoll gerührt. Es wirkte verblüffend unangenehm. Warum unangenehm? – Ich weiß nicht, vielleicht weil ich sie gerade in so grellem Lichte sah. Das meine ich wörtlich. – Im Lichte einer unbeschirmten Lampe. Unsere gedanklichen Schlüsse hängen so sehr von augenblicklichen körperlichen Eindrücken ab, nicht wahr? Hätte die Lampe einen Schirm gehabt, dann hätte ich vielleicht höflich den Fynes mein Beileid zu dem unerfreulichen Vorfall ausgesprochen und wäre nach Hause gegangen.
Es ist unerfreulich, eine junge Freundin auf solche Art zu verlieren. Es ist auch geheimnisvoll. So geheimnisvoll, daß es sogar noch auf die Leute abfärbt, denen es geschieht. Überdies hatte ich die Fynes nie richtig verstanden; ihn mit seiner Feierlichkeit, die sich noch in der Art äußerte, wie er Butterbrot aß; sie mit der entschlossenen Sachlichkeit, die sie dem alltäglichen Ablauf ihres reizlosen Lebens entgegenbrachte, dieses Lebens, in dem das Abschneiden von Butterbroten weitaus die gefährlichste Verrichtung darstellte. Manchmal vergnügte ich mich in dem Gedanken, wie überwältigend sich doch in ihren Köpfen diese unsere Welt darstellen müsse, und wie schauerlich tiefgründige und verzweifelte Vorstellungen sie wohl damit verbänden. Ich versuchte mir auch auszumalen, welche Stürme wohl dadurch in den unergründlichen Tiefen ihres Lebens entfesselt werden mochten. Das letztere war für einen oberflächlichen Menschen wie mich (denn sicherlich galt ich den Fynes als oberflächlicher Mensch) recht schwierig, und auch das Vergnügen dabei war nicht sehr groß; doch immerhin – auf dem Lande – weitab von jeder geistigen Anregung! . . .
Als ich aber mit Fyne in das Zimmer getreten war, da erschien mir im biederen, häuslichen Lichte der Lampe, jeder Phantasie abhold, das Ehepaar aller der Märchengewänder entkleidet, die ich ihm insgeheim oft umgetan hatte. Seltsam genug waren sie ja. Doch gibt es ein menschliches Wesen, das nicht – mehr oder weniger im Geheimen – seltsam wäre? Was aber auch ihr Geheimnis sein mochte, so stand es doch für mich fest, daß es weder sonderlich zart noch tiefgründig sein konnte. Sie waren gute, dumme, ernsthafte Menschen und sehr besorgt. Das waren sie – in der unbeherrschten Art, wie sie Durchschnittsmenschen eigen ist. Es gab kein Fleckchen in ihnen, das das Lampenlicht zu scheuen gehabt hätte.
Sofort nach unserem Eintritt gab Fyne das Ergebnis bekannt, indem er im gleichen Tone wie am Zauntor, nach der Rückkehr vom Bahnhof, das Wort ›Nichts‹ aussprach. Und Frau Fyne gab ihr abschließendes ›Es ist, wie ich dir sagte‹ zurück, das wie das Echo ihrer Worte im Garten klang. Wir Drei sahen einander an, als erwarteten wir eine Erleuchtung. Ich weiß nicht, ob die Frau meine Anwesenheit mißbilligte. Von Zudringlichkeit konnte nicht gut die Rede sein. Wie denn auch? Der kleine Fyne hatte damit angefangen, so ging es weiter. Wir standen vor ihr, mit dem gleichen Schmutz bedeckt (Fyne sah fabelhaft aus), von den gleichen Dornen zerkratzt, mit dem gleichen Erlebnis hinter uns. Jawohl. Vor ihr. Und sie sah uns mit gekreuzten Armen an, übervoll von angenommener Richterwürde. Ich wagte es, sie anzureden.
›Sie glauben nicht an einen Unfall, Frau Fyne, oder doch?‹
Sie schüttelte mit kurzer Verneinung den Kopf, während Fyne, lehmüberkrustet und mit unerhört ernsthafter Miene, ihr mit dem ganzen Gewicht seiner feierlichen Gegenwart Rückhalt zu bieten schien. Man konnte sich nichts Unsinnigeres vorstellen. Es war köstlich! Und ich sprach ehrerbietig weiter: ›Darf ich daraus schließen, daß Sie einen Selbstmord anzunehmen wünschen?‹
Es ist mir nicht bekannt, daß ich etwa zu Wahnvorstellungen neige, und doch stand mir, während ich auf ihre Antwort wartete, plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit das Bild dreier abgerichteter Hunde vor Augen, die auf den Hinterbeinen tanzten. Ich weiß nicht warum. Vielleicht infolge der übermäßigen Feierlichkeit. Es gibt nichts Feierlicheres auf Erden, als den Tanz dressierter Hunde.
›Sie hat es für richtig befunden zu verschwinden, das ist alles.‹
Mit diesen Worten antwortete mir Frau Fyne. Der gereizte Ton war zuviel für meine Beherrschung. Im Augenblick fand ich mich außerhalb des Reigens, auf allen Vieren sozusagen, frei zu bellen und zu beißen.
›Den Teufel hat sie‹, rief ich. ›Hat es für richtig befunden . . . Ganz einfach, so ohne weiteres, rücksichtslos, irgendwohin . . . Ich habe den Vorzug gehabt, mit der waghalsigen und schroffen jungen Dame zusammenzutreffen, und muß sagen, daß sie mir mit ihrer Art eines gereizten Opfers . . .‹
›Ganz genau so‹, sagte Frau Fyne unerwartet, als schnappte ein Fangeisen ein. Ich starrte sie an. Wie aufreizend sie war! So fuhr ich in meiner Tirade fort: ›Sie kam mir gleich im ersten Augenblick wie das unüberlegteste, verdrehteste junge Mädel vor, das ich jemals . . .‹
›Warum sollte ein Mädchen unüberlegter sein als sonst jemand? Mehr als irgendein Mann zum Beispiel?‹ forschte Frau Fyne und entfaltete dabei noch höhere Würde.
Natürlich wehrte ich mich dagegen, nicht sehr laut, das ist wahr, aber doch kräftig. Dürfte man denn die Gefühle von Freunden, von Verwandten und sogar von Fremden völlig außer acht lassen? Ich fragte Frau Fyne, ob sie es nicht für eine Pflicht halte, nicht nur auf die natürlichen Empfindungen, sondern sogar auf die Vorurteile unserer Mitmenschen eine gewisse Rücksicht zu nehmen?
Ihre Antwort warf mich um.
»Nicht für eine Frau.«
Gerade so. Ich gebe zu, daß ich platt auf dem Rücken lag. Und in dieser Liegestellung offenbarte sich mir der wahre Sinn von Frau Fynes Frauenrechtlerei. Es war keine politische, keine soziale, es war eine Lehre wie ein Hammerschlag. – Zum praktischen, persönlichen Gebrauch bestimmt. Du würdest es mir nicht danken, wenn ich sie dir des langen und breiten auseinandersetzen würde. Ich glaube ja auch nicht, daß sie selbst mich ganz eingeweiht hat.
Es müssen noch einige Punkte darin gewesen sein, die für Männerohren nicht geeignet waren. In Kürze aber lief es wohl, soweit ich in meiner Bestürzung der schauerlichen Einfalt zu folgen vermochte, etwa darauf hinaus: daß keine Rücksicht, kein Feingefühl, keine Zärtlichkeit, kein Bedenken eine Frau (die ja durch die bloße Tatsache ihres Geschlechts zum Opfer der Lebensverhältnisse vorherbestimmt war, wie sie die eigennützigen Leidenschaften, die Laster und die unerträgliche Herrschsucht der Männer geschaffen hatten), daß also nichts der Art eine Frau hindern sollte, auf dem kürzesten Wege für sich selbst die denkbar günstigste Daseinsform zu erstreben. Sie hatte sogar das Recht, aus dem Leben zu gehen, ohne Rücksicht auf irgend jemandes Gefühl oder auf Schicklichkeit, da ja so vielen Frauen durch die kurzsichtige Niedertracht der Männer das Leben tatsächlich unmöglich gemacht wurde.
Ich sah sie an, wie sie da unter der Lampe saß, um ein Uhr morgens, mit ihrem reifen, glatten, männlich geschnittenen Gesicht, dem die Müdigkeit etwas von seiner Frische genommen hatte; sah ihre Augen, getrübt durch diese sinnlose Nachtwache. Ich sah auch Fyne an. Der Schmutz begann auf ihm zu trocknen. Auch er war offenbar müde. Müde von der Entfaltung aller der Würde. Doch bewahrte er unbeugsam seine feierliche Miene und schien bereit, alles auf sich zu nehmen, wie es einem guten und treuen Gatten zukommt.
›Ach so,‹ sagte ich, ›keine Rücksichten . . . Nun, ich hoffe nur, daß es Ihnen so recht ist.‹
Sie machten mir mehr Spaß, als ich mir in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Nach dem ersten Schreck begann ich mich ziemlich rasch zu erholen. Die Weltordnung war fest genug. Er war Staatsbeamter, und sie sein gutes, treues Weib. Wenn man sich aber erst einmal mit Menschen auseinanderzusetzen beginnt, dann darf man auf alles, aber auch auf alles gefaßt sein. So hielt auch meine Verblüffung nicht lange an. Wieviel von dieser gewissenlosen und weltfremden Lehre sie vor ihren jungen Freundinnen zu entwickeln pflegte, die für ihren Gatten nur gleitende Schatten waren – das konnte ich nicht sagen. Sie behielt wohl schwerlich etwas für sich. Und er sah zu, stimmte bei, billigte alles, weil eben diese netten jungen Mädchen für ihn nur Schatten waren. Oh, übertugendhafter Fyne! Er schlug die Augen nieder. Es paßte ihm nicht ganz. Aber ich sah ihn mit heimlichem Haß an, denn er hatte mich unter falschen Vorwänden dazu verführt, hinter ihm drein zu rennen.
Frau Fyne hatte für mich nur ein sehr ausdrucksvolles, sehr selbstsicheres Lächeln. ›Oh, ich verstehe sehr gut, daß Sie die volle Verantwortung auf sich nehmen‹, sagte ich. ›Ich bin die einzig lächerliche Figur in diesem – diesem – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – Theaterstück. So oder so, ich habe hier nichts mehr zu tun, und darum will ich gute Nacht sagen, oder guten Morgen, denn es muß ein Uhr durch sein.‹ –
Vor dem Abschied erklärte ich mich aber doch in simplem Anstand bereit, ein paar Telegramme mitzunehmen, wenn sie welche abschicken wollten. Meine Wohnung läge näher zur Post als die ihre, und ich wollte die Telegramme als erstes am nächsten Morgen hinbringen. Ich nahm an, daß sie sich wenigstens wegen des Gepäcks mit den Verwandten der jungen Dame in Verbindung setzen wollten . . .
Fyne, der schon recht erschöpft aussah, lehnte dankend ab.
›Es ist wirklich nicht ein einziger da‹, sagte er sehr ernst.
›Nicht ein einziger!‹ rief ich aus.
›Tatsächlich nicht‹, schnitt Frau Fyne ab.
Und meine Neugier wuchs wieder.
›Ach, ich verstehe, eine Waise!‹
Frau Fyne wandte traurig den Blick ab, und Fyne sagte eifrig: ›Ja‹, schränkte aber dann diese Bejahung durch den Zusatz ein: ›Bis zu einem gewissen Grade.‹
Nun kam mir selbst plötzlich meine an Erschöpfung grenzende Müdigkeit zum Bewußtsein. Ich verbeugte mich vor Frau Fyne und verließ die Villa, fand mich aber draußen der sternenflimmernden Unendlichkeit gegenüber. Die Nacht war noch nicht weit genug vorgeschritten, als daß die Sterne verblaßt gewesen wären, und die Erde schien mir in noch tieferen Schlaf versunken, – vielleicht weil ich jetzt allein war. Da ich Fyne nun nicht neben mir hatte, ließ ich mich in der Richtung des Bauernhauses zu treiben. Es war kein Gehen. Sichtreiben-Lassen ist die einzige nicht anstrengende Art der Bewegung (frag' irgendein Schiff, ob das nicht stimmt) und daher dem Nachdenken förderlich. Und ich grübelte: Wie kann man eine Waise sein ›bis zu einem gewissen Grade‹? Keine noch so nachdrückliche Feierlichkeit konnte diese Behauptung anders als grotesk erscheinen lassen. Ein wie ungewöhnlicher Zustand! Sehr wahrscheinlich war nur ein Elternteil nicht mehr am Leben. Doch nein, das konnte nicht sein, denn Fyne hatte knapp zuvor gesagt, daß ›nicht ein einziger‹ da war, mit dem man sich hätte in Verbindung setzen können. Niemand! Und da mir dabei Frau Fynes schnippisches ›Tatsächlich nicht!‹ einfiel, so hefteten sich von da an meine Gedanken an sie, da sie ihnen mehr Anhalt zu bieten schien.
Ich fragte mich ernstlich – und der Frage gesellte sich der Zweifel –, ob sie selbst wohl die Theorie verstand, die sie mir an den Kopf geworfen hatte. Man kann alles aussprechen, man sollte es sogar tun, vorausgesetzt, daß man weiß, wie es gesagt werden muß. Das nun wußte sie augenscheinlich nicht. Sie war nicht klug genug dazu, hatte keine Weltkenntnis. Sie hatte ein paar Worte aufgeschnappt, so wie ein Kind vielleicht giftige Pillen findet und nun mit den ›süßen, kleinen Kügelchen‹ spielt. Nein! Die als Haussklavin erzogene Tochter von Carleon Anthony und der kleine Fyne von der Regierung (diese Blüte der Gesittung!) – sie waren keine klugen Leute. Sie waren guter Durchschnitt, ernsthaft, ohne Lächeln und ohne Arglist. Doch er hatte seine Feierlichkeit, und sie hatte ihre Hirngespinste, heftig, roh, aufrührerisch. Und ich machte mir nicht ohne Trauer klar, daß all der Aufruhr, die Entrüstung, der Widerspruch, die Anfälle von Schmerz und Wut nichts waren als die Lebensäußerung eines sinnenbegabten Wesens, das nach seinem Anteil an der Freude, an Form, Farbe und Eindrücken verlangte, dem einzigen Reichtum in unserer Sinnenwelt. Ein Dichter mag ein einfacher Mensch sein, aber es ist sein Schicksal, veränderlich, launenhaft zu sein, eigenwillig und reizbar. Ich suchte mir die zahllosen Gründe vorzustellen, mit denen der heimgegangene Sänger der Gesittung vor sich selbst die Quälereien gegen seine Angehörigen gerechtfertigt hatte. Da Dichtern gemeinhin die Voraussicht in Fragen des praktischen Lebens fehlt, so hatte ihm die Angst vor den möglichen Folgen wohl gefehlt. Jawohl! Die Fynes waren ausgezeichnete Leute, aber Frau Fyne war nicht umsonst die Tochter eines Haustyrannen; ihre Auflehnung kannte keine Grenzen. Aber sie waren ausgezeichnete Leute. Offenbar hatten sie sich gegen das junge Mädchen sehr gütig erwiesen, dessen Stellung in der Welt etwas schwierig schien, da es das Gesicht eines Opfers mitbrachte, dazu einen offenkundigen Mangel an Ergebung und überdies die sehr merkwürdige Eigenschaft einer Waise ›bis zu einem gewissen Grade‹.
Das waren meine Gedanken, doch hörte ich sehr bald auf, mir über alle die Leute den Kopf zu zerbrechen. Ich fand, daß meine Lampe ausgegangen war und einen fürchterlichen Geruch hinterlassen hatte. Ich flüchtete davor in den ersten Stock hinauf und ging im Dunkeln zu Bett. Mein Schlaf – ich glaube, das einzige Gute beim Gehsport, Gott verdamme ihn, ist, daß er unsere natürliche Trägheit steigert – mein Schlaf also war tief, traumlos und erquickend.
Auch mein Frühstückshunger wurde durch das Nichtwissen um Tatsachen, Beweggründe, Ereignisse und Schlußfolgerungen nicht berührt. Ich glaube, es ist nicht gut für den Geist, alles zu verstehen. Ein vollbeladener Geist hemmt die Tatkraft, ein überlasteter führt langsam zum Blödsinn. Doch Frau Fynes persönliche Frauenrechtlerei, so erquickend unbekümmert, schoß mir durch den Kopf. Was für einen Salat unbewiesener Lehrsätze füllte sie doch in die Mädchenköpfe! Gutes, unschuldiges Wesen, würdige Gattin, ausgezeichnete Mutter (vom reinen Gouvernantenschlag), kümmerte sie sich so wenig um die Folgen, wie nur je ein überzeugter Philosoph.
Was nun das Ehrgefühl anbetrifft, so ist dies, wie du ja weißt, ein schönes, mittelalterliches Erbteil, das aber Frauen sich nie zu eigen machen konnten. Es lag ihnen nicht. Und da man ja ganz allgemein den Grundsatz aufstellen kann, daß die Frauen immer bekommen, was sie wollen, so müssen wir in diesem Falle wohl annehmen, daß sie es nicht gewollt haben. Zum Überfluß fehlt ihnen auch das Schicklichkeitsgefühl, ich meine männliches Schicklichkeitsgefühl. Auch Voraussicht ist ihnen fremd, die wägende, schwerfällige Voraussicht, die unser Stolz ist. Und hätten sie sie, dann würden sie sie ins Leidenschaftliche hinüberspielen, so daß ihre eigene Mutter – ich meine die Mutter der Voraussicht – sie nicht wiedererkennen würde. Die Klugheit ist ihnen nur ein Kitzel, wie auch der Rest unserer irdischen Leidenschaften. ›Erregung um jeden Preis‹ ist ihr geheimer Wahlspruch; alle Tugenden genügen ihnen nicht, sie müssen auch alle Laster haben. Und warum? Weil in dieser Vielseitigkeit Macht liegt. Der Kitzel, den sie am meisten lieben . . .«
»Erwartest du, daß ich alledem zustimme?« unterbrach ich ihn.
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Marlow, ohne Freude an der Unterbrechung, doch angestrengt liebenswürdig. »Du brauchst es nicht einmal zu verstehen. Ich fahre fort: Was nun, da sie so beschaffen sind, die Frauen abhält – um einen Ausdruck zu gebrauchen, den ein alter Bootsmann meiner Bekanntschaft auf seinen Kapitän anwandte – was sie also abhält, ›auf Deck zu kommen und die Hölle auf dem Schiff loszulassen‹, das ist dies eigenartig Ausgeprägte und Geheimnisvolle in ihnen, das sowohl als Hemmung wie als Antrieb wirkt; ihre Weiblichkeit kurzum, die sie mit Gewalt loswerden zu können glauben, die sie aber nie loswerden können und auch nicht ernsthaft loswerden wollen. Darum können wir abschließend sagen, daß gegen alle ihre Unternehmungen die Welt jetzt und in Zukunft hinlänglich gesichert ist. Und da ich mich als friedliebender Mensch durch diesen Schluß besänftigt fühlte, so bereitete ich mich vor, einen schönen Tag zu genießen.
Und es war ein schöner Tag, ein köstlicher Tag, wo herrliches Blau den Schimmer der Unendlichkeit verschleierte. Ein Tag, strahlend unschuldig wie ein frischgewaschenes Kind, fröhlich wie ein junges Mädchen, ein Tag, der einen mild grüßte, wie ein römischer Prälat. Ich liebe solche Tage. Sie sind wie geschaffen, um sie im Zimmer zu verbringen. Ich genoß ihn wollüstig in meinem Armstuhl, die Füße auf das Sims des offenen Fensters gestützt, ein Buch in der Hand; und der leise Einklang von Wind und Sonne schuf in meinem Herzen die Begleitung zu den Versen meines Autors. Als ich einmal vom Buch aufsah, bemerkte ich vor dem Fenster zwei graue Augen, von zottigen gelbweißen Brauen beschattet, die mich feierlich über die Spitzen meiner Morgenschuhe weg anblickten. Über dem gewichtigen Blicke zeigte sich eine blaue Sportmütze, weit aus der perlenden Stirn zurückgeschoben.
›Kommen Sie herein!‹ rief ich so herzlich, wie meine sinkenden Lebensgeister es erlaubten.
Nach einer kurzen, aber strengen Auseinandersetzung mit seinem Hund an der Außentüre trat Fyne ein. Ich behandelte ihn ohne Förmlichkeit und wies nur mit der Hand nach einem Stuhl. Noch bevor er sich niedersetzte, stieß er hervor:
›Wir haben Nachricht – mit der Mittagspost.‹
Das stieß er hervor; der ernste, unerschütterliche Fyne von der Regierung keuchte! Das genügte, wie du dir wohl vorstellen kannst, um mich zu bestimmen, daß ich meine Füße schnell auf den Boden setzte. Der Bursche brachte es immer fertig, mich zu Handlungen zu verleiten, die meiner nachdenklichen Gemütsart zuwiderliefen. Kein Wunder, daß sich meine Zuneigung zu ihm in bescheidenen Grenzen hielt. Ich sagte mit einem recht kläglichen Anlauf zum Scherz: ›Natürlich! Ich sagte Ihnen ja gestern Nacht schon, auf der Straße, daß wir in einer Posse mitspielten.‹
Im Grabeston seiner Antwort klang Ärger mit, daß mein kleines Wohnzimmer in den Grundfesten davon erzitterte: ›Zum Teufel mit der Posse! Sie ist mit dem Bruder meiner Frau, Kapitän Anthony, durchgebrannt!‹ Diesem Ausspruch folgte ein völliges Zusammenklappen. Es klang jämmerlich, als er aus reiner Gewohnheit hinzufügte: ›Dem Sohn des Dichters, Sie wissen ja.‹
Es trat ein Schweigen ein. Fyne zeigte sich mir immer wieder von einer neuen Seite. Diesmal also hatte er alle Feierlichkeit beiseite gelassen. Sofort meldete sich natürlich meine Neugierde wieder.
›Aber halt!‹ sagte ich. ›Sie sind doch nicht zusammen abgereist . . .? Ist es nur eine Vermutung, oder gibt sie wirklich zu . . .‹
›Sie ist ihm nachgefahren‹, stellte Fyne düster fest. ›Nach vorheriger Verabredung. Das gibt sie selbst zu.‹
Er fügte hinzu, daß es sehr anstößig sei. Ich fragte ihn, ob er es vorgezogen hätte, wenn sie zusammen abgefahren wären; und wenn ja, welche Gründe er für diese Vorliebe anführen könne. Das tat ich einfach zum Spaß, denn die Ehe der Fynes war ja auch nach einer Flucht geschlossen und hatte seinerzeit sogar die Zeitungen beschäftigt, weil der heimgegangene Dichter sich in seiner Entrüstung keine Schranken auferlegt und versucht hatte, die Schmach öffentlich vor einem Richter in Allongeperücke zur Sühne zu bringen. Eine trostlose Handbewegung des kleinen Fyne nahm mir augenblicklich die Lust zu weiteren Scherzen. Doch konnte ich es nicht unterlassen, meine Überraschung darüber auszudrücken, daß Frau Fyne nicht bemerkt hatte, was im Gange war. Frauen hatten doch sonst einen so untrüglichen Scharfblick.
Er sagte mir, seine Frau sei mit einer gewissen Arbeit sehr beschäftigt gewesen. Ich hatte mich immer schon gefragt, wie sie ihre Zeit wohl hinbringen mochte. Nun wußte ich es: mit Schreiben. Wie ihr Gatte hatte auch sie ein kleines Buch herausgegeben. Es kam mir viel später einmal in die Hände. Hatte aber mit Gehsport nichts zu tun. Es schien vielmehr ein Handbuch für unverstandene Frauen (also so ziemlich für alle Frauen), eine Art Leitfaden für weibliche Sittenfreiheit in Theorie und Praxis. Man konnte über die offenkundige Einfalt lachen. Natürlich fragte ich Fyne nicht, welcher Art die Arbeit war, die seine Frau so beschäftigt hatte. Doch staunte ich ganz für mich über ihre völlige Unkenntnis der Welt, ihres eigenen Geschlechts und der anderen Gattung von Sündern. Doch wo hätte sie irgendwelche Erfahrung herhaben sollen? Ihr Vater hatte sie klösterlich abgeschlossen gehalten. Die Ehe mit Fyne brachte darin Wechsel, aber doch nur den in eine neue Abgeschlossenheit. Du wirst mir einwenden, daß die angeborene Beobachtungsgabe genügt haben müßte. Nun ja! Da sie sich aber zur Lehrerin und Führerin aufgeworfen hatte, so war es nicht weiter überraschend für mich, zu sehen, daß sie blind war. Das ist ganz in der Ordnung. Sie war eine durchaus einfältige Person; nur wäre es sehr ungehörig gewesen, ihrem Manne das zu sagen.«