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Dreizehntes Kapitel: Strategische Reserve

Eine Reserve hat zwei Bestimmungen, die sich wohl voneinander unterscheiden lassen, nämlich: erstens, die Verlängerung und Erneuerung des Kampfes, und zweitens, der Gebrauch gegen unvorhergesehene Fälle. Die erste Bestimmung setzt den Nutzen einer sukzessiven Kraftanwendung voraus und kann deshalb in der Strategie nicht vorkommen. Die Fälle, wo ein Korps nach einem Punkt hingeschickt wird, der im Begriff ist, überwältigt zu werden, sind offenbar in die Kategorie der zweiten Bestimmung zu setzen, weil der Widerstand, welchen man hier zu leisten hat, nicht hinlänglich vorhergesehen worden ist. Ein Korps aber, was zur bloßen Verlängerung des Kampfes bestimmt und zu dem Behuf zurückgestellt ist, würde nur außer dem Bereich des Feuers gestellt, dem im Gefecht Befehlenden untergeordnet und zugewiesen, mithin eine taktische und keine strategische Reserve sein.

Das Bedürfnis aber, eine Kraft für unvorhergesehene Fälle bereit zu haben, kann auch in der Strategie vorkommen, und folglich kann es auch strategische Reserve geben: aber nur da, wo unvorhergesehene Fälle denkbar sind. In der Taktik, wo man die Maßregeln des Feindes meistens erst durch den Augenschein kennenlernt, und wo jedes Gehölz und jede Falte eines wellenförmigen Bodens dieselben verbergen kann, muß man natürlich immer mehr oder weniger auf unvorhergesehene Fälle gefaßt sein, um diejenigen Punkte unseres Ganzen, welche sich zu schwach zeigen, hinterher zu verstärken und überhaupt die Anordnung unserer Kräfte mehr nach Maßgabe der feindlichen einrichten zu können.

Auch in der Strategie müssen solche Fälle vorkommen, weil der strategische Akt unmittelbar an den taktischen anknüpft. Auch in der Strategie wird manche Anordnung erst nach dem Augenschein, nach ungewissen, von einem Tage zum anderen, von einer Stunde zur anderen eingehenden Nachrichten, endlich nach den wirklichen Erfolgen der Gefechte getroffen; es ist also eine wesentliche Bedingung der strategischen Führung, daß nach Maßgabe der Ungewißheit Streitkräfte zur späteren Verwendung zurückgehalten werden.

Bei der Verteidigung überhaupt, besonders aber gewisser Bodenabschnitte, wie Flüsse, Gebirge usw. kommt dies bekanntlich unaufhörlich vor.

Aber diese Ungewißheit nimmt ab, je weiter sich die strategische Tätigkeit von der taktischen entfernt und hört fast ganz auf in jenen Regionen derselben, wo sie an die Politik grenzt.

Wohin der Feind seine Kolonnen zur Schlacht führt, kann man nur aus dem Augenschein erkennen; wo er einen Fluß überschreiten wird, aus wenigen Anstalten, die sich kurz vorher kundtun; auf welcher Seite er unser Reich anfallen werde, das verkünden gewöhnlich schon alle Zeitungen, ehe noch ein Pistolenschuß fällt. Je größerer Art die Maßnahmen werden, um so weniger kann man damit überraschen. Zeiten und Räume sind so groß, die Verhältnisse, aus welchen die Handlung hervorgeht, so bekannt und wenig veränderlich, daß man das Ergebnis entweder zeitig genug erfährt oder mit Gewißheit erforschen kann.

Von der anderen Seite wird auch der Gebrauch einer Reserve, wenn sie wirklich vorhanden wäre, in diesem Gebiete der Strategie immer unwirksamer, je weiter die Maßregel das Ganze hinaufrückt.

Wir haben gesehen, daß die Entscheidung eines Teilgefechts an sich nichts ist, sondern daß alle Teilgefechte erst in der Entscheidung des Totalgefechts ihre Erledigung finden.

Aber auch diese Entscheidung des Totalgefechts hat nur eine relative Bedeutung in sehr vielen Abstufungen, je nachdem die Streitkraft, über welche der Sieg errungen ist, einen mehr oder weniger großen und bedeutenden Teil des Ganzen ausmachte. Das verlorene Treffen eines Korps kann durch den Sieg des Heeres gutgemacht werden, und selbst die verlorene Schlacht eines Heeres könnte durch die gewonnene eines bedeutenderen nicht bloß aufgewogen, sondern in ein glückliches Ereignis verwandelt werden (die beiden Tage von Kulm 1813). Niemand kann dies bezweifeln; aber es ist ebenso klar, daß das Gewicht eines jeden Sieges (der glückliche Erfolg eines jeden Totalgefechts) um so selbständiger wird, je bedeutender der besiegte Teil war, und daß also die Möglichkeit, das Verlorene durch ein späteres Ereignis wieder einzubringen, in dieser Richtung immer mehr abnimmt. Wie sich das näher bestimmt, werden wir an einem anderen Ort zu betrachten haben; hier ist es uns genug, auf das unzweifelhafte Dasein dieser Progression aufmerksam gemacht zu haben.

Fügen wir nun endlich diesen beiden Betrachtungen noch die dritte hinzu, nämlich, daß, wenn der nachhaltige Gebrauch der Streitkräfte in der Taktik die Hauptentscheidung immer gegen das Ende des ganzen Aktes hin verschiebt, das Gesetz des gleichzeitigen Gebrauchs in der Strategie umgekehrt die Hauptentscheidung (welches nicht die endliche zu sein braucht) fast immer am Anfang des großen Aktes stattfinden läßt, so werden wir in diesen drei Resultaten Gründe genug haben, um strategische Reserve immer entbehrlicher, immer unnützer und immer gefährlicher zu finden, je mehr ihre Bestimmung umfassend ist.

Der Punkt aber, wo die Idee der strategischen Reserve anfängt widersprechend zu werden, ist nicht schwer zu bestimmen; er liegt in der Hauptentscheidung. Die Verwendung aller Kräfte muß sich innerhalb der Hauptentscheidung befinden, und jede Reserve (fertiger Streitkräfte), welche erst nach dieser Entscheidung gebraucht werden sollte, ist widersinnig.

Wenn also die Taktik in ihren Reserven das Mittel hat, nicht bloß den unvorhergesehenen Anordnungen des Feindes zu begegnen, sondern auch den niemals vorherzusehenden Erfolg des Gefechts da, wo er unglücklich ist, wieder gutzumachen, so muß die Strategie, wenigstens was die große Entscheidung betrifft, auf dieses Mittel verzichten; sie kann die Nachteile, welche auf einem Punkt eintreten, in der Regel nur durch die Vorteile wieder gutmachen, die sie auf anderen erhält, und in wenigen Fällen, indem sie Kräfte von einem Punkte zum anderen überführt; niemals aber soll oder darf sie auf den Gedanken kommen, einem solchen Nachteil durch eine zurückgestellte Kraft im voraus begegnen zu wollen.

Wir haben die Idee einer strategischen Reserve, welche bei der Hauptentscheidung nicht mitwirken soll, für widersinnig erklärt, und das ist sie so unzweifelhaft, daß wir gar nicht versucht gewesen sein würden, sie einer solchen Analyse zu unterwerfen, wie in diesen beiden Kapiteln geschehen ist, wenn sie sich nicht, unter anderen Vorstellungen verkappt, etwas besser ausnähme und so häufig zum Vorschein käme. Der eine sieht in ihr den Preis strategischer Weisheit und Vorsicht, der andere verwirft sie und mit ihr die Idee jeder Reserve, folglich auch der taktischen. Dieser Ideenwirrwarr geht ins wirkliche Leben über, und will man ein glänzendes Beispiel davon sehen, so erinnere man sich, daß Preußen 1806 eine Reserve von 20000 Mann unter dem Prinzen Eugen von Württemberg in der Mark kantonieren ließ, welche dann die Saale zur rechten Zeit nicht mehr erreichen konnte, und daß andere 25000 Mann dieser Macht in Ost- und Südpreußen zurückblieben, welche man als eine Reserve erst später auf den Feldfuß setzen wollte.

Nach diesen Beispielen wird man uns wohl nicht schuld geben, daß wir mit Windmühlen gefochten haben.


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