Anton Tschechow
Von Frauen und Kindern
Anton Tschechow

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VII

Es war ein höchst unruhiger Tag.

Dymow hatte heftige Kopfschmerzen; des Morgens hatte er keinen Tee getrunken, war auch nicht in sein Krankenhaus gegangen und lag die ganze Zeit in seinem Zimmer auf dem türkischen Sofa. Olga Iwanowna ging wie gewöhnlich gegen ein Uhr zu Rjabowskij, um ihm ein neu angefangenes Stilleben zu zeigen und um ihn zu fragen, warum er gestern nicht gekommen sei. Sie hielt die Skizze selbst für unbedeutend und hatte sie auch nur gemalt, um einen Vorwand zu haben, den Maler aufzusuchen.

Sie trat ein, ohne anzuläuten, und während sie im Vorzimmer die Galoschen auszog, kam es ihr vor, als ob jemand durchs Atelier lief und ein Frauenkleid raschelte; als sie hineinblickte, sah sie noch das Ende eines braunen Rockes hinter dem großen Bild verschwinden, das mit der Staffelei bis zum Fußboden mit einem schwarzen Tuch zugedeckt war. Es war zweifellos eine Frau, die sich da versteckte. Wie oft hatte auch Olga Iwanowna selbst hinter diesem Bilde Zuflucht gefunden! Rjabowskij schien sehr verlegen und über ihren Besuch erstaunt. Er streckte ihr beide Hände entgegen und sagte mit gezwungenem Lächeln:

»Ah! Freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen. Was werden Sie mir Schönes sagen?«

Olga Iwanownas Augen füllten sich mit Tränen. Sie schämte sich, es war ihr bitter zumute, und sie hätte sich auch für eine Million nicht entschlossen, in Gegenwart der fremden Frau, der Nebenbuhlerin und Betrügerin zu sprechen, die jetzt hinter dem Bilde stand und wohl schadenfroh kicherte.

»Ich bringe Ihnen eine Skizze . . .« sagte sie schüchtern, mit feiner Stimme, und ihre Lippen zitterten. »Ein Stillleben.«

»Ah . . . eine Skizze?«

Der Maler nahm die Skizze in die Hand und ging, sie betrachtend, wie unabsichtlich ins Nebenzimmer.

Olga Iwanowna folgte ihm demütig.

»Nature morte . . . erste Sort',« murmelte er, nach Reimen suchend. »Kurort . . . Port . . . Hort . . .«

Aus dem Atelier tönten eilige Schritte und daß Rascheln eines Kleides. Die andere war also weg. Olga Iwanowna hatte das Verlangen, laut aufzuschreien, dem Maler etwas Schweres an den Kopf zu werfen und wegzugehen; sie konnte aber durch ihre Tränen nichts sehen, sie war von ihrer Scham erdrückt und fühlte sich nicht mehr als Olga Iwanowna, nicht als Malerin, sondern als ein elender Wurm.

»Ich bin müde . . .« sagte der Maler matt, die Skizze noch immer betrachtend und den Kopf schüttelnd, als kämpfe er gegen die Schläfrigkeit an. »Es ist natürlich recht nett, aber heute diese Skizze, im vorigen Jahre eine andere Skizze, und in einem Monat bringen Sie mir wieder eine Skizze . . . Ist es denn Ihnen noch nicht zu dumm? An Ihrer Stelle würde ich die Malerei aufstecken und mich ernsthaft der Musik oder etwas anderm widmen. Sie sind ja gar keine Malerin, sondern Musikerin. Ich bin so müde! Gleich werde ich Tee geben lassen . . . Ja?«

Er ging aus dem Zimmer, und Olga Iwanowna hörte, wie er seinem Diener etwas sagte. Um sich von ihm nicht verabschieden zu müssen, um eine Aussprache zu vermeiden und, vor allem, um nicht in Tränen auszubrechen, eilte sie, solange Rjabowskij noch nicht zurück war, ins Vorzimmer, zog sich die Galoschen an und lief auf die Straße hinaus. Hier holte sie erleichtert Atem und fühlte sich für immer befreit, – von Rjabowskij, von der Malerei und von der schweren Scham, die sie im Atelier so furchtbar bedrückt hatte! Schluß!

Sie fuhr zur Schneiderin, von der Schneiderin zu Barnay, der erst gestern angekommen war, von Barnay in die Musikalienhandlung und dachte die ganze Zeit daran, daß sie Rjabowskij einen kalten, harten, stolzen Brief schreiben und im Frühjahr oder im Sommer mit Dymow nach der Krim gehen würde, um sich dort endlich von der Vergangenheit freizumachen und ein neues Leben zu beginnen.

Spät abends nach Hause zurückgekehrt, setzte sie sich, ohne sich umzuziehen, ins Gastzimmer und überlegte sich den Brief. Rjabowskij hatte ihr gesagt, daß sie keine Malerin sei; nun wird sie ihm aus Rache schreiben, daß er jedes Jahr immer dasselbe male und jeden Tag dasselbe spreche, daß er gänzlich erstarrt sei und daß aus ihm nicht mehr werden würde, als das, was aus ihm schon geworden sei. Sie wollte ihm auch noch schreiben, daß er vieles ihrem guten Einflusse zu verdanken habe und daß, wenn er zuweilen schlecht handle, so doch nur darum, weil ihr Einfluß durch verschiedene zweideutige Personen paralysiert werde, von der Art wie die, die sich heute hinter dem Bilde versteckt hatte.

»Mama!« rief aus seinem Kabinett Dymow, ohne die Tür zu öffnen. »Mama!«

»Was willst du?«

»Mama, komme nicht herein, komm nur zur Tür . . . Vorgestern habe ich mir im Krankenhause die Diphtherie geholt und jetzt . . . fühle ich mich nicht gut. Schicke gleich nach Korosteljow.«

Olga Iwanowna nannte ihren Mann, wie alle ihre männlichen Bekannten nie mit dem Vornamen, sondern stets mit dem Familiennamen; sein Vorname Ossip gefiel ihr nicht, weil er an den Lakaien im Gogolschen »Revisor« und an ein bekanntes Wortspiel erinnerte. Jetzt rief sie aber aus:

»Ossip, es kann nicht sein!«

»Schicke nach ihm! Mir ist gar nicht wohl . . .« sagte Dymow hinter der Tür, und sie hörte, wie er wieder zum Sofa ging und sich hinlegte. »Schicke nach ihm!« klang es noch einmal dumpf aus dem Kabinett.

– Was ist denn das? – dachte sich Olga Iwanowna, vor Entsetzen erschauernd. – Es ist ja gefährlich! –

Sie nahm ohne jede Not die Kerze in die Hand und ging zu sich ins Schlafzimmer; während sie sich überlegte, was sie nun zu tun habe, warf sie zufällig einen Blick in den Spiegel. Mit ihrem blassen, erschrockenen Gesicht, im Jackett mit den Schinkenärmeln und gelben Volants an der Brust und dem ungewöhnlich gestreiften Rock, kam sie sich selbst schrecklich und abstoßend vor. Sie fühlte plötzlich schmerzliches Mitleid mit Dymow, seine Liebe zu ihr tat ihr leid, sein junges Leben und selbst sein verwaistes Bett, in dem er schon so lange nicht mehr geschlafen hatte, und sie mußte an sein gewohntes mildes und demütiges Lächeln denken. Sie weinte bitter und schrieb Korosteljow einen flehentlichen Brief. Es war zwei Uhr Nachts.


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