Anton Tschechow
Von Frauen und Kindern
Anton Tschechow

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V

Der zweite September war ein warmer und stiller, doch trüber Tag. Am frühen Morgen zogen über die Wolga leichte Nebel, und nach neun begann es zu tröpfeln. Und man hatte gar keine Hoffnung, daß der Himmel sich aufheitern würde. Rjabowskij sagte beim Morgentee zu Olga Iwanowna, daß die Malerei die undankbarste und langweiligste Kunst sei, daß er selbst gar kein Künstler wäre, daß nur die Narren glaubten, er habe Talent; und plötzlich ergriff er, so mir nichts, dir nichts, ein Messer und zerkratzte seine beste Studie. Nach dem Tee saß er trübsinnig am Fenster und blickte auf die Wolga hinaus. Alles sprach vom nahenden traurigen und trüben Herbst. Es war, als hätte die Natur die üppigen grünen Teppiche der Ufer, die diamantenen Spiegelungen der Strahlen, die durchsichtige blaue Ferne und alles Elegante und Festliche von der Wolga genommen und in ihre Truhen bis zum nächsten Frühling gepackt; die Raben flogen längs der Ufer und neckten die Wolga: »Nackt! Nackt!« Rjabowskij lauschte ihrem Krächzen und dachte sich, daß sein Talent gänzlich verpufft sei, daß alles in dieser Welt konventionell, relativ und dumm sei und daß er sich an diese Frau nicht hätte binden sollen . . . Mit einem Worte, er war übelster Laune und fing Grillen.

Olga Iwanowna saß hinter dem Bretterverschlag auf dem Bett, fuhr sich mit den Fingern durch ihre schönen flachsblonden Haare und sah sich bald im Salon, bald im Schlafzimmer, bald im Arbeitszimmer ihres Mannes; die Phantasie versetzte sie ins Theater, zu der Schneiderin und zu den berühmten Freunden. Was mögen sie jetzt wohl treiben? Ob sie sich ihrer erinnern? Die Saison hat schon begonnen, und es wäre Zeit, an die Abendgesellschaften zu denken. Und Dymow? Der liebe Dymow! Wie sanft, kindlich und unglücklich bittet er sie in seinen Briefen, nach Hause zurückzukehren! Jeden Monat schickte er ihr fünfundsiebzig Rubel, und als sie ihm einmal schrieb, daß sie den Malern hundert Rubel schulde, schickte er ihr auch diese hundert Rubel. Dieser gute, großmütige Mensch! Das Herumreisen hatte Olga Iwanowna ermüdet, sie langweilte sich, sie wollte so schnell als möglich von diesen Bauern, von diesem feuchten Wassergeruch fliehen und sich vom Gefühl der körperlichen Unsauberkeit befreien, das sie die ganze Zeit empfand, als sie in Bauernhäusern wohnte und von Dorf zu Dorf zog. Hätte Rjabowskij den anderen Malern nicht das Ehrenwort gegeben, mit ihnen hier bis zum 20. September zu bleiben, so könnte sie schon heute abreisen. Wie schön wäre das!

»Mein Gott,« stöhnte Rjabowskij. »Wann kommt endlich die Sonne? Ich kann doch die Landschaft, die ich bei Sonne begonnen habe, nicht ohne Sonne weitermalen! . . .«

»Du hast ja auch noch eine Skizze mit bewölktem Himmel,« sagte Olga Iwanowna, hinter dem Bretterverschlag hervorkommend. »Weißt du noch, rechts im Vordergrunde ist ein Wald, und links – eine Herde Kühe und Gänse. Jetzt könntest du sie fertigmalen.«

»Ach!« sagte der Maler und verzog daß Gesicht. »Fertigmalen! Halten Sie mich denn für so dumm, daß ich nicht weiß, was ich zu tun habe!«

»Du bist jetzt ganz anders zu mir!« versetzte Olga Iwanowna mit einem Seufzer.

»Na also!«

Olga Iwanowna zitterte das Gesicht, sie ging zum Ofen und fing zu weinen an.

»Ja, die Tränen fehlten noch gerade. Hören Sie auf! Ich habe tausend Gründe zum Weinen, und doch weine ich nicht.«

»Tausend Gründe!« sagte Olga Iwanowna schluchzend. »Der Hauptgrund ist, daß ich Ihnen zur Last geworden bin. Ja!« sagte sie und brach in Tränen aus. »Wenn man schon die Wahrheit sagen soll, so schämen Sie sich unserer Liebe. Sie geben sich alle Mühe, daß die anderen Maler nichts merken, obwohl Sie es gar nicht verheimlichen können und alle schon alles wissen.«

»Olga, ich bitte Sie nur um das eine,« sagte der Maler flehend und drückte sich die Hand ans Herz: »Nur um das eine: quälen Sie mich nicht! Sonst will ich von Ihnen nichts.«

»Schwören Sie aber, daß Sie mich immer noch lieben!«

»Das ist ja ein Martyrium!« sagte der Maler durch die Zähne und sprang auf. »Das endet noch damit, daß ich mich in die Wolga stürze oder verrückt werde! Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Gut, töten Sie mich, töten Sie mich!« schrie Olga Iwanowna. »Töten Sie mich!«

Sie brach wieder in Tränen aus und zog sich hinter den Verschlag zurück. Auf dem Strohdache rauschte der Regen. Rjabowskij griff sich an den Kopf, ging einmal durchs Zimmer, setzte sich mit so entschlossener Miene, als wollte er jemand etwas beweisen, die Mütze auf, nahm das Gewehr und ging aus dem Hause.

Als er fort war, lag Olga Iwanowna lange auf dem Bette und weinte. Zuerst dachte sie sich, daß es gut wäre, Gift zu nehmen, damit Rjabowskij sie schon als Leiche antreffe; dann dachte sie aber wieder an ihren Salon, an das Arbeitszimmer ihres Mannes und stellte sich vor, wie sie unbeweglich an Dymows Seite sitzt und die physische Ruhe und Reinheit genießt und wie sie am gleichen Abend in der Oper den Masini hört. Vor Sehnsucht nach der Kultur, nach dem Lärm der Stadt und den Berühmtheiten krampfte sich ihr Herz zusammen. Die Bäuerin trat in die Stube und heizte den Herd ein, um das Mittagessen zu kochen. Die Luft füllte sich mit Ofendunst und wurde blau vor Rauch. Später kamen die Maler in schmutzigen Schaftstiefeln, die Gesichter naß vom Regen; sie sahen sich die Skizzen und Studien an und sagten sich zum Troste, daß die Wolga auch bei schlechtem Wetter ihre Reize habe. An der Wand tickte eine billige Uhr . . . Die erfrorenen Fliegen drängten sich in der Ecke bei den Heiligenbildern und summten, und man hörte, wie sich in den dicken Skizzenmappen unter den Bänken die Schwaben regten . . .

Rjabowskij kam heim, als die Sonne unterging. Er warf seine Mütze auf den Tisch, ließ sich blaß und müde, mit schmutzigen Stiefeln auf die Bank sinken und schloß die Augen.

»Ich bin müde . . .« sagte er und bewegte die Brauen, um die Lider zu heben.

Um ihm zu zeigen, daß sie ihm nicht zürne und ihm wieder gut sei, kam Olga Iwanowna auf ihn zu, küßte ihn stumm und fuhr ihm mit einem Kamm durch seine blonden Haare. Sie wollte seine Frisur in Ordnung bringen.

»Was ist?« fragte er zusammenfahrend, als hätte ihn etwas Kaltes berührt, und öffnete die Augen. »Was ist? Ich bitte Sie, lassen Sie mich in Ruhe.«

Er schob sie mit den Händen zurück und ging auf die Seite, und sie glaubte in seinem Gesicht Ekel und Aerger zu lesen. In diesem Augenblick brachte ihm die Bäuerin vorsichtig, mit beiden Händen einen Teller mit Kohlsuppe, und Olga Iwanowna sah, wie sie ihre Daumen in der Suppe badete. Das schmutzige Weib mit dem zusammengeschnürten dicken Bauch, die Kohlsuppe, die Rjabowskij mit Gier zu essen begann, die Bauernstube und dieses ganze Leben, das sie früher seiner Einfachheit und malerischen Unordnung wegen so sehr geliebt hatte, – das alles erschien ihr jetzt entsetzlich. Sie fühlte sich gekränkt und sagte kühl:

»Wir müssen uns für einige Zeit trennen, sonst können wir uns vor lauter Langeweile ernsthaft verzanken. Ich habe es satt. Heute reise ich ab.«

»Wie? Auf des Schusters Rappen?«

»Heute ist Donnerstag, um halb zehn geht also der Dampfer.«

»So? Ja gewiß . . . Nun, verreise . . .« sagte er mild, sich den Mund statt mit einer Serviette mit einem Handtuch wischend. »Du langweilst dich hier und hast nichts zu tun. Ich müßte ein großer Egoist sein, um dich zurückzuhalten. Reise nur heim, und nach dem Zwanzigsten sehen wir uns wieder.«

Olga Iwanowna packte ihre Sachen in bester Laune, und ihre Wangen röteten sich vor Freude. – Ist es denn wahr, – fragte sie sich, – daß ich meine Skizzen bald in meinem Salon malen, im Schlafzimmer schlafen und auf einem Tischtuch essen werde? – Eine Last war ihr vom Herzen gefallen, und sie zürnte Rjabowskij nicht mehr.

»Die Farben und Pinsel lasse ich hier zurück, Rjabuscha,« sagte sie. »Was davon übrig bleibt, wirst du mir zurückbringen . . . Paß auf, wenn ich fort bin, sollst du keine Grillen fangen und nicht faul sein, sondern arbeiten. Du bist ja ein tüchtiger Kerl, Rjabuscha.«

Um zehn Uhr gab ihr Rjabowskij den Abschiedskuß, wie sie glaubte, um sie nicht auf dem Dampfer in Gegenwart der anderen küssen zu müssen. Dann begleitete er sie zum Landungsplatz. Bald kam das Schiff und nahm sie mit.

Sie kam nach Hause nach zweieinhalb Tagen. Ohne den Hut und den Regenmantel abzulegen, ging sie, vor Aufregung schwer atmend, in den Salon und dann ins Eßzimmer. Dymow saß ohne Rock, in aufgeknöpfter Weste vor dem Tisch und wetzte ein Messer an einer Gabel; auf dem Teller vor ihm lag ein Feldhuhn. Als Olga Iwanowna die Wohnung betrat, war sie überzeugt, daß sie alles vor dem Manne verheimlichen müsse, daß sie es fertig brächte und daß sie die Kraft dazu haben würde; als sie aber jetzt sein breites, mildes, glückliches Lächeln und seine freudestrahlenden Augen sah, überkam sie das Gefühl, daß das Geschehene vor ihm zu verheimlichen ebenso gemein, ekelhaft und unmöglich wäre, wie einen Menschen zu verleumden, zu bestehlen oder zu ermorden. Es gab einen Augenblick, wo sie entschlossen war, ihm alles zu sagen. Nachdem sie sich von ihm hatte küssen und umarmen lassen, sank sie vor ihm in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Was ist denn? Was hast du, Mama?« fragte er zärtlich. »Hast dich nach mir gesehnt?«

Sie hob ihr Gesicht, das vor Scham ganz rot war, und blickte ihn schuldbewußt und flehend an; aber die Angst und die Scham hinderten sie, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Es ist nichts . . .« sagte sie. »Ich bin nur . . .«

»Setz' dich,« sagte er. Er half ihr aufstehen und nötigte sie in einen Stuhl. »So . . . Iß das Feldhuhn. Bist wohl hungrig, du Aermste.«

Sie atmete gierig die ihr vertraute Luft ein und aß das Feldhuhn, und er blickte sie mit Rührung an und lachte vor Freude.


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