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Der »Kulturkampf«

Glaube und Wissenschaft

Die heutige religiöse und kulturelle Situation spiegelt sich anschaulich in unseren Universitäten: neben drei, vier weltlichen, wissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten haben wir die theologische Fakultät. Offiziell werden zwei Weltanschauungen dargeboten, die sich durch ihre Methode, ihre Lehre und ihren Zweck unterscheiden. Auf der einen Seite steht die Wissenschaft mit der wissenschaftlichen Philosophie, für welche Erfahrung und Verstand die Quelle aller Erkenntnis sind, auf der andern Seite die kirchliche Theologie, die als ihre Erkenntnisquelle Offenbarung und Kirchenautorität bezeichnet. Derselbe Staat erhält und bezahlt ihre Verkünder und ihre Einrichtungen; beide kritisieren einander nicht nur gegenseitig, sondern lehnen einander ab und schließen sich aus. Das ist, kurz gesagt, der »Kulturkampf«, wenn die Konflikte sich auch nicht immer direkt und offen abspielen.

»Heute ist dieser Kampf vielleicht schon ausgetragen, nicht? Es scheint wenigstens, daß die Menschen andere Sorgen haben.«

Ausgetragen, also beendet, ist er nicht. Gewiß wird er zeitweise radikaler und ausgeprägter geführt, ein andermal ruhiger und indirekter, aber es ist ein chronischer Konflikt. Offenbar ist er der Gährstoff der Kulturentwicklung. Die Menschen werden sich nicht genügend bewußt, daß der geistige Antagonismus in Europa schon viel länger als zwei Jahrtausende dauert. Seine Anfänge liegen bei den Griechen. Als Wissenschaft und Philosophie sich von der traditionellen Mythologie und dem Polytheismus befreiten, entstand der Antagonismus: Sokrates ist das typische, schöne Beispiel des Denkers und eines der ersten Opfer dieses Kulturkonfliktes. Nach Sokrates steht die Philosophie ethisch und religiös stets gegen die Volksreligion. Das Christentum setzt den Kampf gegen Polytheismus und Mythologie fort und festigt seine Theologie mit Hilfe der griechischen Philosophie, obgleich es zugleich apologetisch mit dieser Philosophie im Streite liegt; aber dabei übernimmt es von der griechischen und orientalischen Welt auch viele mythologische, religiöse und kultische Elemente. Das heißt, es übernimmt den ganzen klassischen Konflikt. Seit jener Zeit dauert er unaufhörlich fort.

»Ich möchte sagen, mit Ausnahme des Mittelalters.«

Nicht ganz. Das Mittelalter strebt zwar nach Einheit, verwirklichte sie aber nicht ganz. Da ist immerfort Apologetik und Polemik, wenn auch schwächer als in der anfänglichen Kirche. Polemiken mit dem Islam gab es weniger als mit der antiken Philosophie schon deswegen, weil sie militärisch ausgetragen wurden. Die Kirche organisierte sich ihre Philosophie – die Scholastik – als »Dienerin der Theologie«; aber gerade die Unterwerfung weist auf den innern Antagonismus hin – wie jede Unterjochung. Die Scholastik untergrub durch ihre eher klügelnde als sachliche Vernünftelei, durch ihre Verteidigung der Theologie de facto die Kirchenautorität; es ist ja eigentlich eine contradictio in adjecto, wenn das Wort Gottes, das durch Gott geoffenbarte Wort, durch Menschenverstand verteidigt werden muß und dieser Verstand, die Kritik, die Spekulation den Wert der verschiedenen Offenbarungen und der religiösen Lehren entscheiden muß. Verstand muß den Wert der Lehren Mosis, Jesu, Mohammeds entscheiden! Die Scholastiker halfen sich schon im elften Jahrhundert mit der Lehre von den zwei Wahrheiten aus – das ist doch der aufgelegte Antagonismus. Und nehmen Sie das fortwährende Entstehen von Ketzertum und Sekten und die Polemik gegen sie, die durch Feuer und Schwert bekräftigte Polemik: das ist ein unaufhörlicher »Kulturkampf«. Die Definition des Vinzenz von Lerinum gilt und galt stets nur für die begriffliche und ideale Katholizität.

Die mittelalterliche Kirche verschaffte ihrer Autorität Geltung, diktierte die einheitliche Weltanschauung durch ihren geistigen und politischen Absolutismus. Aber dieser Absolutismus blieb nicht lange erhalten, er konnte sich nicht erhalten, denn er trug das Erbe der verstandesmäßigen und weltlichen Antike in sich. Die Scholastik bereitete durch ihre immerwährende Apologetik, ihren Logizismus und die Anrufung des Verstandes, durch ihre Aufnahme der antiken Philosophie, vor allem des Aristoteles, in dem der griechische Rationalismus gipfelt, die Reformation, den Humanismus und die Renaissance vor. So entsteht die neue Zeit, die bewußt die ältere Zeit überwindet – Neuzeit gegen Mittelalter. Es entsteht die moderne Wissenschaft und die moderne, auf der Wissenschaft beruhende Philosophie. Auch die Kunst hört auf, ausschließlich der Kirche zu dienen. Die Renaissance kennzeichnet schon durch ihren Namen den Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit.

Auch der Staat und die ganze gesellschaftliche Einrichtung befreien sich von der Kirche. Die katholische Theologie gerät einerseits mit der Wissenschaft und der neuen Philosophie in Konflikt. Last not least auch mit den neuen Staatsauffassungen. Die neuen protestantischen Theologiesysteme standen der neuen Philosophie und Politik näher als der Katholizismus; der Protestantismus nahm den Grundsatz des religiösen Individualismus an, hob das Priestertum auf und schwächte dadurch prinzipiell das Kirchentum, die theokratische Hierarchie. Allerdings machte dann auch der Protestantismus den kirchlichen und theologischen Absolutismus geltend – Calvin ließ Servet verbrennen.

Überhaupt ist das Mittelalter in seinem Wesen sehr uneinheitlich. Die kirchliche und politische Einheit, die einheitliche Weltanschauung waren künstlich, waren durch die Autorität, durch physische und geistige Gewalt herbeigeführt. Und darum brach die neue Zeit an, die bewußte kirchliche und dann auch politische Revolution gegen die mittelalterliche gesellschaftliche Organisation.

Die neue Zeit ist durch ihre Entwicklung charakteristisch; gegenüber der Kirche gewinnt der Staat eine immer größere, weitere Macht, die Verstaatlichung aller gesellschaftlichen Funktionen und Kräfte beginnt; an Stelle des kirchlichen tritt der staatliche Absolutismus. Der Protestantismus, besonders der lutherische, unterstützt in gewissem Maße auch ihn; durch den Kampf gegen Katholizismus und Papsttum wurde der Staat gestärkt. Es ist kein Zufall, daß ein hervorragender protestantischer Theologe der Neuzeit zu der Anschauung gelangte, die Kirche könnte verschwinden und die gesamte Führung der Gesellschaft dem Staat überlassen. Auch der Katholizismus hilft in dieser Zeit dem Staat, indem er die Gegenreformation mittels der Staatsmacht vollzieht – hier und da half der Staat den Kirchen zu seinem Vorteil.

So ist der Konflikt der verstandesmäßigen Philosophie und Wissenschaft mit der Theologie, der Streit und Kampf der kritischen Vernunft mit der kirchlichen und religiösen Autorität chronisch, durch die Natur und die Entwicklung des menschlichen Denkens selbst gegeben. Wissenschaft und Philosophie entwickeln sich schon bei den Griechen und noch heute aus dem anfänglichen Mythos: der Menschengeist wird reifer, indem er sich von der Mythologie befreit. Allerdings geschah und geschieht dieses Entmythologisieren, dieses wissenschaftliche Umträumen allmählich; erst drang in den Mythos ein wenig Wissenschaft ein, dann faßte ein wenig Mythos Fuß in der Wissenschaft. Die Menschheit konnte selbstverständlich nicht warten, bis ihr Wissenschaft und Philosophie eine fertige, vollständige, logisch einheitlich ausgebaute, wissenschaftlich genaue Welt- und Lebensanschauung darboten; die Menschen wollten Welt und Leben sofort erklärt haben, um jeden Preis; und die ursprüngliche Erklärung war und ist stets mythisch. Es versteht sich, daß die Kritik, wenn der Konflikt in akuter Weise aufflammt, auf dieser und jener Seite oft durch die gegnerische Verneinung ersetzt wird: die Kirche will die Wissenschaft unterdrücken, die Wissenschaft die Religion widerlegen. Aber die Verneinung ist und kann nicht das Ziel sein, es handelt sich um die positive Entwicklung, um den Fortschritt, um die Vervollkommnung auf dieser und jener Seite.

»Läßt sich aber der Glaube durch die Erkenntnis vervollkommnen?«

Achtung auf das Wort Glaube! Psychologisch ist der Glaube ein Urteil und die Überzeugung, daß das Urteil richtig sei; in diesem Sinne ist der Glaube eine wesentliche Tätigkeit des Verstandes, und es gibt keine Erkenntnis ohne Glauben. Es geht noetisch darum, ob unser Glaube wissenschaftlich, kritisch ist oder ob wir an Stelle der richtigen Beobachtung und Begründung das glauben, was wir uns wünschen; es geht darum, ob wir der Autorität glauben oder dem kritischen Verstand. Auch die Wissenschaft glaubt, aber mit Gründen.

Der positive Fortschritt: Die griechische Philosophie stellte sich zum Beispiel gegen die volkstümliche Mythologie und den religiösen Polytheismus; sie arbeitete sich aus dem Mythos zu den Anfängen der Wissenschaft und in religiöser Beziehung zum Monotheismus durch. Deswegen kam diese Philosophie dem jüdischen und christlichen Monotheismus gelegen und half die christliche Theologie aufzustellen. Die griechischen Philosophen waren auch so weit, die Humanität, die Allmenschlichkeit, die Gleichheit aller Menschen zu verkünden; das setzte das Christentum durch seine Verkündigung der Liebe und Menschlichkeit fort. Darin liegt solch ein Stück positiver Entwicklung: die christliche Theologie als Fortsetzung der antiken Philosophie, obgleich sie ex thesi gegen sie gerichtet war. Und in ähnlicher Weise weiter: die Theologie baute ihre christliche Philosophie aus, diese aber öffnete nolens volens der modernen, wissenschaftlichen Philosophie den Weg. Und was die heutige Wissenschaft betrifft, so stehen wir nur an der Schwelle der Erkenntnis, aber um wieviel tiefer kann unser Verstehen der Welt- und Lebensordnung durch jede neue wissenschaftliche Erkenntnis werden! Je mehr wir unser Bild von Welt und Leben erweitern und vertiefen, desto besser erkennen wir oder können wir Gott, den Schöpfer und Lenker, erkennen.

Die Philosophie ist ein Organ der Wissenschaft, der Wissenschaftlichkeit, des Kritizismus, die Theologie ein Organ des Mythos und des Mythizismus. Der Mythizismus ist nicht tot, vielleicht kann er nicht einmal tot sein. Die Gelehrten und Philosophen übersehen im Eifer des Gefechtes gegen die Theologie, daß diese nicht die Religion ist. Was sagt es, daß Religion und Kirche trotz dem uralten Kampf der Theologie mit der Wissenschaft und Philosophie fortbestehen? Die Religion ist eben nicht nur eine theoretische Frage, es handelt sich bei ihr nicht nur um die Lebens- und Weltanschauung, nicht nur um die Theologie, sondern sie ist eine Frage des Lebens selbst, eine praktische Angelegenheit. So lange die Kirchen die religiösen Bedürfnisse der Menschen befriedigen, leben sie selbst. Den Philosophen würde es mitunter nicht schaden, sich bewußt zu werden, daß viele, viele metaphysische Systeme, die sie mit ernster Miene dozieren, in sachlicher, wissenschaftlicher Hinsicht um nichts besser sind, um nichts weniger mythologisch als die Theologie. Und gibt es zwischen den philosophischen Systemen nicht auch fortwährende Konflikte und Kämpfe?

»Da ist allerdings ein Unterschied: die Philosophie versucht den Menschen zu überzeugen, will aber nicht die Herrschaft über die Seelen ausüben.«

Das will sie nicht? Sie tut es, nur mit anderen Mitteln; ist denn der wissenschaftliche Unterricht nicht auch eine Lenkung der Seelen? Haben wir nicht auch wissenschaftliche Kirchen, Sekten und Ketzer? Der Gelehrte und Philosoph teilt seine Gedanken und Forschungen dem Menschen ebenso mit, wie Priester und Prediger ihre Lehre den Menschen predigen. Alles Denken und Handeln ist nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich; wir denken nicht nur für uns, sondern auch für die andern und mit ihnen. Ja, wenn die Philosophie könnte, würde sie manchmal auch befehlen wollen. Auch Gelehrte und Philosophen pflegen allein seligmachend und unfehlbar zu sein. Gelehrte und Philosophen sind doch auch nur Menschen, und Menschen geht es nicht immer nur um Wahrheit, sondern auch um Ruhm, Ansehen, das tägliche Brot und wer weiß was!

»Das bedeutet, daß man sich vorsehen muß, im ›Kulturkampf‹ nicht den Teufel durch Beelzebub zu verjagen.«

Und nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Immerfort wird im Kampf mit Religion und Theologie vergessen, daß die Religion nicht nur Lehre, nur Theologie, sondern Lebenspraxis ist, daß sie das ganze Leben der Gläubigen durchdringt und erhebt.

Sagen wir: Durch ihren Kult und ihre Zeremonien hat die Kirche ihre Poesie. Ich erinnere mich, wie Björnson den Einfluß der Kirche auf ein Dorf schildert. Man stelle sich das nur richtig vor: wie schon das ungewöhnliche, architektonische und symbolisch eindrucksvolle Gebäude auf den einfachen Menschen und besonders auf das Kind, das nur seine arme, enge Stube kennt, wirkt; die Dorfleute sehen sich alle in der Kirche versammelt, alle festlich gekleidet und gewaschen, vom Bürgermeister angefangen – ehemals vom Feudalherrn – bis zum letzten Untergebenen, und alle gehören zu einem einzigen Ganzen; da kommen die jungen Leute zusammen, die Liebespaare in ihrem herrlichsten Schmuck – auch das gehört zur Sache; in der Kirche hören die Leute Musik, oft schöne Musik, und singen eines Sinnes mit; Statuen, Gemälde, Weihrauchfässer, das alles wirkt geradezu sinnlich auf sie ein. Der Kult und die einzelnen Zeremonien sind auch ein Theater, Drama und großes Symbol zugleich, Schauspiel und Aufforderung zum Nachdenken; die Predigt ist ein Musterstück von Rhetorik, Diskussion und Polemik, ein Beispiel, wie ein gegebenes Thema zu entwickeln ist. Was gibt es da für starke Eindrücke, was für einen Schmaus für Sinne und Seele des Menschen, was ist das für die Kinder! Was war das einst für mich! Es genügt eben nicht, Kirche und Theologie theoretisch zu verneinen; Religion und Sittlichkeit werden praktisch erlebt; man kann den Menschen eine andere Lehre geben, aber was soll man ihnen statt der religiösen Hoffnung und Fülle bieten? Allein lebendige Religion kann unlebendige, nur vegetierende Religion und Kirchentum ersetzen. Darin irren Philosophen und Theologen; die Theologie ist, wie gesagt, nicht Religion, sondern die Theorie von der Religion; Philosophie kann die Theologie ersetzen, nicht aber die Religion. Allerdings legen oft auch die Kirchen größeres Gewicht auf ihre Theologie, auf die Rechtgläubigkeit als auf den sittlichen Lebensinhalt der Religion. Aber ist das nicht ebenso – zum Beispiel in den politischen Parteien? Eine menschliche Schwäche: wir legen mehr Wert auf Worte als auf Tatsachen ...

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Masaryk mit seiner Tochter Olga und seinen Enkeln

Toleranz

Im geschichtlichen Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche sehe ich nur einen Weg: in dem beständigen Bestreben nach Erkenntnis die Frömmigkeit nicht zu verlieren. Der anständige, ehrenhafte Mensch wird tolerant sein, wird auch gegen sich selbst und seine Ansichten kritisch sein. Ich denke an Augustinus: in necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas. Freilich hat auch dieser Augustinus die Todesstrafe für Ketzer gebilligt.

»Und doch blicken, wie Sie wissen, Gläubige und Ungläubige auf die Toleranz mit Mißtrauen: »Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.«

Ja, aber die Toleranz ist weder lau noch bequem, sie ist nicht schwankend und unbestimmt; auch in der Toleranz muß Tapferkeit und Konsequenz sein. Die Toleranz ist nicht Gleichgültigkeit, ist keine sittliche und religiöse Weichheit und kein Mangel an Überzeugung. Ich habe dem heutigen Liberalismus immer seine Indifferenz in religiösen und sittlichen Dingen vorgeworfen. Wo lebendiges Interesse und Teilnahme ist, kann es keinen Raum für Indifferenz geben. Ich erkenne das laisser faire nicht an. Das ist keine Mitarbeit. Unter Liberalismus versteht man jetzt gewöhnlich nur ein politisches und wirtschaftliches Programm; das umfaßt ihn nicht ganz. Der Liberalismus ist als »freies Denken« in erster Reihe gegen die Theologien und Kirchen, in zweiter gegen die politische Unfreiheit entstanden. Aber die Freiheit ist kein leerer Rahmen, in den jeder einfügen kann, was er will; die wahre Freiheit schafft Raum für besseres Erkennen, bessere Organisation und vernünftiges Tun. Die Toleranz ist eine moderne Tugend, ist echte Humanität; wir sind uns bewußt, von der Natur verschieden und mannigfaltig begabt zu sein; darum gelangen wir zu geistiger und gesellschaftlicher Einheitlichkeit nicht durch Diktat und Gewalt, sondern durch Anerkennung der verschiedenartigen Gaben der menschlichen Natur und ihre Harmonisierung. Zur Einheit können wir heute und in Zukunft nur durch Harmonie, durch Mittätigkeit und daher durch Toleranz gelangen. Ich habe ein gutes Zitat aus Goethe zur Hand: »Die verschiedenen Denkweisen sind in der Verschiedenheit der Menschen gegründet, und eben deshalb ist eine durchgehende gleichförmige Überzeugung unmöglich. Wenn man nur weiß, auf welcher Seite man steht, so hat man schon genug getan; man ist alsdann ruhig gegen sich und billig gegen andere.« (Goethe an Reinhard.)

Die Theologen klagen oft – angeblich im Interesse der Religion – den Verstand und die moderne Skepsis an. Mit Unrecht. Denn die Theologie selbst ist nur dazu da, die religiöse Lehre für den Verstand zu begründen. Was entscheidet letzten Endes über den Wert der verschiedenen Kirchen und Dogmen in ihrem unaufhörlichen Streit? Wieder nur der Verstand. Und was die Skepsis betrifft, so ist sie nicht Gottlosigkeit; der wirkliche Feind der Religion, die wahre Gottlosigkeit und der Abfall von Gott ist die Indifferenz, die Gleichgültigkeit und der Zynismus. Indifferentismus und Zynismus sind das Grab der Religion und des geistigen Lebens überhaupt, sie sind der geistige Tod. Mancher Skeptiker, ja Atheist hat mehr Religion als solch ein religiös gleichgültiger Kirchengänger. Jesus stand sein Leben lang gegen die Matrikelgläubigen; den Herren des Tempels von Jerusalem kam er gottlos vor.

Es ist wahr, daß die Menschen mitunter dieses Streites müde sind, das Herz zieht sie sowohl zur Wissenschaft als auch zum Glauben, sie möchten weder das eine noch das andere verlieren, und da suchen sie ein Kompromiß, machen Zugeständnisse ... ich verfolge diese Versuche, sehe aber keinen rechten Weg in ihnen. In der neuesten Philosophie wird ein gewisser Irrationalismus verbreitet, man läßt den Willen, das Gefühl oder den Instinkt entscheiden. Der Ruf nach dem Mythos erschallt wieder, als wäre der Mythos Religion. Das ist ein großer Irrtum: weder Mythos, noch Theologie, noch Wissenschaft, noch Philosophie sind Religion. Religion kann man mythisch und theologisch auffassen; aber das eine wie das andere ist nur Theorie von der Religion, während die Religion – eben Religion ist, das Leben in Gott und mit Gott.

Und der Ruf nach dem Mythos! Als gäbe es nicht moderner Mythen und Mythologen genug! Kant gerät durch seinen Apriorismus in den Mythos und gibt am Ende einen »subtileren« Anthropomorphismus zu, Schelling, Fichte, Hegel sind Schöpfer von Mythen, Nietzsche schafft den Mythos vom Übermenschen, Comte wird zum philosophischen Fetischisten, Darwin, Häckel und die Monisten stecken bis zum Kopf im Mythos – wir haben keinen Grund, zum Mythos zurückzukehren. Die Aufgabe besteht immer darin, kritisch zu denken – und fromm zu leben.

Staat und Kirche

»Ich glaube, wenn die Kirchen nur mit der Philosophie und Wissenschaft im Streite lägen, so wäre der Konflikt mehr oder weniger ein Kathederstreit ... Ich will sagen, kein so geschichtlicher und massenhafter, wie er wirklich ist. Es handelt sich hier doch um einen Konflikt zwischen der kirchlichen und der weltlichen gesellschaftlichen Ordnung.«

Sie haben recht. Also historisch: die Kirche entstand im römischen Staat; der Staat war im Altertum die einzige allumfassende Organisation der Gesellschaft, und daher war er so mächtig. Erinnern Sie sich daran, daß die römischen Kaiser – so wie die orientalischen Despoten, vielleicht auch unter dem Einfluß des Orients – vergottet wurden; das römische Prinzipat und der Cäsarismus waren schon unmittelbare Theokratie. Augustus führte eine religiöse Reform durch, und die Verfolgung der Christen entsprang theokratischen Anschauungen. Die mittelalterliche Kirche siegte philosophisch und organisatorisch über das Imperium, es entstand eine vollkommenere, nämlich religiösere Theokratie. Die Entwicklung der Neuzeit seit der Reformation und Renaissance, die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung habe ich schon als allmähliche Entkirchlichung charakterisiert; mit ihr ging die kulturelle Differenzierung Hand in Hand. Die mittelalterliche Kirche bemächtigte sich der Religion, der Anschauungen, des Wissens und Denkens und leitete sie; sie machte sich die Kunst untertänig; sie monopolisierte für sich die Caritas, die soziale Fürsorge, die Spitäler und die gesamte Erziehung; sie schloß die Ehen; sie griff in die internationalen Beziehungen ein und lenkte die Zivilisierung der Kolonien. In ihr lebte der Geist des Universalismus und der Weltlichkeit des römischen Imperiums. Und nun beachten Sie, wie sich eins nach dem andern von diesem kirchlichen Großorganismus abspaltet: die neuen Kirchen teilen sich ab und richten sich für sich selbst ein; die Wissenschaften, die Philosophie, die Kunst erobern sich die Unabhängigkeit von der Kirche; die Staaten, in der mittelalterlichen Theokratie der Kirche noch untergeordnet, eignen sich die Führung der Gesellschaft auf allen Gebieten an: der Staat übernimmt das Schulwesen, die Erziehung, die humanitäre Fürsorge, die soziale Gesetzgebung. Das alles ist die wirkliche, wenn auch stille Trennung des Staates von der Kirche, die auf die formale Trennung gar nicht gewartet hat. Der mittelalterliche Katholizismus mit seiner Universalität und Internationalität war gut und notwendig; er rettete die griechische und römische Zivilisation vor dem Ansturm der Barbaren – nicht umsonst bewahrte die Kirche die Sprachen des römischen Imperiums – und gab der ganzen europäischen Bildung eine von Grund aus internationale, übernationale, weltliche Basis. Die Kirche gab den europäischen Stämmen und Völkern die Weltlichkeit, die Sendung, in die ganze Welt hinauszugehen und alle Nationen zu lehren. Der Jahrhunderte alte Prozeß der Entkirchlichung, der Verweltlichung, der kulturellen Differenzierung ist und wird auch weiter geschichtlich notwendig sein, er läßt sich weder umkehren noch aufhalten. Kirche und Religion müssen da ihre gebührende Stelle finden und sich ihrer neuen Aufgabe bewußt werden.

Ich habe schon gesagt, daß die Macht des Staates nicht allein durch die Entkirchlichung, sondern auch durch die Allianz mit den Kirchen gewachsen ist; die Entkirchlichung ist ein langer, bisher unabgeschlossener Prozeß. Die katholischen Dynastien führten die Gegenreformation durch, die protestantischen die Reformation – das wurde die Grundlage des staatlichen Absolutismus. Aber gegen ihn entstanden und entstehen die politischen Revolutionen, so wie gegen den Kirchenabsolutismus die Reformationsrevolutionen entstanden sind; aus der kirchlichen Krise ging die staatliche und politische Krise hervor, und auch die schreitet fort. Diesen kulturellen Prozeß begreifen die Kirchen nicht genügend und können sich mit ihm nicht abfinden, sie ringen um ihre verlorene Macht. Wenn sie sich in die veränderten Verhältnisse einleben würden, so fänden sie eine andere und höhere Funktion für sich: eine rein geistliche, wahrhaft religiöse Funktion. Je mehr sich die Weltordnung verweltlicht, desto mehr könnten und sollten sich die Kirchen der reinen, fleckenlosen Religion widmen – der Religion Jesu: die Welt wahrhaft christianisieren, nicht durch Macht, sondern durch Liebe.

Der kulturelle Prozeß ... Ein so massenhaftes, epochales Geschehen spielt sich letzten Endes in der Seele der Einzelmenschen ab. Ich beobachte, so lange ich lebe, wie der Konflikt zwischen Theologie und Philosophie, zwischen geistlicher und weltlicher Ordnung sich in der Zerrissenheit, Spaltung und Halbheit unserer Zeit und der heutigen Charaktere verhängnisvoll äußert. Dieses Problem behandelte ich schon im »Selbstmord«, aber ich kehre immer wieder dazu zurück, zuletzt in der »Weltrevolution« ... Ich habe nie gedacht und geschrieben, um mein philosophisches System aufzubauen, sondern weil mich die Krise der Zeit dazu trieb und drängte. Selbstverständlich erlebte ich sie selbst an mir ... für mich und für andere.

»Sie sprechen von der Krise der Kirche. Ist heute nicht auch die Religion in einer Krise?«

Nicht in dem selben Maße, abgesehen davon, daß eine Krise nicht Ende und Untergang ist, sondern eben nur eine Krise. Gewiß sind wir nicht am Ende der Religion. Das, was viele als endgültige Abkehr von der Religion ansehen, ist manchmal die Sehnsucht nach einer anderen, lebendigeren, reineren und vollendeteren Religion. Aber es ist richtig, daß auch eine wissenschaftliche Ochlokratie der Intelligenzmandarine, ich möchte sagen, der Hochnäsigen aus Wissenschaft und Halbwissenschaft entsteht; und jede Ochlokratie dauert nur eine Zeitlang.

Sie sehen ja, daß sich für die Religion jetzt Philosophen und Gelehrte vielleicht wirkungsvoller einsetzen als Theologen. Das ist nichts Merkwürdiges: Wissenschaft und Philosophie müssen sich bewußt sein, daß sie die Religion nicht ersetzen können ... Die religiöse Krise ist praktisch die Krise der christlichen Kirchen. Das strittige Hauptproblem zwischen Theologie und Wissenschaft bleibt die Offenbarung, ob nämlich die Religion auf Offenbarung beruhe oder eine natürliche Religion möglich sei. Ganz schroff formuliert, geht es um die Göttlichkeit Jesu. Die Orthodoxie behauptet, das Christentum sei von Gott Jesus gegründet, seine Lehre sei die Offenbarung Gottes, die Kirche eine Einrichtung Gottes; daraus ergeben sich die weiteren Folgerungen von Lehre und Praxis. Dem gegenüber behauptet die natürliche Religion, Jesus sei ein Mensch gewesen wie jeder andere, und sieht eben darin, daß der Mensch allein, ohne Wunder, sich so hoch erhoben habe, eine höhere Bestätigung des Christentums. Die Religion wird dadurch eine natürliche Begabung des Menschen, wie Wissenschaft, Kunst und Ähnliches, und kann durch unser eigenes Streben vervollkommnet werden wie die anderen Gaben der menschlichen Natur. Unser Leben empfängt besondere Werte, wenn der Mensch aus sich heraus so vollendet sein kann, wie Jesus es gefordert und als Mensch gekannt hat. Ich wiederhole, daß ich kein Theologe bin, kein Religionslehrer, sondern nur ein religiös gläubiger Mensch; Jesu nachzufolgen, das ist mir alles.

»Sind Sie für die religiöse Erziehung der Kinder?«

Allerdings bin ich dafür; das ergibt sich ja aus dem Wert der Religion. Aber für die religiöse Erziehung genügt nicht der Katechismusunterricht in der Schule. Die Schule ist heute eine wissenschaftliche Anstalt, das heißt, auf den Erkenntnissen der Wissenschaften gegründet; wenn in ihr der orthodoxe Katechismus gelehrt wird, so stellt sich notwendigerweise die theologische und religiöse Krise schon in der Kindheit und Jugend ein. Darüber braucht gar nicht gesprochen zu werden, daß Religionsunterricht nicht religiöse Erziehung ist. Der Kampf um die Schule ist ein schweres Problem unserer Übergangszeit.

»Eine indiskrete Frage: Plädieren Sie für die Religion nur als Philosoph – oder auch als Politiker?«

Ich werde mit einer Erfahrung antworten. Als die Geistlichen in den Kirchen für die Republik und den Präsidenten zu beten anfingen, machte mich Švehla Tschechoslovakischer Staatsmann (1873-1933). Ministerpräsident 1922-1929. darauf aufmerksam, was das in politischer Beziehung für eine große Sache sei. Er hatte recht. Wir müssen es zu schätzen wissen, wenn eine so große, alte Organisation sich mit unserer weltlichen, demokratischen Ordnung aussöhnt. Mein Verhältnis zur Religion hat sich dadurch nicht geändert. Ich habe die Religion mein Leben lang verteidigt, ich besaß sie seit der Kindheit, sie verließ mich auch damals nicht, als ich für gottlos verschrien wurde ... Meine Religionsphilosophie habe ich Ihnen schon dargelegt. Und ich habe Ihnen auch gesagt, daß ich von Natur aus ein politischer Mensch bin; die religiösen Probleme müssen praktisch die durch ihre Begabung religiösen Menschen, die religiösen Genien und Führer lösen. Wir erleben eine Übergangszeit, uns fehlen Lehrer des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Als Theist glaube ich aber an die Zukunft der Religion.


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