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Schule und Lehrzeit

Lehrjahre

Mutter war es, die durchsetzte, daß ich die Schule besuchte, damit ich nicht so hart zu arbeiten brauchte wie die Eltern; als mich bei der Visitation sogar der Herr Dekan belobt hatte, schickte man mich auf die höhere Schule. Mutter stammte aus Hustopeč, und so ließ man mich dort die deutsche Realschule besuchen. Ich war bei einer Tante in Austausch; eine Kusine kam dafür zu uns. Ich dachte nicht daran, was ich werden möchte; eine Zeitlang, während bei uns im Haus ein Schneider nähte, lockte mich die Schneiderei. Mir gefiel auch das Schmiedehandwerk, das ich am häufigsten beobachten konnte. Es ist merkwürdig, ich war so fromm, aber niemals kam ich auf den Gedanken, Geistlicher zu werden. Ein Junge in einem verlorenen Dorf hat nicht viele lebende Vorbilder, die ihm den Weg weisen, über den landwirtschaftlichen und handwerklichen Gesichtskreis hinaus – den Lehrer, den Kaplan und den Dekan, den Doktor, die Herren auf dem Gut und ihre Dienerschaft oder noch den Kaufmann. Was ein Junge wird, darüber entscheiden nicht so sehr seine Gaben, sondern die nächste Gelegenheit.

Die Realschule in Hustopeč wurde von Piaristenpatres geleitet. Ich erinnere mich des Rektors, der ein wohlbeleibter, hübscher, älterer Mann war, und des Professors Vašatý; ich hatte ihn sehr gern; er war der erste Tscheche aus dem Königreich, den ich kennenlernte, und deshalb interessierte er mich. Er sprach mit mir über allerlei.

Ich lernte gut; besonders fesselte mich die Physik, eigentlich die Mechanik. Noch heute erinnere ich mich, wie erstaunt ich war, als der Professor uns darlegte, daß der einfache Schubkarren ein einarmiger Hebel um das Rad sei und den theoretischen mechanischen Formeln entspreche. Das öffnete mir geradezu einen neuen Ausblick auf das praktische Leben – ich hatte stets eine Vorliebe dafür, die Theorie der Vorgänge in der Natur, der Gesellschaft und der täglichen Arbeit zu suchen und die allgemeine Regel zu finden; damals war es wie die erste Offenbarung für mich.

Nach zwei Realschulklassen sollte ich an die Lehrer-Vorbereitungsanstalt kommen; dort wurden aber erst Knaben mit sechzehn Jahren aufgenommen, und so entstand das Problem, was man inzwischen mit mir beginnen sollte. Ich ging einige Zeit müßig und schlenderte herum. Das war in Hodonín; auf den Rat meiner früheren Herrschaft gaben mich meine Eltern nach Wien in eine Kunstschlosserei, weil ich ein wenig zeichnen konnte. Dort stellte mich der Meister bei einer Maschine zur Herstellung von Beschlägen für Stiefelabsätze ein. Man steckte einen Eisenstab in die kleine Maschine, zog den Hebel, und der gebogene Beschlag fiel heraus. Ich machte das einen, zwei Tage. Nachdem ich es aber eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen gemacht hatte, entlief ich nach Hause. Ich arbeitete immer gern; aber die stets gleiche Fabrikarbeit, die stets gleichen ein oder zwei Handgriffe hielt ich nicht aus! Vielleicht hätte ich noch ausgeharrt, aber einer meiner Mitlehrlinge stahl mir meine Bücher aus der Realschule; ich griff jedesmal, sobald ich mit der Arbeit fertig war, nach diesen Büchern und las in ihnen; als ich sie nicht mehr hatte, wurde mir so bange, daß ich nach Čejče davonlief. Besonders den Verlust eines Atlas trug ich schwer; darin war ich jeden Abend in der ganzen Welt herumgereist.

In Čejče gab mich Vater zum Herrschaftsschmied, unserm Nachbarn, in die Lehre. Warum nicht? Die Schmiedearbeit gefiel mir. Das ist eine Arbeit, zu der man Kraft und Gewandtheit braucht und bei der man nicht viel redet; das Eisen darf nicht kalt werden. Im Sommer wurde in der Schmiede oft von drei Uhr morgens bis zehn oder elf Uhr nachts gearbeitet, Pflüge ausgebessert und Pferde beschlagen. Aber diese Arbeit ist schön; der Schmied beim Feuer und am Amboß ist Herr der harten Materie. Noch als Gymnasiast überraschte ich einen Dorfschmied dadurch, daß ich aus einem nur ein einziges Mal geglühten Eisenstück einen Nagel schmieden konnte. Ich weiß nicht, ob die Finger meiner rechten Hand von der Arbeit mit dem Hammer so gekrümmt sind. Noch im Jahre 1887, in dem ich in Jasnaja Poljana war, betrachtete Tolstoj meine Hände und fragte mich, ob ich Arbeiter gewesen sei.

Vielleicht wäre ich beim Schmiedehandwerk geblieben; aber da kam mir ein Zufall dazwischen. Einmal trug ich dort in Čejče Wasser in Butten vom Brunnen in die Schmiede, als ein Herr des Weges kam und mir aufmerksam nachsah. Ich erkannte ihn – es war Professor Ludvík, der mir in Hustopeč Klavierunterricht erteilt hatte. Aber ich meldete mich nicht bei ihm. Ich schämte mich ein wenig, weil ich so verrußt aussah. Und ihm merkte ich an, daß er nicht erwartet hatte, mich als Schmiedelehrling zu sehen. Als ich nach Hause gekommen war, sagte Mutter: »Professor Ludvík war da und läßt dir bestellen, du sollst nach Čejkovice zu seinem Vater, dem Rektor, als Lehrerpraktikant gehen.« So fiel die Entscheidung. Ich war damals vierzehn Jahre alt. Die Vorbereitungsanstalt konnte ich erst nach zwei Jahren besuchen; darum sollte ich vorläufig in der Schule aushelfen, selbstverständlich ohne Gehalt. Der Rektor lehrte mich dafür nur Klavier spielen. – Nun gut, ich unterrichtete Knaben und Mädchen, so gut ich konnte, spielte eine Zeitlang an Wochentagen die Kirchenorgel und sang bei Begräbnissen, wie es die Kantoren damals tun mußten. Wenn ich bei den Begräbnissen mein Latein hersagte, warf mir Kaplan Satora vor, ich spräche es schlecht aus. Ich wollte auch verstehen, was ich hersagte. Damals hatte ich auch meinen ersten Konflikt mit der Kirchenobrigkeit. Ich legte den Kindern in der Schule nach dem, was ich in der Realschule gelernt hatte, dar, daß die Sonne stehe und die Erde sich um die Sonne drehe. Die Kinder erzählten das zu Hause, und die Mütter kamen zum Herrn Dekan, um sich darüber zu beklagen, daß ich die Kinder verdürbe, daß ich unerhörte Dinge gegen die Heilige Schrift lehre. Pater Franz brachte das in Ordnung. Ein paar Tage darauf war Jahrmarkt; die Bauern steckten die Köpfe zusammen und folgten mir in die Schule. Es gab mir innerlich einen Stoß, nun würde die Sache böse werden. Aber ich wollte mich nicht ergeben. Da trat einer von ihnen vor und sagte: »Herr Lehrer, gut, erklären Sie's den Kindern; nehmen Sie auf unsere alten Weiber keine Rücksicht und unterrichten Sie so weiter.« Dann griff einer nach dem andern in die Tasche und ließ mir auf dem Klavier ein Vier- oder wenigstens ein Einkreuzerstück zurück.

Gern vergrub ich mich in die Bücher. Im Schloß von Čejkovice waren von den Jesuiten alte Bücher aus dem 17. und 18. Jahrhundert zurückgeblieben, lauter Polemiken gegen die Protestanten; eine davon ist ziemlich bekannt, sie heißt »Vogel friß oder stirb« und bekämpft Luther in schauderhafter Weise. Ich verschlang diese Bücher geradezu und wurde ein so wütender Katholik, daß ich die Frau des Schmiedes, bei dem ich Lehrling gewesen war, zum Katholizismus bekehrte. Sie war eine Deutsche – ihr Mann hatte sie aus Deutschland mitgebracht –, und ich redete ihr so lange zu, bis sie übertrat. Es war für mich auch der erste Fall einer religiösen Mischehe, den ich damals allerdings rein vom katholischen Standpunkt aus betrachtete. In den deutschen Büchern gab es lateinische Zitate, die ich verstehen wollte. Das war ein weiterer Grund, Latein zu lernen. Ich begann damit allein und lernte nach einem alten Wörterbuch die Worte von A bis Z der Reihe nach auswendig. So eignete ich mir eine bedeutende copia verborum an, aber mit der Grammatik haperte es. Pater Satora erteilte mir dann regelmäßige Lateinstunden.

Auf seinen Rat legte ich in Strážnice die Prüfung der ersten Gymnasialklasse ab. So kam ich im Jahre 1865 in das deutsche Gymnasium in Brünn.

In Brünn

Ja, in Brünn ... Als ich dort in die zweite Gymnasialklasse kam, mußte ich mich schon selbst erhalten; die Meinen konnten mir keine regelmäßigen Zuschüsse geben, nur die Mutter kratzte, Gott weiß woher, immer wieder etwas für mich zusammen.

Ich wohnte zuerst bei einem Schuster in der Neugasse. Wir waren dort etwa sechs Jungen; für zwei Gulden monatlich hatte ich Wohnung, Frühstück und sogar Wäsche. Wie der Kaffee beschaffen war, kann man sich denken – aber er war wenigstens warm.

So mußte ich irgendwelche »Konditionen« auftreiben. Ich unterrichtete den Jungen eines Bahnbeamten. Der gab mir zwei Gulden monatlich und das Mittagessen am Sonntag – ich hätte drei solche Mittagessen verzehrt. Dann unterrichtete ich das Töchterchen eines Bäckers; der zahlte mir nichts, aber dafür durfte ich mir Brot nehmen, soviel ich aufessen konnte. Es waren sehr brave Leute, wir freundeten uns an. Ich war Primus in der Klasse und bekam deshalb eine Empfehlung als Präzeptor in der Familie des Polizeidirektors Lemonnier; das war vielleicht der angesehenste Mann in Brünn. Dort bekam ich später täglich mein Essen, und so unterhielt ich auch meinen Bruder während des Studiums; aber ihm ging das Lernen nicht in den Kopf. Uns Jungen, die wir zusammen wohnten, verging die Zeit recht fröhlich; abends, nach der Arbeit, trieben wir allerhand Spaß, im Sommer gingen wir irgendwohin nach Zábrdovice zum Baden und aßen für sechs Kreuzer im Bräuhaus zu Abend: Brot, Käse und ein Seidel Bier. Ja, das waren Zeiten!

In Brünn gefiel es mir, weil ich an die Bücher herankam. Es versteht sich, daß mir in dem deutschen Gymnasium deutsche und katholische Bücher in die Hände fielen; aber das schadete mir nicht, im Gegenteil, ich verschlang damals die katholische Literatur geradezu, wie schon vorher in Čejkovice. An manche Romane erinnere ich mich noch heute; einer hieß »Fabiola« und war von Wiseman; Fabiola war eine schöne Römerin, die den Märtyrertod starb. Ein zweiter Roman war auch eine Übersetzung aus dem Englischen und hieß, glaube ich, »Die Märtyrer von Tilbury«; die Märtyrer waren während der englischen Reformation hingerichtete Katholiken. Ein drittes Buch war »Glaubenskraft und Liebesglut« betitelt, von einer Frau Polko; es handelte von einem jungen katholischen Missionar, der nach Indien ging; dort verliebt sich eine schöne Hindu in ihn, eine Prinzessin Damajanti oder so ähnlich, aber sein Glaube überwindet die Leidenschaft, und wiederum endet es mit irgendeinem Märtyrertod. Damals gefielen mir das Missionartum, die Glaubenspropaganda und vor allem die Beständigkeit im Glauben und Märtyrertum; ich war ganz erfüllt davon.

Wenn ich genau sagen sollte, was vom Katholizismus in der Jugend am meisten auf mich gewirkt hat, so ist es vor allem sein lebendigerer Transzendentismus; dann der katholische Universalismus, die Internationalität, das Weltumfassende und der energische Geist der Propaganda und des Missionartums; ferner das Streben nach einer einheitlichen Welt- und Lebensanschauung. Und schließlich imponiert am Katholizismus seine kirchliche Organisation und ihre Autorität.

Natürlich geraten einem älteren Schüler auch antikatholische Schriften in die Hände, die ihn auf den kirchlichen Absolutismus, die Exklusivität und den Zwang hinweisen; die Schulkatecheten machen selbst auf die kirchenfeindlichen und antireligiösen Autoren aufmerksam, indem sie mit ihnen polemisieren.

Meine Entwicklung fiel in die Zeit des wachsenden Liberalismus und seines Kampfes gegen den politischen und kirchlichen Absolutismus; selbstverständlich konnte ich nicht umhin, über Bücher wie Renans »Leben Jesu« und andere nachzudenken.

*

Am Gymnasium in Brünn hatten wir einen Pater Procházka als Katecheten. Er war einer der damaligen christlichen Sozialisten; ich besuchte seine und andere Versammlungen, und das machte mich mit dem Sozialismus bekannt. Etwa in der fünften Klasse erklärte ich dem Pater Procházka, ich könne nicht zur Beichte gehen. Pater Procházka liebte mich, er war ein guter und wahrhaft religiöser Mensch; er redete mir so zu, daß ihm selbst die Tränen kamen, aber vergeblich. Mir gefiel der Formalismus nicht; die Jungen prahlten damit, wie schlau sie gebeichtet hätten, und außerdem quälte mich die landläufige Praxis: heute wird mir die Schuld verziehen, und morgen fange ich wieder zu sündigen an. Seine Sünden bekennen, warum nicht? Der Mensch hat das Bedürfnis, einem Freunde oder überhaupt einem anständigen menschlichen Wesen zu beichten; aber es kommt darauf an, nicht weiter zu sündigen. Wie gesagt, mir gefiel die Bequemlichkeit nicht, und deshalb ging ich nicht zur Beichte. Allerdings reiften in mir schon Zweifel an so mancher kirchlichen Lehre.

Damals hatte ich auch meinen ersten Konflikt als Tscheche. Wir waren in der Schule Tschechen und Deutsche zusammen, und es versteht sich, daß wir über die Vorzüge unserer Nationen stritten und zankten. Wir Tschechen waren älter, weil wir ein oder zwei Jahre länger das Deutsche pauken mußten; ich selbst war älter, weil ich an der Realschule und in der Lehre gewesen war. Bei den harmlosen Knabenkeilereien verprügelten wir gewöhnlich die Deutschen. Das Gymnasium war deutsch, aber zu meiner Zeit war der Direktorstellvertreter Tscheche, ein gewisser Kocourek, Autor eines lateinischen Wörterbuches, ein grundgütiger Mann, für uns Jungen jedoch eine lächerliche Figur. Dieser Kocourek betrieb nebenbei eine Farbenfabrik; er hatte weiße Haare und einen weißen Backenbart, wischte darin seine farbigen Hände ab und kam so blau, grün, rot gefärbt zu uns. Er unterrichtete Tschechisch. Das war kein Pflichtgegenstand, und infolgedessen ging es in seiner Stunde immer drunter und drüber. Kocourek bat uns flehentlich, still zu sein, damit man den Lärm wenigstens nicht bis in die andern Klassen höre; wenn das nicht half, sagte er, daß er eine Anekdote erzählen wolle. Da wurden wir mäuschenstill, und er begann zu erzählen. Der arme Kerl kannte nur eine einzige Anekdote, eine ganz naive, und die dehnte er, um die Ruhe aufrechtzuerhalten, aus, solange er konnte; sobald er aber die Pointe ausgesprochen hatte, brachen wir in ein solches Hallo aus, daß er sich an den Kopf faßte und uns beschwor aufzuhören. Nun, wir waren eben Jungen ...

Nach Kocourek kam ein neuer Direktor, ein blonder Germane, und mit ihm begann ein scharfes Regime. Wir hatten einen Latein- und Griechischlehrer, der sich während Kocoureks Zeit noch Staněk genannt hatte, jetzt aber begann, in deutscher Weise Staniek zu unterschreiben. Das brachte mich auf, und einmal, als er mich prüfte, schrieb ich an den Rand eines Buches: Staniek = Staněk. Er nahm mir das Buch aus der Hand, und mir erging es – das kann man sich denken – schlecht.

In der fünften Klasse bekamen wir für Latein und Griechisch einen Professor, der Wendelin Förster hieß, einen später gefeierten Romanisten; der war erst recht ein harter Germane. Er sprach das Griechisch deutsch aus und verlangte, daß wir es auch so aussprechen sollten; also zum Beispiel Zois statt Zeus, paithain statt peithein, wie wir es vor ihm ausgesprochen hatten. Ihm zum Trotz begann ich das Latein tschechisch auszusprechen; selbstverständlich wurde Förster wütend, aber ich sagte zu ihm: »Herr Professor, Sie sind Deutscher und sprechen Latein und Griechisch deutsch aus; ich bin Tscheche und spreche es tschechisch aus.« Dabei beharrte ich, selbst nachdem mich der Direktor ad audiendum verbum gerufen hatte. Dann bekam ich wegen Ungehorsam und Trotz einen Fünfer in »sittlichem Betragen« und schließlich auch das »Consilium abeundi«.

Glücklicherweise wurde damals der Polizeidirektor Lemonnier nach Wien versetzt und nahm mich mit. Dort nahm man mich in die sechste Klasse auf, aber nur auf seine Fürsprache hin und vorläufig auf Probe.

*

Als Knabe hatte ich keinen Nationalismus gekannt, es wäre denn den Čejkovicer. Zur Pfarre Čejkovice gehörte die Gemeinde Podvorov, aber natürlich sagten wir Potvorov Ein Wortspiel. Potvora mit t heißt »Luder«. (Anm. d. Übers.); dafür sangen die Jungen von Podvorov ein Liedchen auf uns:

Wer aus Čejkovice,
Der hat nicht viel Grütze ...

Weiter weiß ich es nicht. Jeden Sonntag prügelten wir uns mit den Jungen von Podvorov um das Glockenläuten. Da haben wir den Nationalismus im kleinen.

In Brünn ging mir mein Tschechentum auf; vorher, zu Hause, empfand ich einen primitiven Sozialismus. Dadurch, daß ich die Geschichte kennenlernte, verfeinerte sich mein Nationalbewußtsein. Unsere Geschichte lernte ich aus den Romanen Herloßsohns kennen, die ich verschlang.

Wie aufregend ist unsere Geschichte! Die Přemysliden und ihre ganze Politik gegenüber Deutschland. Wie richtig erfaßten sie unsere internationale Lage! Dann die Reformation, die Wiedergeburt – wie ungewöhnlich dramatisch ist dieses ganze Ringen. Die Landkarte zeigt, wie wir uns erhalten haben! Das lohnt sich schon. Man muß sich unserer Geschichte nur richtig bewußt werden; ich weiß nicht, welche auf der Welt größer wäre.

Wir werden in der Welt immer nur eine kleine Minderheit sein, aber wenn eine kleine Nation mit ihren kleinen Mitteln etwas erreicht, so hat es einen besonderen und unermeßlichen moralischen Wert wie jener Groschen der Witfrau. Wir sind nicht schlechter als irgendeine Nation in der Welt, ja in manchen Dingen sind wir besser; man beginnt es auch schon im Ausland zu merken. Es schadet nichts, daß wir eine kleine Nation sind; das hat seine Vorzüge, wir können uns besser kennenlernen und intimer leben, uns mehr daheim fühlen. Es ist eine sehr große Sache, wenn eine kleine Nation hinter den großen nicht zurückbleibt und ihren Anteil hat am Aufstieg zur höheren Menschlichkeit. Auch wir wollen im Glockenstuhl der Welt mitläuten wie die Podvorover in dem der Čejkovicer.

Das ist das Problem der kleinen Nation: wir müssen mehr arbeiten als die anderen und gewandter sein; aber wenn einer mit Gewalt gegen uns vorginge, dann los ... Sich nicht kleinkriegen lassen, das ist alles.

*

Wenn es auch keine tschechischen Bücher gab, so gab es wenigstens Volkslieder. Wir tschechischen Jungen am Gymnasium kamen zusammen, sangen Lieder um die Wette, und die, die wir nicht kannten, schrieben wir auf. Noch heute erinnere ich mich an manches Lied.

Von Brünn pflegte ich mit anderen Jungen aus unserer Gegend zu Fuß nach Hause zu gehen, und dann sangen wir während des ganzen Weges. Einmal machten wir auf dem Weg in einem Wirtshaus halt, und einer von uns, der älteste und lustigste – später wurde er Geistlicher –, scherzte mit der Wirtin, die noch jung und hübsch war; sie benahm sich merkwürdig ernst. Als unser Kamerad sie dann um die Hüfte faßte, sagte sie nichts und öffnete nur die Tür zur Nebenkammer; dort lag ihr Mann tot auf dem Stroh, zu Häupten eine brennende Kerze ...

Ein andermal kehrte ich von Haus nach Brünn zurück und trug Pfannkuchen, die Mutter mir mitgegeben hatte, vielleicht etliche zwanzig Stück. Als ich nach Brünn an die Zollschranke kam, hielt mich ein Finanzer an, was ich da trüge? Pfannkuchen, sagte ich; er meinte, daß ich für sie die Verzehrsteuer bezahlen müsse. Ich wußte mir keinen Rat; Geld hatte ich nicht, von den Pfannkuchen mochte ich mich nicht trennen – so setzte ich mich am Schlagbaum hin, und wir futterten, die Kameraden und ich, alle Pfannkuchen auf. Auch der strenge Finanzer ließ es sich schmecken.

Die Kriege in den Fünfziger und Sechziger Jahren

Es versteht sich, daß mich als Jungen der Krieg unermeßlich interessierte. Es gab in meiner Kindheit und Jugend mehrere Kriege.

Im Jahre 1859 kehrte einer unserer Knechte aus dem italienischen Feldzug zurück, ein Bein war ihm abgefroren, und ich hörte ihm atemlos zu, so oft er von den Schlachten erzählte. Politisch brachte er alles merkwürdig durcheinander; offenbar wußte er nicht, für wen er eigentlich gefochten hatte und warum.

Im Jahre 1863 war der Polenaufstand gegen Rußland. Damals las ich schon Zeitungen, wenn ich welche erwischte; ich stand leidenschaftlich auf der Seite der Polen. In Olmütz waren einige polnische Rebellen interniert, darunter die Adjutantin Pustowojtówna; über sie wurden bei uns ganze Legenden erzählt. Ich versuchte dann noch Romane und Schauergeschichten aus dem polnischen Aufstand aufzutreiben und hatte den Kopf voll davon. Später gab ich einem Mitschüler, der in Polen geboren war, Stunden, und er erzählte mir noch mehr; damals begann ich polnisch zu lernen.

Im Jahre 1864 war der Schleswiger Krieg, und da hielt ich fanatisch zu den Dänen, weil sie, als kleine Nation, sich gegen zwei große wehrten.

Als der Krieg im Jahre 1866 kam, setzten wir uns, ein paar tschechische Jungen des Brünner Gymnasiums, in den Kopf, freiwillig gegen die Preußen zu ziehen. Gegen die Preußen – das bedeutete nicht geradezu für Österreich. Wir steckten die Köpfe zusammen und berieten, und ein Mitschüler, der älteste und kräftigste, ließ sich wirklich sofort anmustern. Dann wurden die Schulen geschlossen, ich ging zu Fuß nach Hause, nach Čejče.

Die Preußen siegten bald darauf bei Königgrätz, und die österreichischen Soldaten zogen sich durch Mähren nach Ungarn zurück. Überall herrschte Angst; man sagte, die Preußen machten Jagd auf junge Burschen und führten sie als Soldaten mit sich fort. Das ging mir nicht aus dem Sinn, ich suchte einen älteren Kameraden auf und drang in ihn, uns lieber, wie wir es verabredet hatten, der österreichischen Armee anzuschließen. Franz redete es mir aus, wir sollten lieber davonlaufen und uns verbergen. Da flüchteten auch schon die österreichischen Regimenter vor den Preußen nach Ungarn, und nach Čejče kam eine Fouragekolonne. Der Offizier, der sie anführte, fragte nach dem Weg nach Hodonín; ich bot ihm an, ihn hinzubringen. So gingen wir, Franz und ich, mit den Soldaten; unterwegs sagte ich zu dem Offizier, daß ich gern zu den Soldaten möchte. Er riet mir ab, ich wäre zu jung und zu schwach, es fände sich kein Arzt, der mich ausmusterte, auch ginge der Krieg schon zu Ende. Als wir in Hodonín einfuhren, brach in einem Haus am Wege Feuer aus, es entstand eine Panik; man sagte, die Preußen hätten es getan, die überall ihre Spione hätten. Von Hodonín zogen die Soldaten weiter nach Ungarn, und ich ging mit ihnen bis Holič; ich kannte die ganze Gegend gut und fand mich zurecht wie daheim.

Bei Holič holten uns die preußischen Patrouillen ein. Es gab Alarm, und eine Handvoll Infanterie und Reiterei wandte sich gegen die Preußen. Auf den Feldern waren die Garben und Haufen aufgestapelt, der österreichische Kommandant hielt zu Pferd hinter einem Getreidehaufen. Es war schon recht spät am Abend, es dämmerte. Ich lief mit Franz, einem Juden aus Holič und noch einem andern Holičer auf den Kirchhofshügel, um einen besseren Ausblick auf den Zusammenstoß zu haben; dort verbargen wir uns hinter der Mauer; Franz hatte Angst und legte sich in ein frisch geschaufeltes Grab, der Jude zu ihm. Der Slovak und ich lugten über die Mauer hinaus; erst sahen wir eine Kolonne Infanterie daherziehen und schießen – der Slovak sagte, das wären Italiener, die würden sich davonmachen. Dann stieß Reiterei aufeinander; wir sehen, wie sie mit den Säbeln aufeinander loshauen und sich schlagen, und in diesem Augenblick reitet ein Soldat gerade auf uns zu. Als er näher kommt, erkenne ich, daß es der Offizier ist, der mich mitgenommen hatte, und daß seine Wange von der Schläfe bis zum Kinn zerschnitten ist. Ich rief ihn an, er sprengte um die Kirchhofsmauer herum zum Tor. Der Slovak, ein vernünftiger Mann, sagt zu mir: »Laufen Sie in das nächste Bauernhaus, ziehen Sie das Laken vom Bett herunter und tauchen Sie es in den Brunnen!« – Ich lief, und er und der Jude – Franz blieb im Grab liegen – führten den Offizier mir nach. Ich nahm in einem Haus ein Laken, hängte es an den Brunnenhaken und machte es naß; aber das durchtränkte Laken war schwerer, als ich erwartet hatte, und ich stemmte mich mit dem Knie fest gegen die Brunnenmauer, um es heraufzuziehen. Dabei riß ich mir das Fleisch über dem Knie an einem Nagel auf, bemerkte es aber in der Aufregung nicht; wir wuschen den Offizier, verbanden ihn und zogen ihm die Uniform aus, die der Jude davontrug; da erst spürte ich meine Wunde. Ich wollte weiterlaufen, aber es ging nicht mehr; einer der abfahrenden Militärwagen nahm mich auf, und erst bei Preßburg wurde ich in einem Feldlazarett richtig verbunden.

Dann machte ich mich mit Franz zu Verwandten nach Kopčany auf. Dort hörte ich, daß sich der Jude durch die Offiziersuniform verraten hatte und von den Preußen festgenommen worden war, aber auch der verwundete Offizier.

Im Jahre 1866 erlebte ich noch ein Abenteuer. Ich pflegte nach Hovořany zu gehen, wohin Pater Satora aus Čejkovice versetzt worden war. Einmal verspätete ich mich bei ihm bis zum Dunkelwerden; er hatte ein feierliches Begräbnis gehabt. Ich ging, in der Hand eine Begräbniskerze, nach Hause. Wie ich so gehe, bemerkte ich, daß sich hinter einer Pappel jenseits des Straßengrabens ein Mensch verbarg. Ich fürchtete mich zwar, ging aber weiter; und wie ich herankomme, springt der Mann über den Graben und packt mich beim Hals. Das geschah so rasch, daß ich gar nicht weiß, wie; ich erinnere mich nur, daß ich ihn, als er mich am Halse faßte, fortstieß; er geriet mit einem Bein in den Graben, ich hieb ihm mit der Kerze über das Gesicht; dabei stach er mich mit einem Messer oder etwas anderem in die Hüfte. Ich nahm alle Kräfte zusammen und schoß wie ein Pfeil nach Hause. Erst daheim beim Licht sahen wir, daß er Rock und Hemd durchstochen und mir eine lange Kratzwunde an der Hüfte beigebracht hatte; aber es wurde wieder gut. Ich glaube, der Mann hatte jemandem anderen aufgelauert und sich in mir geirrt.

Als ich später, es war schon in den ersten Jahren in Prag, an meinem Roman zu arbeiten begann – er sollte »Dichtung und Wahrheit« werden –, verwendete ich dieses Abenteuer darin, wie es mir in der Erinnerung geblieben war, nur romantisch ausgestaltet (mein Held war Soldat usw.). Ich habe diesen Roman längst aufgegeben und alles, was davon geschrieben war, verbrannt; aber noch jetzt male ich mir ihn manchmal aus, wenn ich nicht einschlafen kann.

*

Dies war aber nicht mein erster Versuch mit einem Roman; meinen ersten Roman begann ich am Gymnasium in Brünn zu schreiben. Damals ernährte ich mich schon selbst und ließ meinen Bruder studieren; ich war der Älteste in der Klasse, hatte Konflikte mit den Lehrern und lernte die Liebe kennen ... Kurzum, ich dachte Gott weiß was für Erfahrungen zu haben, und so begann ich den Roman meines Lebens zu schreiben. Sowie ich einige Kapitel fertig hatte, las ich sie meinen Kameraden vor dem Baden im Flusse vor; natürlich wollten die Jungen lieber baden und wurden ungeduldig, aber ich hörte nicht auf, bis ich zu Ende gelesen hatte. Dann sagte mir einer von ihnen, ein richtiger Hanake Bewohner der mährischen Ebene Hana. (Anm. d. Übers.): »Thomas, etwas so Albernes hab' ich mein Lebtag nicht gehört.« Daraufhin verbrannte ich alles.

Verse zu schreiben, hatte ich schon früher versucht, als ich mich nach den zwei Realschulklassen einige Zeit in Hodonín aufhielt; ich schrieb Liebesgedichte an ein Mädchen, mit dem ich Theater zu spielen pflegte; sie müssen fürchterlich formlos gewesen sein, ich hatte keine Ahnung von Rhythmus und Form, und die Gymnasiasten lachten mich deswegen aus. Damals begriff ich zum erstenmal, was humanistische Bildung bedeutet.

Die Gedichte aus jener Zeit möchte ich heute sehen! In Brünn fiel mir dann eine »Poetik« in die Hände; nach ihr versuchte ich Gedichte in allen möglichen Formen, selbst indischen, zu machen ... Nun, und dann habe ich es sein lassen; aber die Literatur hat mich mein Leben lang gefesselt.

*

Ich ging von Brünn fort wegen einer Liebesgeschichte. Als ich in der fünften Klasse war, kam zu meiner Wirtin eine Schwägerin zu Besuch, ein Mädchen etwa in meinem Alter; wir verliebten uns in einander – das war meine erste, große Liebe. Ich war ganz benommen von ihr, wollte Antonia heiraten und rechnete immerfort nach, wann dies möglich sein werde; ich fühlte mich als reifer, selbständiger Mensch. Die Eltern des Mädchens waren natürlich dagegen; wir kamen heimlich zusammen, auf der Straße. Das erfuhr man auch in der Schule; und da man gegen mich nicht anders vorgehen konnte, rief mich der Direktor zu sich und sprach sehr häßlich von meiner Liebe, als triebe ich irgendeine Unsittlichkeit. Das beleidigte mich und regte mich so auf, daß ich nicht wußte, was ich tat; da er den Schuldiener gegen mich herbeirief, packte ich einen Feuerhaken und schrie, ich ließe weder mir noch dem Mädchen solches Unrecht geschehen. Dafür bekam ich das »Consilium abeundi« wegen Widerspenstigkeit. Sonst geschah mir nichts, der Direktor fühlte wohl selbst, daß er nicht recht hatte.

Das war meine erste Liebe. Seither habe ich viel über die Liebe nachgedacht, durch eigene Erfahrung veranlaßt, sowie durch das, was ich rings um mich beobachtete, vor allem auch durch die Literatur, die sich doch in hohem Maße mit der Liebe befaßt. Ich habe darüber nach meinen späteren Erlebnissen und unter dem Einfluß meiner Frau ziemlich viel geschrieben und wiederhole nur: Die Liebe, die starke Liebe, die wahre Liebe, die Liebe von Mann und Frau, die sexuell unverdorben sind, ist, wie es im Lied der Lieder steht, stark wie der Tod – ist stärker als der Tod, weil sie das Leben erhält und neues Leben hervorbringt. Mit Recht wendet die Literatur ihr die größte Aufmerksamkeit zu. Nur daß sie gerade darin meist nur »Literatur« ist.

In Wien

Wien hatte für meine geistige Entwicklung große Bedeutung; ich verbrachte dort nicht weniger als zwölf Jahre, von 1869 bis 1882, dazwischen war ich ein Jahr (1876 bis 1877) in Leipzig. Mähren neigte damals zu Wien, und Brünn war, wie man zu sagen pflegte, eine Vorstadt von Wien.

Zum erstenmal war ich dort als Schlosserlehrling; einmal ging ich als Gymnasiast in den Ferien zu Fuß nach Wien. Beidemal lief ich eigentlich von dort weg, so bang wurde mir; durch den Aufenthalt in reiferen Jahren gewöhnte ich mich an die Stadt um so mehr, als ich hier eine Möglichkeit für meine Bildung und meinen Lebensunterhalt fand.

Ich kam an das Wiener Akademische Gymnasium in die sechste Klasse. Das Abitur legte ich 1872 ab. Die Mittelschule wurde mir bald peinlich; ich hatte sozusagen viele Lebenserfahrungen, war verhältnismäßig alt und mußte mich selbst ernähren. In den ersten Jahren in Brünn schrieb ich den Zeugnisnoten noch einen Wert zu; ich war auch mehrere Semester Primus, aber bald sagte ich mir, daß es genüge, die Schule anständig zu absolvieren und mich dafür nebenher mit Sprachen, den Dichtern, der Kunst und der Lektüre von Historikern, Philosophen usw. zu befassen. Ich war immer ein leidenschaftlicher Leser.

Einen starken Antrieb zum Lesen und Denken gab mir das Interesse für Religion, Politik und Nationalität. In Brünn kam ich durch den Pater Procházka zur Theorie des christlichen Sozialismus; dort konnte und mußte ich mir auch der nationalen Probleme bewußt werden, wie die Schule sie selbst bot – Schüler und Professoren schieden sich nach der Nationalität – und wie sie die tschechisch-deutsche Atmosphäre von Brünn, allerdings auch die tschechische und die deutsch-österreichische Politik, soweit ich sie verfolgen konnte, mit sich brachte. In Wien suchte ich tschechische Vereine auf, namentlich den Akademischen Verein. Als Gymnasiast konnte ich noch nicht Mitglied werden. Ich vereinbarte mit dem Ausschuß, mich als Philosophiekandidat anzumelden, weil die zwei letzten Gymnasialklassen noch kurze Zeit vorher »philosophische Klassen« oder kurz »die Philosophie« genannt wurden. Nach einiger Zeit trat dasselbe Mitglied, das den Einfall mit der »Philosophie« gehabt hatte, gegen mich auf, ich hätte kein Recht, Mitglied des Vereins zu sein; das war richtig, und so zahlte ich wieder Lehrgeld. Jede Lüge hat kurze Beine, auch die fraus pia.

Was ich werden würde, darüber dachte ich nicht viel nach. Als Gymnasiast wollte ich Diplomat werden; ich hätte gern die Orientalische Akademie besucht. Deshalb machte ich praktische Kurse der arabischen Sprache mit. Als ich dann sah, daß man in der Orientalischen Akademie nur Adelige aufnahm, ließ ich diesen Gedanken fallen. Ich glaube, daß ich mir unter Diplomatie vor allem Reisen in ferne Länder vorstellte. Ich reiste immer gern, sei es auch nur im Atlas. Noch heute liebe ich Landkarten. Und immer interessierten mich die Statistik, die Verhältnisse in allen Ländern. Beim Abitur stellte mir der Geographieprofessor eine Frage aus der nationalen und religiösen Statistik Ungarns; ich wußte darüber mehr als er, und das nahm ihn und den Schulrat so sehr für mich ein, daß sie dann über meine Unkenntnis in andern Fächern, die mir nicht besonders lagen, hinwegsahen.

Nach dem Abitur ging ich an die Wiener Universität. Die Philosophie hatte mich schon lange interessiert; ich erinnere mich, wie ich Professor Zimmermann, einen Herbart-Ästhetiker, aufsuchte, er möchte mir raten, wie ich die Philosophie fachgemäß anpacken solle. Er riet mir, die ganze Geschichte der Philosophie durchzulesen; welcher Philosoph mir am meisten zusage, den solle ich mir zu eingehenderem Studium wählen.

Ich hatte die Geschichte der Philosophie und mehrere Philosophen am Gymnasium gelesen und damals schon eine Zuneigung zu Plato gefaßt. Platoniker blieb ich mein Leben lang. Ich ließ mich in Griechisch und Latein eintragen, um meinen Plato, aber auch die andern griechischen und römischen Schriftsteller lesen zu können. Einer der Professoren, Vahlen, erklärte uns während des ganzen Semesters vier Stunden wöchentlich Catull. Ich hatte den ganzen Catull auf einen Sitz gelesen, und nun erklärte und erklärte der Mann, wie viel Catullsche Handschriften es gebe, in welchen Wörtchen sie voneinander abwichen, was irgendein Gelehrter darüber geschrieben habe und daß dieser Gelehrte ein Ignorant sei.

Dann studierte ich außer der Philosophie die Naturwissenschaften (auch Anatomie). Mich interessierte die damals moderne physiologische Psychologie.

Professor wollte ich eigentlich nicht werden; ich hatte keine Lust, andere zu belehren, sondern wollte selbst lernen und erfahren. Wie es bei Aristoteles am Anfang seiner Metaphysik steht: »Dem Menschen ist angeboren, nach Erkenntnis zu streben.« Es ist doch so schön, etwas zu erkennen, etwas zu erfahren und immer wieder etwas Neues zu erfahren! Interesselosigkeit, Gleichgültigkeit ist schlimmer als Unwissenheit.

Wie reimt sich dieses Interesse an Tatsachen und immer wieder an Tatsachen mit meinem Platonismus zusammen? Nun, ganz gut. Ich will die Tatsachen kennen, aber ich will auch sehen, was für einen Sinn sie haben, worauf sie hindeuten. Und damit sind wir bei der Metaphysik angelangt.

*

Ich lebte vom Stundengeben; ein Tscheche namens Bílek hatte in Wien eine Erziehungsanstalt und brachte mich als Präzeptor in die Familie des Bankiers Schlesinger, des Direktors der Anglo-Österreichischen Bank; dort bekam ich ganze hundert Gulden und volle Verpflegung, was mehr als genug war. Im Kreise dieser Familie und ihrer Bekannten erhielt ich einen Einblick in das Leben reicher Leute. Die Reichen sind keineswegs glücklich, das viele Geld isoliert sie von den andern Menschen wie eine Mauer, und oft tragen sie alle mögliche Unvernunft und Verkehrtheit mit sich herum.

Freundschaft ist für einen jungen Menschen ein ebenso starkes Gefühl wie Liebe. Ich hatte einen lieben Freund, Herbert hieß er, einen Mitschüler vom Gymnasium, einen zarten und braven Jungen, Historiker und Geographen; er war ein kranker Mensch und starb am Ende der Studienzeit. Sein Vater war Arzt bei einem siebenbürgischen Grafen gewesen. Ich besuchte Herberts Familie; er hatte zwei Schwestern. Ich denke noch heute an ihn; mein erster Sohn bekam zur Erinnerung an diesen Freund meiner Jugend den Namen Herbert.

Herbert besaß als Vermächtnis seines Vaters eine große Bibliothek, und so lasen wir zusammen die deutschen Klassiker aus dem 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich selbst vergrub mich damals in die französische Literatur, in Chateaubriand, Musset und andere. Die Jugend in Wien befaßte sich mit Hebbel. Ich war stets skeptisch gegen modische Strömungen. Eine solche Strömung war unter den deutschen Studenten damals der Wagnersche Nationalismus, sowohl die Musik, als auch die germanische Philosophie Richard Wagners und seiner Kommentatoren. Mir blieb auch seine Musik fremd. Zu den Nationalisten gehörten Viktor Adler und Pernerstorfer, die späteren sozialistischen Abgeordneten; damals kam ich nur von ferne mit ihnen in Fühlung.

Als die zweite Ausgabe des »Kapital« von Marx erschien (es war, glaube ich, im Jahre 1876), vertiefte ich mich eingehend in seine Gedanken; den Geschichtsmaterialismus und die Hegelsche Philosophie lehnte ich schon damals ab. Ich befaßte mich ernsthaft mit dem Volkswirtschaftler Menger und besuchte seine Vorlesungen. Später hörte ich in Leipzig den eklektischen Roscher. Im ganzen war ich in meinen Interessen ziemlich isoliert.

Ich hatte keine Zeit zu vielen Jugendstreichen, weil ich mich seit dem vierzehnten Lebensjahr selbst ernähren mußte; auch machte ich keine Pubertätskrise durch. Die erste junge Liebe ist keine Zuchtlosigkeit; ich glaube an die Reinheit der Jugend. Überhaupt scheint mir die Geschlechtsfrage der Jugend sehr künstlich und unnatürlich aufgebauscht durch Literatur, Theater, Zeitungen und alles mögliche.

Als ich noch das Gymnasium in Wien besuchte, war ich in Hustopeč auf Ferien. Dort verkehrte ich mit der Familie eines tschechischen Kapellmeisters, bei der ein Mädchen aus Böhmen zu Besuch war. Sie interessierte mich darum, weil sie die erste Tschechin aus dem Königreich war, die ich kennenlernte. Sie war gebildet und national bewußt. Ich korrespondierte mit ihr, und später kam sie nach Wien. Sie hatte dort einen Bruder, der Beamter war; bei dem lebte sie. Dieser Bruder war ein merkwürdiger Mensch; er lieh sich von mir Geld aus, und dafür wollte er mir sozusagen seine Schwester überlassen; ich bemerkte, daß er immer fortging, wenn ich zu Besuch kam, und Spaziergänge und Ausflüge arrangierte er wohl mit derselben Absicht. Das widerte mich an; ich wußte, daß sie daran unbeteiligt war, aber ich gab den Verkehr auf.

Noch einer Erfahrung erinnere ich mich; sie ist vielleicht typisch für die Jugend. Ich verbrachte die Ferien in Klobouky und lernte dort beim Tanz ein Mädchen kennen, verliebte mich in sie auf den ersten Blick, schrieb ihr gleich und überlegte, wann wir heiraten könnten. Aber kaum hatte ich den Brief durch eine Botin abgesandt, so wußte ich schon, daß ich eine schauderhafte Dummheit begangen hatte. Es wurde nichts daraus.

Wenn unsere Erziehung mehr Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen erlauben würde, so gäbe es nicht soviel Jugendkrisen, unglückliche Liebe und Enttäuschungen. Wenn die Eltern so leben sollen, daß sie ihren Kindern ein Beispiel geben, so hat auch die sogenannte Gesellschaft eine ernste Pflicht gegen die jungen Menschen. Wo der gesellschaftliche Verkehr gesund und gut ist, dort ist auch die Jugend gesund.

Ich bitte Sie, was ist das noch für ein unschönes, sklavenartiges Verhältnis zu den Frauen!

Die Belehrung über das Geschlechtsleben soll man nicht nur von der Schule verlangen; in erster Linie sind dazu die Eltern berufen. Ich erinnere mich an ein schönes Kapitel in einem Roman von Mrs. Canfield, worin die Mutter ihre Tochter, die durch die Grobheit ihres Verlobten beleidigt und aufgebracht ist, zur rechten Zeit über die physische Seite der Liebe belehrt. Mehr Takt und edlen Ernst sowohl in den Anschauungen über diese Dinge als auch im Leben selbst – dessen bedarf es, und darin liegt alles.

Heute gibt es wenigstens mehr Vernunft in diesen Dingen. Auch der Sport hat viel Gutes; heute raucht, trinkt, bummelt solch ein Junge nicht, wenn er Sportsmann ist, weil er in Form bleiben will. Wenn die Jungen dabei nur kulturell nicht vergröbern, dann wird es der größte Fortschritt und eine Rückkehr zur antiken Kultur sein.

Noch etwas über den Sport: Auch das ist gut an ihm, daß er die angeborene und anerzogene Rauflust regelt oder ersetzt. Jeder Junge wird durch seine Natur, die Umgebung und die Geschichte zu einem einseitigen Kult der Kriegsheroen und Kriegerherrscher verleitet; beim Sport lernt er den andern ohne Blut und Grausamkeit übertreffen. Der Sport erzieht auch zur Ehrenhaftigkeit.

Ich selbst hatte noch keine Gelegenheit, Sport zu treiben. Ich habe nur geturnt, und bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht turne.


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