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Arbeit und Kämpfe

Politik

Die Politik hat mich stets interessiert. Schon die Dorfstreitigkeiten zwischen Slovaken und Hanaken, später zwischen uns tschechischen und deutschen Jungens in Brünn waren Politik im kleinen – ich mußte mir des Verhältnisses zwischen Tschechen und Deutschen bewußt werden. Auch meine Absicht, die Konsularakademie zu besuchen, war halb Romantik, halb unbewußtes politisches Interesse.

Meine Beziehung zur Politik war anfangs nur theoretisch; da fesselte mich schon Plato durch sein Philosophieren über Politik, und als ich mich mit Soziologie zu beschäftigen begann, geriet ich eo ipso mitten in die politischen Probleme.

Natürlich reagierte ich immer auf politische Ereignisse. Schon als Student schrieb ich für die »Moravská Orlice« meine ersten Artikel gegen die Politik der Passivität Die Opposition der Tschechen gegen die zentralistische Politik Wiens führte in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Ablehnung der Mitarbeit im österreichischen Reichsrat, die erst 1879 wieder aufgenommen wurde.  (Anm. d. Übers.). In Wien pflegte ich zur Bahn zu gehen, um zu sehen, wie die tschechischen Abgeordneten zur Parlamentstagung ankamen. Damals verfolgte ich beständig den Kampf der Tschechen mit den Deutschen; aber ich begriff schon damals, daß dies eigentlich ein Kampf gegen Österreich war, und hatte zu Österreich ein ziemlich negatives Verhältnis.

Als ich nach Prag kam, war ich zunächst von kulturellen und wissenschaftlichen Interessen erfüllt. Da war das »Athenaeum«, die Universität, das Konversationslexikon, die Handschriftenfrage, und aus dem Handschriftenstreit wurde eine journalistische und politische Affäre. Die Revision der angeblichen altslavischen Kultur wurde zur Revision des ganzen Kulturlebens der Gegenwart. Eigentlich brachten mich diese Kämpfe und Polemiken in die aktive Politik hinein. Ich lernte unsere Mängel, das niedrigere Niveau unserer Presse und der öffentlichen Meinung kennen, aber auch anständige und feine Menschen. Auch das kam mir zugute, daß ich oft unwillkürlich und manchmal aus Torheit soviel Zorn und Feindschaft gegen mich erregte. Damals sagte ich mir: »Es geschieht dir recht, was mischst du dich hinein!« Heute sehe ich, daß man auch durch Haß bekannt und eine Autorität wird. Der Haß vergeht, der Name aber bleibt den Menschen im Gedächtnis haften. Das sage ich heute auch denjenigen, die sich nach allen Seiten wehren müssen ...

Damals fanden wir uns zusammen, ein paar Männer. Wir wollten die Verhältnisse auf irgendeine Art reformieren, die Presse und die Universität verbessern, waren für positive und aktive Politik. Es war kein klares Programm, eher eine Richtung, eine kritische und wissenschaftliche Richtung.

Ich glaube, es war im Jahre 1889, da siegten die Jungtschechen in den Wahlen. De facto war zwischen ihnen und den Alttschechen kein so großer Unterschied mehr, wie es nach ihren journalistischen Streitigkeiten hätte scheinen können. Die Jungtschechen brauchten neue Leute für das Parlament. Deshalb traten sie an uns heran, und wir hielten es für unsere Pflicht, uns ihnen zur Verfügung zu stellen. Die Alttschechen hatten im ganzen bessere Männer und waren gebildeter, aber politisch starrer. In den nächsten Parlamentswahlen, es war 1891, wurde ich als jungtschechischer Abgeordneter im Bezirk von Domažlice (Taus) gewählt.

Im Wiener Reichsrat interessierte mich zunächst das Parlament selbst. Ich nahm mir mehrmals die Konstitution und die Geschäftsordnung vor, aber zwischen Verfassung und Parlamentspraxis besteht etwa ein Unterschied wie zwischen dem Evangelium und den Kirchen. Ich beobachtete und machte mir meine Gedanken. Die Regierungstribüne kam mir wie der Altar vor, wir darunter waren die Gläubigen. Bald entdeckte ich im Parlament die gute Bibliothek; ich ließ nach Möglichkeit keine Sitzung aus und las während der Sitzungen politische Literatur. Damals war ich politisch noch sehr unreif und unerfahren. Als Redner hatte ich gewisse Erfolge – ich sprach über das Schulwesen, in den Delegationen griff ich in bosnisch-herzegowinischen Fragen den Minister Kallay an; das bewirkte, daß ich mit kroatischen und serbischen Abgeordneten Freundschaft schloß. Ich bereiste Bosnien und die Herzegowina, bewacht von Kallays Spitzeln.

Nach allerlei Fehlgriffen geriet ich in Konflikt mit der Partei. Das kam so: Statthalter Thun äußerte sich, als ich zum erstenmal im Prager Landtag mit ihm sprach, unfreundlich über die Tschechen. Er sagte, der Tscheche sei entweder ein Grobian oder »er küsse die Hand« D. h. er sei liebedienerisch. (Anm. d. Übers.). Seine Worte, die ich allerdings mehreren Leuten weitererzählt hatte, kamen in die Öffentlichkeit und verursachten große Erregung. Die Partei warf mir fälschlich vor, daß ich ihr keine Mitteilung gemacht habe. Ich wandte mich an die Wähler und bekam ein Vertrauensvotum. Mit dieser Genugtuung in der Tasche schrieb ich unseren Abgeordneten nach Wien, daß ich das Mandat niederlege. Vielleicht hätte ich vorher meine Kollegen aus unserer Gruppe fragen sollen, aber ich entschied mich oft eins, zwei, drei. Mir gefiel die jungtschechische Politik infolge ihrer Zweideutigkeit nicht: sie war eine andere in Prag, eine andere in Wien; in der Heimat waren die Abgeordneten in Aufruhr, in Wien ließen sie sich der Regierung durch Kleinigkeiten verpflichten. Auch zu den Deutschen hatte ich ein anderes Verhältnis, hauptsächlich aber sah ich ein, daß ich in der Politik noch »schwach« war.

Nicht etwa, daß ich durch meine Demission der Politik entsagte; im Gegenteil, ich wollte von Grund auf neu anfangen. Ich wollte eine andere, eine Erwecker-Politik treiben und auf die Denkart unserer Menschen wirken. Damals arbeitete ich mich durch die ganze politische Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert durch; am liebsten gewann ich Dobrovský, einen scharfsinnigen Menschen von Welt; mein politischer Lehrer wurde Palacký, mein Humanitätsprogramm stützt sich auf ihn. Ich liebte Havlíček um seiner Wahrhaftigkeit und Offenheit willen, er lehrte mich Journalist sein. Ich las den ganzen Kollár, Rieger und all die anderen. Aus diesen Studien entstand meine »Tschechische Frage«, ein unfertiges Buch, eher eine Sammlung von Material. Auch meine Bücher »Havliček« und »Unsere gegenwärtige Krise« entstanden damals.

So war es schon immer bei mir: niemals im Leben gab ich gern Bücher heraus, niemals feilte ich sie genügend durch und vollendete sie. So oft ich etwas veröffentlichte, geschah es nur, weil ich einen aktuellen Anlaß dazu erblickte. Hätte man mich in Frieden gelassen – und ich die anderen – vielleicht hätte ich kein einziges Buch herausgebracht.

Wenn ich in Kämpfe verwickelt wurde, schlug ich mehr als einmal überflüssig um mich. Manch einem habe ich Unrecht getan, das stimmt; aber selbst trug ich noch mehr Unrecht davon. Oft sah ich über die Menschen hinweg und war auch aufgeblasen; vor allem war ich ungeduldig: ich dachte, die Menschen müßten eine gerechte Sache auf der Stelle aufnehmen und durchführen.

Mein ganzes Leben hindurch hatte ich Streit, aber ich glaube nicht, daß ich eine Kampfnatur bin. Kampf um des Kampfes willen kenne ich nicht: ich wurde herausgefordert und habe mich verteidigt.

Der literarische Kampf ist in einer Beziehung gut; er verblendet zwar, regt aber dabei zum Nachdenken an, auch den Gegner. Ich glaube, daß die Kämpfe bedeutend zum nationalen Bewußtwerden und zur Vertiefung unseres Geisteslebens beigetragen haben.

*

Es ist merkwürdig: so viele Bücher und Broschüren habe ich herausgegeben, und doch nur ungern. Auch in die Lehrtätigkeit habe ich mich nicht gedrängt. Glauben Sie mir, daß ich mich ungern der Öffentlichkeit zeige. Wenn ich nach meinem Willen hätte leben können, so hätte es mir genügt, zu lesen, zu studieren und meinetwegen für mich selbst zu schreiben. Kurz: zu erkennen. Es gibt nichts, was mich nicht interessiert: alle Wissenschaften, alle Fragen und Aufgaben der Zeit.

Ich bin glücklich, wenn ich in Ruhe lesen kann, und lese bis heute viel. Ungern lerne ich Menschen kennen; ich habe eine Scheu vor ihnen; jede auch nur formelle Bekanntschaft ist ein Stück Arbeit für mich.

Das alles machte mir die Politik und das öffentliche Wirken schwerer als anderen. Warum habe ich es also getan? Weil ich mußte. Das sagt man allerdings leicht, aber wenn ich es sage, so ist es keine Ausrede, keine Entschuldigung. Sie sehen aus meinen Büchern, Broschüren und Artikeln, aus jedem meiner Schritte, daß ich mich niemals in Dinge eingemischt habe, die mir nicht wichtig und zeitgemäß erschienen und mein eigenes Lebensproblem berührten. Seit dem Jahre 1882, in dem ich nach Prag kam, sammelte ich viele, viele Erfahrungen: Ich bin dem Schicksal für die Fülle meines Lebens dankbar.

Die neunziger Jahre

Wenn ich jetzt auf die neunziger Jahre zurückschaue, sehe ich, was für eine Zeit der Gärung sie waren. Natürlich nehme ich die Jahre 1890-1900 nicht auf die Minute genau. Bis dahin hatten wir eigentlich nur zwei Parteien gehabt, die Alttschechen und die Jungtschechen. Das Alttschechentum ging damals zu Ende; es war der Niedergang des alten bürgerlichen Patriziertums. Die Jungtschechen waren mehr eine Partei der neuaufsteigenden, provinziellen, radikaleren Schichten. In den Jahren 1889 und 1891 siegten die Jungtschechen bei den Landtags- und Reichsratswahlen über die Alttschechen. Bis dahin war unsere ganze Politik, wie wir heute sagen würden, bürgerlich gewesen, jetzt aber begann sie sich sozial zu verzweigen. Dann war der Sozialismus da. De facto hatte es ihn bei uns schon früher gegeben. Schwache Anfänge fallen in das Jahr 1848; wir hatten erst ein wenig christlichen Sozialismus, aber mit der Entwicklung der Industrie nahmen die Arbeiter allmählich zu. In den neunziger Jahren begann unter dem Einfluß der Wiener Sozialisten die sozialdemokratische Partei, die auf dem Marxismus beruhte, stärker zu werden. Gegen sie organisierten sich bei den Jungtschechen die nationalen Arbeiter, spalteten sich aber bald ab und machten sich selbständig. Auch mit ihnen hatte ich Berührung und bald auch Konflikte.

Mich hatte der Sozialismus seit je interessiert. Schon in Brünn beobachtete ich den christlichen Sozialismus, in Wien las ich die katholischen Sozialisten und Marx.

In jenen neunziger Jahren kam ich zum Sozialismus in praktische Beziehungen: ich ging unter die Arbeiter und hielt Vorträge vor ihnen. Als in Prag und Kladno Streiks ausbrachen, veranlaßte ich Vortragskurse und trug den Streikenden selbst vor; ich wollte ihre Gedanken ablenken, sie sollten nicht nur Hunger und Elend im Sinn haben. Ich regte die Gründung der »Arbeiterakademie« an, wo sich Arbeiter und ihre Journalisten für die Politik ausbildeten. Beim Feldzug für das allgemeine Wahlrecht – es war im Jahre 1905 – sprach ich in einer Volksversammlung auf dem Heuwagsplatz und marschierte mit meiner Frau im Demonstrationszug mit; schon vorher hatte man über mich geschrieben und gesagt, ich wäre Sozialist; man karikierte mich immer mit dem sozialistischen Schlapphut auf dem Kopf. Damals war das Wort Sozialismus für die Bourgeoisie und die Intelligenz ein Schreckgespenst. Ich nahm den Sozialismus an, soweit er sich mit dem Humanitätsprogramm deckte; den Marxismus erkannte ich nicht an. Aus dieser Kritik entstand meine »Soziale Frage«.

Als unsere Sozialisten ins Wiener Parlament gelangten, lehnten sie es ab, sich der staatsrechtlichen Verwahrung der anderen tschechischen Parteien Die Teilnahme der tschechischen bürgerlichen Parteien an den Arbeiten des österreichischen Reichsrats geschah seit dem Jahre 1879 unter der Verwahrung, daß sie keinen Verzicht auf das alte böhmische Staatsrecht bedeute. Die Verwahrung zielte bereits auf die Selbständigkeit des tschechischen Volkes ab, allerdings noch im Rahmen der Habsburger Monarchie. Die tschechischen Sozialdemokraten verwarfen das historische Staatsrecht, beriefen sich aber auf das Naturrecht des Volkes. (Anm. d. Übers.) anzuschließen. Daraus wurde damals ein großes Geschrei, sie wollten die Nation verraten. Ich nahm sie halb und halb in Schutz. Selbstverständlich trug ich den Schaden davon, obgleich die Gründer des Jungtschechentums sich neben dem historischen Recht auch auf das Naturrecht beriefen, wie ich es damals gleichfalls tat.

Mein Sozialismus ist einfach Liebe zum Nächsten, Humanität. Mein Wunsch ist, es solle kein Elend geben, alle Menschen sollen durch Arbeit und mit Arbeit anständig leben, jeder für sich Raum genug haben, elbowroom, wie die Amerikaner sagen. Humanität, das ist nicht die einstmalige Philanthropie. Philanthropie hilft nur da und dort, aber Humanität sucht die Zustände durch Gesetz und Ordnung zu bessern. Ist das Sozialismus, nun gut.

An Gleichheit – absolute Gleichheit – glaube ich nicht, weder unter den Sternen noch unter den Menschen gibt es eine Gleichheit. Immer gab es und wird es Einzelne geben, die durch ihre Begabung und ein unkontrollierbares Zusammentreffen der Umstände mehr leisten und mehr erreichen; immer wird es eine Hierarchie unter den Menschen geben. Hierarchie aber bedeutet Ordnung, Organisation, Zucht, Führung und Gehorsam, keineswegs Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Ich nehme davon auch den Kommunismus nicht aus. Kaum war Lenin an der Macht, so rief auch er nach Führerpersönlichkeiten.

Je länger ich lebe, desto mehr erkenne ich die besondere Rolle des Einzelnen in der Entwicklung der Menschheit. Aber ich wiederhole: die höhere Begabung und das sogenannte Glück berechtigen nicht zur Ausbeutung der weniger Begabten und weniger Glücklichen.

Ich glaube nicht, daß alles Privateigentum aufgehoben werden kann. Die persönliche Beziehung, das besondere pretium affectionis, das den Eigentümer mit seinem Besitz verknüpft, ist gut im Interesse des wirtschaftlichen Fortschritts. Der Kommunismus ist möglich, aber nur unter Brüdern, in der Familie, oder in der religiösen und Freundesgemeinde; er kann nur durch wahre Liebe erhalten werden.

Ich erkenne keinen Klassenkampf an; es gibt Stände und Klassen, es gibt Grade unter den Menschen; aber das bedeutet keinen Kampf, das bedeutet die Organisation der natürlich und historisch entwickelten Ungleichheit, den Ausgleich, den Aufstieg und die Entwicklung. Ich bin nicht so blind und naiv, die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung nicht zu sehen, und weiß, daß der Einzelne, Stände und Klassen ihre Interessen verteidigen müssen, aber das bedeutet für mich nicht »homo homini lupus«, wie schon längst gesagt wurde.

Was den Marxismus betrifft: der Marxismus ist eine wirtschaftliche Theorie und eine Philosophie, vor allem eine Philosophie der Geschichte. Die wirtschaftliche Theorie ist eine Sache der wissenschaftlichen Forschung, der Revision und Verbesserung, wie sie in jeder Wissenschaft vor sich geht; und auch die Philosophie muß wie jede andere Philosophie der Kritik und der freien Betrachtung unterworfen werden. Deshalb entstand der Revisionismus und entsteht jetzt wiederum. Jede Revision eines Glaubens und Programms ist schmerzlich; aber ohne diese Schmerzen gäbe es keine Entwicklung. Ich habe keine fertige soziale Doktrin in der Tasche. Ich möchte es so sagen und habe es schon früher gesagt: Ich bin stets für die Arbeiter und für die werktätigen Menschen überhaupt, oft für den Sozialismus und selten für den Marxismus.

Meine Anschauungen vom Sozialismus entstammen meiner Auffassung der Demokratie. Die Revolution, die Diktatur kann manchmal das Schlechte zerstören, sie schafft aber nichts Gutes und Dauerhaftes. Unselig in der Politik ist die Ungeduld. Wenn ich bedenke, daß die Menschheitsgeschichte, soweit wir Denkmäler von ihr haben, vielleicht nur einige zehntausend Jahre alt ist, daß wir erst an der Schwelle der Entwicklung stehen, wie soll ich daran glauben, daß irgendein Biedermann, Cäsarist oder Revolutionär, mit einem Schlage den Gipfel dieser Entwicklung erreicht? Noch sind es keine zweihundert Jahre her, daß die Leibeigenschaft und Sklaverei, noch kürzer ist es her, daß die Robot aufgehoben wurde. Kaum hundert, kaum fünfzig Jahre, daß an den sozialen Problemen der Arbeiterschaft und der kleinen Leute bewußt und systematisch gearbeitet wird. Stellen Sie sich vor, daß wir noch Hunderttausende, Millionen von Jahren vor uns haben – und da wollen wir schon mit allem fertig sein? Natürlich wird der Hungrige an der Zukunft nicht satt. Der Glaube an die Entwicklung und den Fortschritt befreit uns nicht von unseren Pflichten gegen die Bedürfnisse des Heute.

*

In der Literatur gärte es zu jener Zeit. Damals kam die fremde Literatur in vollen Strömen zu uns, die französische, von Zola angefangen bis über die Symbolisten hinaus, dann die nordischen Autoren, Ibsen begann zu wirken. Ein Symptom dieser Bewegung war Machar Tschechischer Dichter, in dessen Lyrik sich die Problematik des modernen Menschen bald veristisch, bald ironisch-satirisch ausdrückt; nach dem Umsturz (1919-1924) Generalinspektor der tschechoslowakischen Armee. (Anm. d. Übers.) und seine »Konfessionen«. Die russische Literatur, namentlich Tolstoj und Dostojewskij begannen ihren Einfluß auszuüben. Auf einmal war eine Fülle neuer Eindrücke und Maßstäbe da. Auch die Universität wurde dadurch sehr einflußreich, daß sie national war. Der Realismus betonte die Wissenschaft als wichtigen Bestandteil der Nationalität. Kurzum, die neunziger Jahre waren eine starke und wichtige Zeit. Es war ein Auftun von Fenstern und Wegen in die Welt und ein Suchen nach sich selbst.

Ich gab damals, nach dem »Athenaeum«, die Zeitschrift »Naše Doba« heraus. Der neue Verlag Laichter verbreitete wissenschaftliche und philosophische Bücher. Politisch versenkte ich mich nach den zweijährigen Erfahrungen im Wiener Parlament in das Studium der Entwicklung unserer Parteien und der tschechischen Politik seit dem Jahre 1848. Bei Palacký fand ich die ernste philosophische Rechtfertigung meines politischen Programms; meine Auffassung der tschechischen Frage, die Wertung der tschechischen Reformation und des Humanitätsideals. Am klarsten hat Palacký seine Geschichtsphilosophie in der kleinen Schrift gegen Helfert niedergeschrieben.

In der Politik soll man sich in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang einreihen. Man soll nicht an Vorgänger anknüpfen, sondern nach Möglichkeit an die ganze Geschichte. Ich möchte hinzufügen, daß auch in der Politik Gottes Mühlen langsam mahlen, aber genau und nach ganzen Zeitaltern.

*

Eine böse Kampagne war die »Hilsneriade«, während der ich mit dem Aberglauben vom Ritualmord zu tun bekam. Anfangs hatte ich mich für den Prozeß Hilsner Der jüdische Landstreicher Hilsner wurde 1899 des Mordes an einem Mädchen in Polna angeklagt und auf Grund von bloßen Indizien zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglicher Kerkerstrafe begnadigt. Der Prozeß erregte viel Aufsehen. Masaryk griff durch die Veröffentlichung der Broschüre »Die Notwendigkeit der Revision des Polnaer Prozesses« ein, »nicht, um Hilsner zu verteidigen«, wie er schrieb, »sondern um die Christen gegen den Aberglauben zu verteidigen«. (Anm. d. Übers.) nicht interessiert, aber dann besuchte mich ein ehemaliger Schüler aus Wien, der Schriftsteller Sigmund Münz, ein Mähre, und bewog mich, einzugreifen.

Ich kannte Bücher des Berliner Theologen Strack, der über den Ursprung und die Geschichte dieses Aberglaubens geschrieben hatte. Ich teilte Münz meine Anschauung mit, und er veröffentlichte sie in der »Neuen Freien Presse«. So geriet ich in den Wirbel. Die Wiener Antisemiten hetzten die tschechische nationale und klerikale Presse auf und begannen auf mich loszuschlagen – nun, ich mußte mich verteidigen; da ich einmal A gesagt hatte, sagte ich auch B und C. Ich studierte Kriminalistik und Physiologie, fuhr auch nach Polna, um den Tatort des Verbrechens und seine Umgebung zu besichtigen. Sofort hieß es, ich sei dafür von den Juden bezahlt. Zu meinen Universitätsvorlesungen kamen Studenten und Nichtstudenten und schrien mich nieder. In diesem Lärm schrieb ich mit Kreide einen Protest gegen die dummen Verleumdungen an die Tafel und forderte die Hörer auf, mir Beweise und Gründe für ihre Demonstration mitzuteilen. Am Nachmittag meldete sich ein einziger, ein schmächtiger netter Junge – es war der spätere Dichter Otokar Theer. Damit die Demonstranten nicht glaubten, ich hätte Angst vor ihnen, schritt ich den ganzen Hörsaal ab und verlangte ihre Argumente zu hören – niemand wagte sich vor.

Auch die Universität beeilte sich nicht, Ordnung zu schaffen; sie unterbrach nur meine Vorlesungen vierzehn Tage. Abends versammelten sich Demonstranten vor meiner Wohnung. Ich lag erkältet im Bett, meine Frau ging zu ihnen auf die Straße und sagte, ich läge krank, wenn sie aber mit mir sprechen wollten, so sollten sie eine Deputation zu mir senden. Sie kamen nicht.

*

Ad vocem Politik: Vielleicht ist es wahr, daß ich zur Politik geboren bin. Wenigstens zielte alles, was ich jemals tat und was mich interessierte, wenn auch nur indirekt, auf die Politik hin. Aber niemals genügte mir das Politisieren an sich, ob es nun um nationale oder soziale Ideale oder anderes ging. Ich forderte immer eine vernünftige und ehrliche Politik. In diesem Sinn habe ich gesagt, daß auch die Selbständigkeit uns nicht erlösen werde. Ich sah in der Politik ein Mittel, das Ziel war für mich ein religiöses und moralisches. Aber ich wußte, daß wir politisch frei sein müßten, um unsern geistigen Weg frei zu gehen. Nicht einmal heute sage ich, daß der Staat die Erfüllung unserer Sendung ist: Wir müssen zum Bau der Civitas Dei beitragen.

Slovakei

Eigentlich war ich von klein auf halb ein Slovak. Mein Vater war ein Slovak aus Kopčany, sprach bis zum Tode slovakisch, und auch ich sprach slovakisch; eines Unterschieds zwischen den ungarischen und den mährischen Slovaken, unter denen ich als Kind aufwuchs, war ich mir nicht bewußt. Wenn die Großmutter aus Kopčany uns besuchte, brachte sie mir jedesmal breite slovakische Hosen als Geschenk mit; ich zog sie über Nacht im Bett an, weil ich sonst, wie man sagte, nach Herrenart gekleidet ging. Die Beziehungen meiner Familie zu Kopčany und Holič waren eng; in Kopčany kam ich schon als Kind mit dem Magyarischen in Berührung. In der Familie blieben ein paar magyarische Worte haften; wir sagten zum Beispiel »halgas« (schweig) und ähnliches. Ein, zwei Sprößlinge aus Vaters Familie wurden völlig magyarisiert. Noch nach Prag kamen mir Kusinen aus Ungarn nach. In Wien suchte ich auch Spuren von Slovaken, die früher dort gelebt hatten, wie Kollár und wie Kuzmány, der, glaube ich, den ersten Versuch eines slovakischen Romans unternommen hat.

Nach meiner Ankunft in Prag pflegten wir Professoren im Hotel de Saxe zusammenzukommen. In unseren Auseinandersetzungen vertrat ich die Ansicht, wir Tschechen müßten trachten, uns politisch mit den Slovaken zu vereinigen. Die andern zitierten Rieger gegen mich, die slovakische Frage sei eine Causa finita. Sie hielten am historischen Staatsrecht fest; der tschechische Staat, das seien de jure nur die historischen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien – auf die Slovaken verzichteten sie. Deshalb war ich gegen den ausschließlichen Historismus.

Was ist das eigentlich, das historische Recht? Ist denn das Recht abhängig von der Zeit und davon, ob es wirklich ausgeübt worden ist oder nicht? Ist das Recht nicht einfach Recht, ohne Rücksicht darauf, ob es Geltung hatte oder nicht? Konnten sich nicht auch Österreich und die Magyaren gegen uns auf das historische Recht berufen? Ich lehnte das sogenannte historische Recht niemals ab, vereinigte es aber mit dem Naturrecht: dieses ist vor allem demokratischer. Das Recht ist nicht ein ererbtes Privileg, sondern der Anspruch eines jeden Menschen auf sein Leben. Nach dem historischen Staatsrecht hätten wir die Slovakei den Magyaren lassen müssen. Und schließlich war mir das historische Recht unsympathisch als ein Produkt des vorrevolutionären, reaktionären Deutschland.

Die Jungtschechen beriefen sich in ihren Anfängen richtigerweise auf das natürliche neben dem historischen Recht. Es gab damals bei uns auch Slovakophilen wie Heyduk und andere, sie waren sich der nationalen Einheit oder Brüderlichkeit bewußt, aber das war mehr Literatur als Politik; politische Folgen davon abzuleiten, wagte man nicht. Darin äußerte sich noch der Geist Kollárs, dem die nationale und kulturelle Unabhängigkeit genügt hatte. Die politische Selbständigkeit fiel ihm und seinen Zeitgenossen nicht einmal im Traume ein.

Für mich handelte es sich damals darum, daß die Tschechen und Prager die Slovakei wirklich kennenlernten. Slovakische Lieder singen, das war mir nicht genug. Deswegen sorgte ich, als wir den »Čas« Tschechische Tageszeitung, die Masaryks Organ wurde. Sie erscheint nicht mehr. (Anm. d. Übers.) übernahmen, für das regelmäßige Erscheinen einer slovakischen Rubrik. Auch lud ich slovakische Studenten zu mir ein; schon Ende der achtziger Jahre nahm ich mir eine regelmäßige Sommerwohnung an der Bysřička bei Turčianský Sv. Martin, um die Slovaken selbst näher kennenzulernen und auf sie wirken zu können. Dort verbrachte ich mehr als zehn Sommer, In Mošovce wollten mich die magyarischen Gendarmen festnehmen, als ich über Kollár an der Stelle sprach, wo sein Geburtshaus gestanden hatte.

Ende der neunziger Jahre gab es eine Versammlung der Slovaken in Sv. Martin: die Opposition, der jüngere Flügel, kam an die Bysřička zu mir. Ich sprach über ein slovakisches Programm, über kulturelle und politische Arbeit mit ihnen; daraus entstand im Jahre 1898 die Revue »Hlas«.

Als ich im Jahre 1914 über die Grenze gehen wollte, rechnete ich schon ganz bestimmt mit der Slovakei. Um aber eine gewisse Vollmacht in dieser Richtung zu haben, wollte ich wissen, was andere Abgeordnete dazu sagten und sondierte bei ihnen. Ich sprach mit Antonín Hajn, einem der Staatsrechtler; Hajn war sofort und völlig für die Sache und sagte mir, er kenne einen Offizier beim Generalstab, der uns eine Landkarte der künftigen Slovakei vom nationalen und strategischen Gesichtspunkt aus zeichnen könnte. Er brachte mir dann wirklich die Landkarte, auf der die künftigen Grenzen mit dem Bleistift eingezeichnet waren; unsere heutigen Grenzen decken sich fast genau mit ihnen.

Und als ich ins Ausland kam, freute ich mich, daß der Slovak Štefánik Milan Štefánik (1880-1919) studierte Astronomie, wurde Assistent der Sternwarte in Meudon bei Paris, machte große wissenschaftliche Reisen, u. a. nach Tahiti und Ecuador, trat im August 1914 als Flieger in die französische Armee ein, schloß sich im Laufe des Krieges Masaryk und Beneš an, erwarb sich Verdienste um die tschechoslovakischen Legionen und durch diplomatische Werbearbeit; er wurde im ersten tschechoslovakischen Kabinett Kriegsminister. Bei der Rückkehr in die Heimat im Flugzeuge stürzte Štefánik tödlich ab. (Anm. d. Übers.) zugleich mit uns und für das gleiche Ziel zu arbeiten anfing. Bald kamen andere: so Osuský aus Amerika; Pavlů und der junge Hurban waren in Rußland.

*

Wenn mir an der Bystřička die Leute erzählten, in den Bergen gäbe es Bären, die Rinder anfielen und in die Haferfelder einbrächen, so glaubte ich es nicht. Ich dachte, die Hirten erschlügen manchmal selbst ein Lamm oder verkauften es und redeten sich dann auf die Bären aus. Unser Nachbar Markovický führte mich einmal an eine Stelle, wo ich sehen sollte, wozu so ein Bär imstande sei. Der Bär setze sich im Haferfeld auf die Hinterbeine und reiße mit den Vorderpfoten den Hafer ins Maul; dann schiebe er sich auf dem Stroh weiter, über das ganze Feld. Das sehe aus wie zerstampft. Markovický zeigte mir solch ein Feld, in dem auch große Misthaufen voll Hafer und Schwarzbeeren waren.

Gut, da der Bär da war, los auf ihn! Man lieh mir einen fürchterlichen Schießprügel, einen Hinterlader aus der türkischen Armee, und wir legten uns am Abend bei Vollmond auf die Lauer, Markovický, ein Förster und ich. Wir warteten beim Haferfeld am Rande des Waldes, eine, zwei Stunden, der Bär kam nicht. Mitternacht näherte sich, die Sterne leuchteten, und überall auf den Alpen rings zündeten die Schafhirten Feuer an, da, dort und dort – es war herrlich! Wir hatten den Bären schon vergessen, begannen zu plaudern, Markovický rauchte seine Pfeife, der Förster war eingeschlafen.

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Masaryk bei Manövern (1922)

Plötzlich sehe ich einen Bären, der über die Lichtung aus dem Walde hervorkommt, dreißig, fünfunddreißig Schritte von uns entfernt. Ein riesiges prachtvolles Tier! Ich hob das Gewehr, konnte aber nicht schießen, ich zitterte wie Espenlaub. Inzwischen hatte uns der Bär gewittert, sprang in den Hafer hinein und von dort in den Wald.

So schändlich hatte ich mich also benommen. Es war nicht Angst, eher die Überraschung darüber, daß es wirklich Bären gab, woran ich nicht mehr geglaubt hatte, oder vielleicht die Aufregung, daß es ein so schönes und starkes Tier war und ich tückisch darauf schießen sollte.

Ein zweites Mal stieß ich auf einen Bären im Wald auf dem Anstand. Es war ein kleineres Tier, ich schoß es auf das Blatt. Der Bär lief davon und lebte noch eine Weile. Wir setzten uns und warteten: so lange unser Hündchen ihn anbellte, lebte er. Als der Hund aufgehört hatte, holten wir das tote Tier. Noch heute haben wir sein Fell irgendwo im Hause.

Ein drittes Mal begegnete ich einem Bären auf folgende Weise: ich reiste von der Bystřička ab und ging vorher noch allein über die Hänge, um Abschied zu nehmen. Ich hatte ein Gewehr bei mir und einen Hund, einen kleinen, mutigen Hund. Ich gehe auf einem Pfad über eine Alpe und sehe etwa zweihundert Schritte vor mir einen Bären, wieder ein ungeheures Tier, das gerade Schwarzbeeren frißt. Ich näherte mich ihm gegen den Wind, so daß es mich nicht witterte. Aber der Hund läuft vor mir her. Plötzlich wittert er den Bären und rennt auf ihn zu. Der Bär hebt den Kopf – da mußte ich schnell schießen, ungefähr auf hundertzwanzig Schritte. Er bekam die Kugel aufs Blatt, überschlug sich, lief aber in den Wald hinein. Ich ihm nach. Natürlich soll man einen verwundeten Bären nicht verfolgen, das hatte ich aber vergessen. Natürlich! Da denkt man nur daran, ihn zu erwischen. Der Bär blutete und rannte immer weiter in die Berge hinein. Ich jagte ihm lange nach, holte ihn aber nicht mehr ein, denn es wurde schon dunkel. Am nächsten Morgen gingen wir ihn suchen. Wir folgten seiner Blutspur bis an die Grenze des fremden Reviers, weiter durften wir nicht. Man schrieb mir später, daß er drei Tage darauf in dem fremden Revier tot aufgefunden worden sei, angefressen von Würmern. Man sagt, die Bären wären so wie die Menschen derselben Gegend. Bei uns in der Slovakei sind die Bären gutmütig.

Ich habe auch Wildschweine gejagt, aber sonst kein anderes Tier. Dagegen ging ich gerne angeln, Forellen und Äschen. Es geschah nicht so sehr der Fische wegen, eher wegen des Herumwatens im Wasser und der herrlichen Stunden an den Bachufern. Wissen Sie, wo es Forellen gibt, dort ist es immer schön. Ich lehrte die Leute von Sv. Martin, die Fische mit der Fliege fangen statt mit dem Wurm; Würmer sind häßlich und man muß auf einer Stelle sitzenbleiben, wenn man sie benützt, während man mit der Fliege auf und ab geht. Es ist nicht so einfach: man muß die künstliche Fliege gut auswählen, je nach der Jahreszeit; man muß die Fliege an den Fisch heranwerfen und, wenn er anbeißt, rasch und aufmerksam verhaken, die Schnur aufrollen und den Fisch im Netz auffangen. Das alles ist eine Kunst. Gewöhnlich ließ ich die gefangenen Fische wieder ins Wasser.

Dann habe ich das alles aufgegeben, meiner Frau taten die Tiere leid.

*

In der Natur beobachte ich an mir, wie entscheidend die ersten Kindheitseindrücke für das ganze Leben sind. Ich bin in einer Ebene geboren. Bis heute liebe ich die Berge und den Wald nicht, sie engen mich ein. Dagegen liebe ich die Ebenen, das Meer und die Steppe, und wenn ich schon in den Bergen bin, so will ich auf der Spitze stehen und in die Ferne schauen. In der Ebene erlebt man die schönsten Sonnenuntergänge. Ich habe so wunderbare gesehen, daß sie mir für mein ganzes Leben im Gedächtnis haftengeblieben sind. Einmal sah ich die Prager Burg von der Elisabethbrücke aus im Abendnebel – ein herrliches Bild. Ein andermal sah ich unterhalb der Palackýbrücke das silberne Morgenlicht strömen – diese Bilder kann ich nicht vergessen. Einmal fuhr ich im Zug, es war schon Winter; als wir aus dem Tunnel kamen, erblickte ich ein Bäumchen, das noch Laub trug, denn es war durch den Tunneleinschnitt geschützt; es war nur ein Augenblick, aber es traf mich wie eine Offenbarung – ich begriff plötzlich den Pantheismus, die Gottheit in der Natur. Ich begriff ihn, nahm ihn aber niemals an.

Ich liebe das Land mehr als die Städte. Die vier Jahre jenseits der Grenze wurden mir auch darum schwer, weil ich fortwährend in großen Städten leben mußte. Ich bemerkte nach der Rückkehr aus dem Kriege, daß mir die Natur beinahe lieber geworden war als vorher. Vielleicht wird einmal der Verkehr die Entstadtlichung herbeiführen, wie das Programm des Sozialismus es vorsieht; dann wird die Industrie nicht mehr in den Städten zusammengeballt sein, die Städte werden gesünder sein – die Zivilisation selbst wird die Menschen der Natur näherbringen.

Ich suche in der Natur nicht die Einzelheit, sondern die Gesamtheit, die Farben und die Form der Landschaft. Ich liebe die Sonne, die frische Luft und den Wind, die Freiheit. Die häusliche Umgebung beachte ich wenig, ich habe nicht bemerkt, was für Möbel es in Topolčianky gibt. Aber die Berge am Horizont kenne ich alle, auf meinem alten Hektor bin ich bis hinauf geritten, um zu sehen, was dahinter ist.

Wollte ich jedes Blümchen, jedes Insekt und jeden Vogel ansehen, so würde ich wissen wollen, was, wie und warum das alles ist, und dazu habe ich keine Zeit mehr. Ich habe genug mit den Menschen zu tun, das gehört schon zum Handwerk. Darum bin ich gern in der Natur – und denke in ihr an die Menschen.

Die Jahre 1900-1910

Im ganzen war in dieser Zeit nichts für mich los. Wenigstens hatte ich etwas Ruhe; die bösen Streitigkeiten lagen hinter mir. Es gab eine Kampagne für die achtstündige Arbeitszeit, man agitierte für das allgemeine Wahlrecht – selbstverständlich machte ich diese Dinge mit. Ich hielt Vorlesungen an der Universität, ich weiß nicht mehr worüber; ich berührte dabei unsere Verhältnisse, besonders in der praktischen Philosophie. Mein Hörsaal war voll, obgleich ich kein guter Lehrer war. Ich veranstaltete Versammlungen und Kurse, öffentliche Diskussionen und derlei Sachen.

Vielleicht ist es eine Schwäche, aber ich habe eine Scheu vor Menschen. Ich spreche ungern; so oft ich vortragen und in Versammlungen oder in der Schule reden sollte, immer hatte ich Lampenfieber. Und dennoch, wie viele Reden habe ich gehalten! Auch heute leide ich an Lampenfieber, wenn ich öffentlich auftreten oder eine Rede halten soll. Reden um des Redens willen, das ist leicht, aber über praktische Dinge reden, die getan werden sollen – das ist ganz etwas anderes. Niemals habe ich gerne im Vordergrund gestanden und mich den Blicken der Menschen ausgesetzt. Es genügt mir, zweiter oder dritter zu sein. Niemals habe ich mich zur öffentlichen Tätigkeit gedrängt; immer habe ich mich gesträubt, wenn andere es von mir verlangten. Aber selbst wenn ich es unfreiwillig tat und dachte, dadurch Zeit zu verlieren, so lag eine gewisse Logik darin und es führte zu etwas. Das war mit allem so.

Einmal, es mag 1902 gewesen sein, kam eines Morgens früh ein Amerikaner mit einer Empfehlung Louis Legers aus Paris zu mir. Bevor er gesagt hatte, was er wollte, dachte ich, es sei ein Journalist, der Hilfe brauchte, und rechnete im Geiste nach, wieviel ich ihm geben könnte. Es war aber Mr. Crane, Industrieller aus Chicago. Herr Crane besaß auch in Rußland ein Unternehmen, pflegte sich dort aufzuhalten und interessierte sich für slavische Fragen. Deshalb gründete er an der Universität von Chicago einen Fonds für slavische Studien und war gekommen, um mich einzuladen, dort Vorträge zu halten. Auch Miljukow und andere sollten in Chicago sprechen. Ich reiste hin und hielt einen Kursus von etwa zehn oder zwölf Vorträgen, über Dostojewskij, über Kirějevskij und auch über unsere Probleme; außerdem reiste ich herum, um bei unseren amerikanischen Landsleuten zu sprechen. Herr Crane war ein Bekannter von Professor Wilson, sein Sohn später, während Wilsons Präsidentschaft, Sekretär des Kriegsministers; während des Krieges halfen sie uns viel. Ein andermal reiste ich im Jahre 1907 nach Amerika zum Kongreß der freien religiösen Arbeiter in Boston; auch dort hielt ich einen Vortrag. Ebenso für die Tschechen, namentlich die Freisinnigen in Chicago.

In England war ich zweimal. Als in Wien ein Antialkoholkongreß abgehalten wurde, improvisierte ich dort eine Rede; die gefiel auch manchen Engländern, so daß ich mit einer Reihe von englischen Professoren in Berührung kam. Später reiste ich mit meiner Tochter Alice nach England. Wir besuchten diesmal Elisabeth Blackwell, eine seltene Frau, die den Frauen die ärztliche Laufbahn geöffnet hatte. Als ich dann während des Krieges nach England kam, hatte ich dort schon eine Reihe von Bekannten.

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Die Fortschrittspartei oder, wie man sie nannte, die »realistische« Partei habe ich nicht gegründet, ja, ich war sogar gegen die Gründung. Ich hätte auf die Öffentlichkeit lieber nur durch die Presse gewirkt oder bei uns eine Art von Fabier-Bewegung hervorgerufen, die in allen Parteien durch Vorträge und Diskussionen gearbeitet hätte. Aber die Jüngeren entschlossen sich, eine Partei zu gründen, weil für sie in den anderen kein Platz war, und als sie schon zusammenkamen und mich einluden, ging ich mit ihnen. Das war im Jahre 1900. Aus den ersten Versammlungen wurde ein ganzes Programmbuch zusammengestellt, das man das »rote Büchlein« nannte. Die Realisten waren eigentlich keine rein politische Partei, es handelte sich für sie nicht nur um Politik; sie erstrebten eine wissenschaftliche Vertiefung, eine Kulturpolitik, die ich auch die »unpolitische Politik« zu nennen pflegte.

Zweimal gehörte ich einer politischen Partei an. Der jungtschechischen als Realist und der realistischen. Ich bin kein Parteimensch. Nicht, daß ich die Notwendigkeit von Parteien nicht anerkennen würde; aber ich trachtete stets, die schon bestehenden Parteien zu reformieren. In gewissem Maße ist mir das gelungen, aber durch Kämpfe, wie die Verhältnisse sie mir aufzwangen. Ich kam fremd nach Prag und blieb längere Zeit fremd; das erklärt auch, wenigstens zum Teil, meine besondere Position.

Bei uns gab es vorerst eine einzige, namenlose Partei, die Partei Palackýs und Havlíčeks. Die Spaltung begann, als die neue Schicht der Landadvokaten emporstieg. Während der jungtschechischen Ära erwachten die Städte und Städtchen aus dem Provinzschlaf. Die neuen Menschen drängten sich gleichsam mit aufgekrempelten Ärmeln ins Leben hinein; so etwa war die radikale jungtschechische Stimmung. Der Sozialismus war durch die Industrialisierung, die Anhäufung von Arbeitern, von Menschen mit gleichem Rock und gleichen Bedürfnissen unter einem Fabrikdach, gegeben. Der Sozialismus entwickelte sich überall, in Deutschland, Frankreich, England, in Rußland. Die Jungtschechen begriffen das nicht und trafen sich selbst, indem sie die Sozialisten bekämpften.

Neben dem Arbeiter hatten wir den Bauer, den wirtschaftlichen Individualisten und für die damalige Zeit konservativen Menschen.

Nimmt man die katholische Partei dazu, so hat man zwei große politische Parteien (die Sozialisten – die Agrarier), und außer ihnen, wie man zu sagen pflegt, die bürgerliche und die katholische Partei.

Aber bei uns schritt die Spezialisierung oder, wenn man will, die Zersplitterung noch fort. Kleine Parteien entstanden.

Das politische Parteiwesen ist natürlich, aber es hat seine guten und schlechten Seiten, wie alles Menschliche. Alles läßt sich mißbrauchen; es kommt darauf an, ob die Menschen anständig und gebildet sind. Ich für meine Person glaube auch in diesem Fall mehr an die Menschen als an die Einrichtungen, an die Parteien.

Gewiß ist es ein interessantes Problem, warum bei uns so viele Parteien entstanden sind, während die Engländer oder Amerikaner mit zweien oder dreien auskommen. Es ist nicht unser Spezifikum, unsere Deutschen sind analog geteilt. In beiden Fällen lag die Ursache dieser Zersplitterung eigentlich in Wien. Wien herrschte und verwaltete, der Reichsrat und die Landtage waren der Regierung und der Krone untergeordnet; dadurch trugen die Parteien nicht die Last der Verantwortung, und der Regierung schadete es nicht, wenn sie sich zersplitterten. Diese österreichische Erziehung ist bisher nicht überwunden; wir wünschen uns die Entösterreicherung, leben aber tatsächlich nach der alten Gewohnheit. Daß nach dem Umsturz 1918 die kleineren Parteien sich einigten und die Nationaldemokratie bildeten, war in der Idee ein guter Versuch ebenso wie der, daß man an die Bildung größerer Blocks zu denken beginnt. Darin ist schon ein größeres Verständnis für den Staat zu erblicken.

Staatsmänner sind nur diejenigen Politiker und öffentlichen Faktoren, die in allem, was sie tun, wirklich das Interesse des Staates im Sinn haben. Für sie gibt es nur eine wahre Politik: die Harmonisierung kleinerer Teile zu einem Ganzen, die Zusammenfassung von Organisationen, die Vereinheitlichung aller Bestrebungen. Eine solche Politik überschreitet auch die Grenzen des Staates. Einer solchen Politik bedarf unsere Zeit, die Nachkriegszeit.

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Mir stand zeitlebens das literarische Organ der Politik nahe: die Zeitung. Auch heute wäre ich wohl Journalist, wenn ich nicht ein anderes Handwerk ausübte.

Als Student, etwa im Jahre 1876, schrieb ich von Wien aus unter dem Kennzeichen –y– in Zeitungen. In Prag vereinbarte ich, es mag 1885 gewesen sein, die wissenschaftliche Rubrik der »Národní Listy« zu leiten.

Im Jahre 1900 begann der »Čas« als Tageszeitung zu erscheinen. Ich besuchte regelmäßig die Redaktion und beriet sie mehr, als ich schrieb. Die beste Erinnerung an diese Mitarbeit bewahre ich vom Beginn des Krieges im Jahre 1914. Da kamen wir zusammen, Dr. Herben, Ingenieur Pfeffermann, Kunte, ich und später auch Beneš, und studierten aufmerksam die Kriegslage. Die Beratungen ergaben gute Artikel, soweit die damalige Zensur sie zuließ.

Damals schrieb ich auch zwei Artikel für »Naše Doba« Tschechische Monatsschrift: »Unsere Zeit«. (Anm. d. Übers.), in denen ich die Kräfte der beiden kämpfenden Lager verglich. Ich fürchtete, daß der Krieg, wenn er kurz dauerte, uns nicht befreien würde, selbst wenn Österreich geschlagen werden sollte. Wir Tschechen waren nicht vorbereitet, die Kriegsmächte wußten kaum von uns. So erwog ich und spekulierte darüber, wer es länger aushalten könne – ich fürchtete den Fall, daß der Krieg kurz dauern könnte, und warf mir dabei die Grausamkeit vor, die darin lag, einen langen Krieg zu wünschen.

Was soll ich über die Zeitungen sagen! Täglich ärgere ich mich über sie. Daraus ersehe ich, wie ich sie liebe.

Wir hatten zwei große Journalisten: Havlíček und Neruda Jan Neruda (1834-1891), Verfasser der »Kleinseitner Geschichten« und mehrerer Gedichtbücher. (Anm. d. Übers.). Neruda war allerdings nur mittelbar Journalist, er war Feuilletonist und Kulturchronist. Die beiden zeigen, wie ein guter Journalist beschaffen sein soll. Er soll gebildet und gewandt sein; er soll beobachten und werten können. Er soll niemals gleichgültig sein, die ganze Welt, die ganze Gegenwart ist sein Stoff. Journalist sein, das bedeutet die Zeitgenossen beobachten und erkennen.

Ich sage: Beobachten und erkennen. Ein Journalist, der alles nach der Elle seiner politischen Partei mißt und zuschneidet, der predigt entweder oder zankt sich herum. Da leistet schon der Lokalreporter, der genau beschreibt, was geschieht, eine größere und ehrlichere Arbeit. Allerdings muß ein guter Journalist Charakter haben, er muß sich die Freiheit des Wortes erobern – Freiheit, Freiheit! ...

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In den Jahren 1905 und 1906 ging es um das allgemeine Wahlrecht. Der Kaiser und Taaffe Der damalige österreichische Ministerpräsident. (Anm. d. Übersetzers.) wünschten die Einführung, sie erwarteten, daß durch den Eintritt der sozialen Parteien ins Parlament die Nationalitätenkämpfe nachlassen würden. Die tschechischen Parteien waren auch dafür, weil sie dadurch nur an Stimmen gewinnen konnten. Das Jahr 1907 brachte die ersten Wahlen mit dem allgemeinen Wahlrecht.

Im Walachischen gab es einen fortschrittlichen politischen Verein; er wurde von einigen meiner Schüler geleitet. Bei der Ausschreibung der Wahlen fiel es jemandem ein, mich aufzustellen. So kandidierte ich. Damals wurde, ohne mein Zutun, die Agitation für die gesetzliche Ehescheidung entfesselt. Die Klerikalen schrieben sie mir zu. Zu den Wahlversammlungen fuhr ich mit der Heiligen Schrift in der Tasche. Wenn irgendein Pfarrer oder Kaplan die Unlösbarkeit der Ehe verteidigte, las ich aus dem Evangelium Matthäus vor, daß Jesus die Scheidung zuließ. Der Herr Pater war dann mit seiner Weisheit zu Ende. Mich widerte es an, in den Versammlungen nur die politischen Schlagworte wiederzukäuen. Ich sprach lieber über Alkoholismus, wirtschaftliche Fragen und anderes, damit die Menschen etwas Sachliches zu hören bekämen. Ich gewann die Wahl und ging wieder nach Wien. Wir waren dort zwei Realisten: Professor Ďrtina und ich.

Warum die Klerikalen gegen mich waren? Als ich als Professor nach Prag gekommen war, wurde ich auch von katholischer Seite recht anständig empfangen. Über meinen »Blaise Pascal« schrieb Pater Vychodil z Rejhradu mit Anerkennung. Aber dann gruben sie aus, ich hätte im »Selbstmord« geschrieben, daß der Katholizismus für uns unmöglich sei. Den deutschen Katholiken im Reich hatte das nichts ausgemacht, und sie hatten meinen »Selbstmord« mit großer Anerkennung zitiert (Ratzinger). Aber die deutschen Katholiken waren eben gebildeter. Ich glaube, daß ich im »Athenaeum« philosophische Arbeiten unserer Katholiken kritisiert habe; sie waren schwach. Als dann der Handschriftenstreit ausbrach, ging die katholische Zeitung »Čech« am schärfsten gegen mich vor. Die klerikale Presse prägte das Wort, daß ich die Jugend verderbe, und derlei Dinge.

Es ist wahr, man konnte mir nicht verzeihen, daß ich an die tschechische Reformation anknüpfte und an die Stelle der gefälschten alten slavischen Kultur die tschechische Heimatkultur setzte. Ich knüpfte an unsere Reformation an, weil sie vor allem eine sittliche, religiöse und nicht theologische Bewegung war. Hus, vor ihm schon Štítný, gingen von der Besserung der Sitten aus; bei ihnen fand ich das, was mich schon als Knaben bedrückt hatte, als ich das sonderbare Leben der Geistlichen beobachtete.

Auch meine Trennung von der katholischen Kirche war moralisch, nicht dogmatisch. Die Protestanten haben doch die gleichen Hauptdogmen. Gewiß, von den Dogmen mußte ich mich trennen, soweit sie vor der Kritik der Vernunft nicht standhalten konnten; aber das gilt von den Dogmen aller Konfessionen. Was ich durch Vernunft nicht annehmen kann, kann ich auch durch Glauben nicht annehmen – über diese Probleme werde ich vielleicht noch einmal abschließend meine Meinung sagen.

Ich habe auch den Liberalismus nicht geliebt und liebe ihn auch heute nicht, soweit er religiös unzugänglich und oberflächlich ist; der Katholizismus hat mit seinen Fehlern – vor allem in Österreich, wo er der von Gendarmen und allen Behörden geschützte Glaube war – die liberale Laxheit nur genährt. Jesus braucht keine Gendarmen. Es versteht sich, daß in Österreich der Kampf gegen den Staat auch ein Kampf gegen die Staatskirche war. Eben die Allianz von Säbel und Weihwedel verschuldete es, daß bei uns das religiöse Leben so zurückging. Unsere Reformation war grundsätzlich antiösterreichisch gewesen, das verstehen unsere Liberalen heute noch nicht.

Während meiner Konflikte mit den Klerikalen hatte ich eine öffentliche Diskussion in Königgrätz mit den Patres Reyl und Jemelka; es war ein Fortschritt, daß eine solche Diskussion möglich war. Damals kamen viele junge Alumnen und Priester zu mir, um sich zu beraten, ob sie aus der Kirche austreten sollten, wenn sie diese oder jene Zweifel hätten; gewöhnlich riet ich davon ab, denn ich sah, daß ihre Zweifel nicht stark genug waren, um zu einem andern positiven Glauben zu führen. Einer dieser Kapläne gestand mir, daß ihn in seinem Beruf nur eines interessierte: die Beichte von Frauen und Mädchen abzuhören.

Ich war nicht für den Austritt aus der Kirche, sofern er aus Indifferentismus, aus politischen Gründen, wie bei der »Los-von-Rom«-Bewegung, und wegen der Eheschließung geschah; ich wollte, daß die Menschen religiös ehrlich seien.

Einer meiner Konflikte führte zu einem Prozeß mit Katecheten. In einer Versammlung hatte ich einen Fall erwähnt, wo ein Katechet die anderen Lehrer denunziert hatte; diese meine Äußerung wurde irgendwie entstellt, und 308 Katecheten reichten die Klage gegen mich ein, ich hätte alle Katecheten der Denunziation oder Spionage beschuldigt. Ich gewann den Prozeß. Auch hier ging es um die gegenseitigen Dienste, die sich Kirche und Staat erwiesen. Der Staat schützte die Kirche, und die Kirche diente ihm, war kostenlos seine geistliche Polizei. Heute könnten die Katholiken schon wissen, daß das der Kirche, daß das unserem Katholizismus nicht genützt hat.

Und dann die Wahrmund-Affäre! Wahrmund war in Innsbruck Professor für Kirchenrecht. Eine Broschüre, in der er die Kirche kritisierte, wurde konfisziert, und Wahrmund bekam Schwierigkeiten. Der Führer der Wiener Klerikalen, Lueger, interpellierte im Parlament die Regierung, wie ein solcher Mensch Universitätsprofessor sein könne. Es ging also um die Freiheit des Lehrens und der Wissenschaft. Ich stellte mich gegen Lueger, es wurde eine öffentliche Diskussion daraus; alle Fortschrittsparteien, auch die deutschen, standen in dieser Sache hinter mir. Selbst die konservativen Parteien, wie die Polen, gaben zu, daß Lueger über das Ziel hinausgeschossen hätte. Der Streit erregte sogar im Ausland Aufsehen.

Sollen wir Tschechen in der Welt eine geachtete Stellung einnehmen, so müssen wir die Weltfragen zu den unsrigen machen. Andererseits muß unsere tschechische Frage eine Weltfrage werden. Das ist uns erst während des Krieges gelungen.

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Wenn wir schon von der Kirche sprechen – weder die Kirche noch die Theologie bedeuten mir die Religion. Wir Intellektuellen verbohren uns leicht nur in die Lehre, in die Theorie dieser oder jener Kirche; aber das ist nicht das religiöse Leben. Ich vermag über Religion keine abstrakten Betrachtungen anzustellen. Ich sehe noch heute solch einen Sonntag in Čejkovice vor mir: Die ganze Gemeinde versammelt sich, die Bekannten begrüßen einander, die Burschen begegnen den Mädchen, alle schön und herausgeputzt; der Weihrauch duftet, Musik spielt, das ganze Dorf singt, alle erheben sich zugleich und knien nieder, der Vorsteher und der Knecht. Am Altar gibt es ein ganzes Drama, da ist die Predigt, die man versteht, und das geheimnisvolle Latein, das man nicht versteht. Wieviel dieser Sonntag den Menschen gibt und sie zu einem einmütigen Kollektiv vereinigt!

Die katholische Messe, das ist eine volkstümliche Feier; der Protestantismus, der an Zeremonien weniger reich ist, durchdringt mehr den Wochentag.

Die Kirchen üben überhaupt dadurch ihren Einfluß aus, daß sie das ganze Jahr religiös gliedern und einrahmen: die Sonn- und Feiertage sind de facto Feiertage aus der heidnischen Zeit und Naturfeste. Die Kirche begleitet das ganze Menschenleben, bei der Geburt, bei der Reife, bei der Ehe und beim Tode, alles wird durch sie geweiht und in die höhere Ordnung erhoben.

Man muß bedenken, daß die Menschen in so einem Dorf nichts anderes besaßen. Was war das für eine Fessel! Die Kirchenbräuche, aber auch andere Bräuche entstanden in einer Zeit, in der die Menschen nicht Bücher lasen wie heute, in der sie eine analphabetische Masse waren; das dauerte bis in das 20. Jahrhundert. Heute lesen sie, haben Theater und Konzerte, Vorträge, Kinos und Radio für Auge und Ohr; sie haben Vereine, Sport und politische Parteien, um sich zu versammeln. Statt des Gottesdienstes haben sie ihre dicke Zeitungsnummer am Sonntag; wenn ich die meine durchblättere, frage ich mich oft, ob sie den Gottesdienst ersetzen soll, den ich in meiner Kindheit gekannt habe?

Selbstverständlich ändert das Fortschreiten der Geschichte die Sendung der Kirche. Die Kirche hat eigentlich das römische Imperium übernommen und ein Stück der antiken Kultur gerettet. Jahrtausende beherrschte sie die Schulen und die Bildung als ihr Monopol. Ihr waren der ganze humanitäre Dienst, die Spitäler und das Armenwesen eingeräumt. Sie erhielt unter den Nationen und Potentaten nicht nur eine Art von Paneuropa, sondern auch von Einheit der Welt.

In all dem war ein ungeheures organisatorisches, internationales, universales Programm enthalten. Heute sind die Aufgaben in andere Hände, in die des Staates übergegangen. Die Kirche konnte die Schulen nicht weiterbehalten, sie hörte auf, die Wissenschaft zu pflegen und zu kontrollieren. Auch des humanitären Dienstes nahmen sich der Staat und seine soziale Gesetzgebung an. Die internationalen und kulturellen Beziehungen befinden sich in weltlichen Händen. Die wirtschaftliche Wechselseitigkeit verbindet die Welt im Großen, mag es nun gut oder schlecht sein. Wenn ich dies in der Formel ausdrücke, daß die Theokratie vor der Demokratie zurückweicht, so heißt es nicht, daß die Religion ihre Bedeutung und Sendung verliert. Den Kirchen bleibt weiter die Sorge um die Seele, die praktische moralische Fürsorge. Wenn die Geistlichen sie ausüben würden, so wären sie Jesus am nächsten. In fast jeder Familie gibt es irgendein moralisches Problem; es zu erkennen und die dadurch bedrückte Seele zu stärken, das wäre die Pflicht des Geistlichen. Aber solch ein Geistlicher müßte über Menschenkenntnis verfügen, müßte eine eigene, tiefe innere Erfahrung haben – und wo sie hernehmen?

Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten: die Welt hat sich Schritt für Schritt verweltlicht, verstaatlicht, die Kirche hört auf, eine politische und soziale Macht zu sein. Dazu nagen die moderne Kritik und Wissenschaft an den Dogmen und allen Theologien. Daher die religiöse Krise in allen Kirchen.

Die Aufgabe des Christentums, die Aufgabe der Kirchen ist gleich groß, ja größer als sie während der zwei Jahrtausende war: es gilt, der wahre Verkünder der tätigen Liebe und Erwecker der Seelen zu sein. Wie sie dies ausführen sollen, das müssen die Kirchen sich selbst sagen. Schon heute und in Zukunft wird die Religion individueller sein, wird den persönlichen geistlichen Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Ich bin kein Prophet, aber ich denke, daß ich einer der künftigen Gläubigen bin. Freiheit der Wissenschaft und der Forschung, intellektuelle Redlichkeit in religiösen Fragen, Toleranz, dessen bedürfen wir. Wir bedürfen aber nicht der geistlichen Gleichgültigkeit, sondern des Glaubens, des lebendigen Glaubens an etwas Höheres als wir sind, an etwas Großes, Erhabenes und Ewiges.

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Meine Konflikte mit den Historikern! Ich betrachte mich auch als Geschichtsphilosophen. Schon im Gymnasium zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob die Buben in einer Million von Jahren in den Gymnasien auch noch die Reihen der fränkischen Könige und ihrer Kriege werden aufsagen müssen. Es gibt keine Geschichte an sich, es gibt nur Geschichte einer Sache; also Geschichte der Mathematik, der Philosophie, der Kunst und so fort, meinetwegen Geschichte des Hutes und der Stiefel, der ganzen Kultur und des Kosmos. Immer gibt es etwas, was sich wandelt und entwickelt, es gibt keine Bewegung an sich, sondern etwas, was sich bewegt. Ich möchte also, daß mir die Historiker sagten, welche Geschichte sie schreiben; ist es die Geschichte des Staates, was ist dann der Staat und wie ist der heutige Staat aus den vergangenen Anfängen entstanden?

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Porträt 1926

Und weiter: ich bin nicht gegen Geschichte, aber gegen den Historismus. Ich meine damit, daß die Vergangenheit kein entscheidendes Argument ist, weil die Vergangenheit Gutes und Böses umfaßt. Ich will mich daher auf die Vergangenheit nur im Guten berufen. Ebensowenig ist die Gegenwart und die sogenannte Modernität ein Argument. Sowohl der Tyrann als auch der Unterdrückte können sich auf das historische Recht berufen. Das, was war, und daß es war, ist ein bequemes Argument für Reaktionäre. Mich interessiert, wie das Gute und das Böse entstanden ist, was es gestern war und was es heute ist. Die Geschichte ist die Magistra vitae, aber wie viele Historiker und welche waren wirkliche Lehrmeister?

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Der Agramer Prozeß und nach ihm der Prozeß Friedjung waren ein Stück Diplomatie. Ich kam durch sie in die Kampagne gegen den österreichischen Außenminister Ährenthal und in die Außenpolitik.

Das kam so: In Agram wurden im Jahre 1909 53 Kroaten, Intellektuelle und Bauern, wegen Hochverrats vor Gericht gestellt. Die Dokumente waren von magyarischen Agenten gefälscht. Es ging um den Kopf. Ich hatte in Bosnien und Kroatien seit meiner Kampagne gegen Kállay Bekannte und ziemlich viele Schüler, die mich baten, nach Agram zu kommen. Ich hatte keine große Lust dazu, fürchtete, viel Zeit zu verlieren; schließlich fuhr ich doch hin, wohnte dem Prozeß bei und legte darauf den ganzen Fall dem Parlament dar. Das Urteil wurde aufgehoben.

Das andere war die Affäre Friedjung Der Wiener Universitätsprofessor und Historiker Heinrich Friedjung (1851-1920), Verfasser des Werkes »Zeitalter des Imperialismus«. (Anm. d. Übers.). Er hatte ein falsches Dokument veröffentlicht, das die serbischen Umtriebe gegen Österreich beweisen sollte. Ich sah auf den ersten Blick, daß das Dokument gefälscht war. Ich kannte doch die Menschen in Serbien und Kroatien und wußte, was sie erstrebten und was sie unternahmen. Der kroatische Abgeordnete Supilo sagte mir, er hätte Beweise, daß hinter der Fälschung Agenten des Außenministeriums und der Gesandte Forgach stünden. Das genügte mir nicht, ich wollte mich genau und an Ort und Stelle vergewissern. Darum reiste ich mehrmals nach Belgrad; wir fanden dort sogar die Löcher in der Tür, an die das Dokument zum Photographieren befestigt worden war. Ich nahm auch Vasič, der das Dokument angefertigt hatte, in Augenschein – kurzum, Friedjung verlor seinen Prozeß und ich setzte in den Delegationen meine Kampagne gegen Ährenthal fort.

Seither besaß ich Freunde in Serbien und Kroatien und arbeitete auch während des Krieges mit ihnen zusammen. Bei französischen Freunden lernte ich Herrn Steed Wickham Steed, später Chefredakteur der »Times«, Verfasser des Memoirenbuches »Through thirty years«. (Anm. d. Übers.) den Korrespondenten der »Times« für den Balkan und Mitteleuropa in Wien, näher kennen; das öffnete uns während des Krieges die Spalten der »Times«.

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Als ich im Jahre 1910 meinen sechzigsten Geburtstag beging, gab es ein Bankett und Reden; ich soll auf die Reden geantwortet haben, daß alles, was ich bis dahin getan hätte, nur Vorbereitung gewesen sei, die wahre Arbeit liege erst vor mir. Das wurde mehrfach als Prophezeiung dessen angesehen, was ich im Kriege tun sollte. Was denn, Prophezeiungen! Ich wußte nicht, was ich auf die Reden erwidern sollte, und daß ich mit meiner Arbeit nicht fertig war, das fühlte ich.

Vor dem Kriege

Die letzten Jahre vor dem Kriege war ich als Abgeordneter tätig. Außerdem schrieb ich und gab mein Buch »Rußland und Europa« heraus. Der deutsche Verleger Diederichs hatte meinen Nekrolog für Tolstoj gelesen, besuchte mich, und ich verabredete mit ihm, meine Studien über Rußland zu sammeln und bei ihm herauszugeben. Zwei Teile sind schon erschienen; den dritten, über Dostojewski, habe ich im Manuskript liegen. Ich möchte noch mancherlei schreiben, aber die Zeit, die Zeit fehlt mir dazu.

Im Jahre 1911 wurde ich zum Abgeordneten gewählt, Professor Ďrtina wurde nicht mehr gewählt. Wir hatten einen gemeinsamen Klub mit den Staatsrechtlern Hajn und Kalina und den mährischen Fortschrittlern Stránský sen. und Votruba.

Merkwürdig, in meinem Leben wurde ich so oft in verschiedene Fragen und Konflikte verwickelt, häufig auch gegen meinen Willen; ich meinte manchmal, durch so verschiedene Interessen meine Zeit zu verlieren. Erst während des Krieges erkannte ich, daß alles, fast alles, was ich je getan habe und was mir begegnet ist, zu etwas gut war.

Gut war und kam mir während des Krieges zustatten, daß ich halb als Slovak geboren war, daß ich unter Slovaken gelebt und mit ihnen gearbeitet hatte; ich konnte während des Krieges für sie und mit ihnen sprechen wie einer von ihnen. Gut war, daß ich in Wien studiert hatte und dort bekannt war. Als Abgeordneter beobachtete und verfolgte ich bewußt den Wiener Hof, die Militärs, den Adel und die hohe Bürokratie. Alle diese Kenntnisse kamen mir zustatten, als ich während des Krieges auf den moralischen Zusammenbruch und den unabwendbaren Untergang Österreichs hinwies.

Meine Konflikte und Streitfälle, ob sie die Handschriften, das Staatsrecht oder den Sinn unserer Geschichte betrafen, brachten mich nicht nur in die Politik, sondern auch zum Studium unserer nationalen Fragen. Ich wäre nicht Politiker geworden, wenn ich nicht gezwungen worden wäre, die historischen Probleme unserer Nation so stark zu erleben. In den verschiedenen Konflikten lernte ich alle unsere Leute kennen, in meinen Kämpfen lernte ich Diplomat sein – es gibt ja auch eine literarische und journalistische Diplomatie. Das alles habe ich während des Krieges gebraucht und verwendet.

Seit meiner Kindheit bereitete mir das Slaventum Kopfzerbrechen: die polnische Frage, dann die russischen Probleme. Durch all das, was ich über Rußland gelesen und zusammengedacht hatte, gewann ich meine Beziehungen zu den Russen und eine gewisse Achtung bei ihnen. Ich erkannte, was wir von Rußland erwarten konnten und was nicht, ich kannte das Milieu, in dem sich dann unsere revolutionäre Armee formierte. Hätte ich Rußland nicht so gut gekannt, vielleicht hätte ich im Chaos der russischen Revolution nicht die richtige Orientierung gefunden. Ich hatte freundschaftliche Beziehungen zu den Polen. Als Abgeordneter bot sich mir Gelegenheit, mich der Südslaven in Bosnien, im Agramer Prozeß und in der Affäre Friedjung anzunehmen. Das trug uns während des Krieges die Zusammenarbeit mit den Südslaven ein. In der Friedjung-Affäre mußte ich ein Stück Detektivarbeit verrichten. Während des Krieges kam mir diese Erfahrung zugute. Der Kampf mit dem Minister Ährenthal belehrte mich über die offizielle Diplomatie und brachte mich mit Steed und Watson Der Londoner Universitätsprofessor R. W. Seton-Watson, als politischer Schriftsteller unter dem Pseudonym Scotus Viator bekannt, Herausgeber der »Slavonic Review«. (Anm. d. Übers.) zusammen. Dieser Kampf machte mich auch in England, Frankreich und anderswo bekannt.

Meine Frau war Amerikanerin. Das öffnete mir die angelsächsische Welt. Schon die Kenntnis der Sprache und der Kultur ermöglichte es mir, während des Krieges in England und Amerika zu arbeiten. Überhaupt waren mir die Sprachkenntnisse sehr nützlich, ich konnte in Rußland, Frankreich, England und Amerika Reden und Vorträge halten. Auch mit dem Italienischen schlug ich mich so ziemlich durch. Meine amerikanischen Vorträge hatten mich mit Menschen bekannt gemacht, die mir während des Krieges große Dienste erwiesen.

Solcher Erfahrungen machte ich mehr. Ich glaube an Teleologie, ich glaube daran, daß jeder von uns von der Vorsehung geleitet wird – wie, das vermag ich allerdings nicht zu sagen.

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Ja, ich bin Realist, wie man mich nennt, aber ich liebe die Romantik. Ich sehe keinen Widerspruch darin. Persönlich stand mir die romantische Poesie am nächsten: Mácha, Musset, Byron.

Ich muß mich immer zurückhalten; während ich nach Realismus, nach wissenschaftlicher Methode rief, rang ich mit meiner eigenen Romantik und legte mir selbst ideelle Zucht auf. In der Praxis trachte ich Realist zu sein, strebe stets und bewußt danach. Ebenso zwang ich durch Angelsachsentum den slavischen Anarchismus in mir nieder, und ähnlich in der Philosophie: da bändigten Locke, Hume und die Empiriker den Plato in mir. Anscheinend verstehen die Menschen nicht, daß die Kritik, die scharfe Kritik, oft Selbstkritik, ja schmerzliche Beichte ist. Und ebenso liegt das impulsive Slovakentum mit dem nüchternen Tschechentum im Konflikt in mir. Der Mensch ist kein einfaches Wesen. Ich hatte den Nachteil, daß nicht nur meine Gegner, sondern auch meine Anhänger aus mir einen einseitigen Typus machen wollten.

So ist zum Beispiel mein Rationalismus verschrien. Mein Gott, wo ich lehren und beweisen will, muß ich die Vernunft, muß Vernunftsgründe anwenden. Aber immer und in allem, in der Wissenschaft und in der Politik, war die Vis motrix für mich das Ethische – und die Ethik gründe ich auf Gefühl, Liebe, Sympathie, Menschlichkeit. Nur Menschen mit unzulänglicher philosophischer Bildung behaupten, ich sei ein einseitiger Rationalist. Die Verhältnisse nötigten mich oft, nach rechts und links kritisch zu sein; aber meine Kritik entsprang nicht aus Rationalismus, gewiß nicht nur aus Rationalismus. Logik und Gefühl schließen sich nicht aus.

Die Politik hat ein Element von Poesie in sich. Sie enthält soviel Poesie, wie sie Schöpferisches enthält. Ich glaube, daß wir unser und unserer Nächsten Leben in hohem Maße gestalten und aufbauen können, daß man das Leben schaffen kann und soll. Das Leben selbst ist ein Drama, wie zum Beispiel das Drama Shakespeares selbst Leben ist. Und was ist Politik, wahre Politik, anderes als bewußte Gestaltung der Menschen, als Formung und Komposition des wirklichen Lebens?

Auch in der Politik geht es um das Gleichgewicht zwischen Verstand und Gefühl. Selbst wenn es sich um noch so aufregende politische Situationen handelt, muß man beobachten und kombinieren, wie und was und womit zu rechnen ist, das muß so genau sein wie Mathematik; das Gefühl darf in der Beobachtung und Abschätzung nicht irren. Aber das Ziel, das Ideal wird nicht vom Verstand aufgestellt, sondern vom Gefühl. Die Mittel hat der Verstand zu bestimmen, aber je nach dem Ziel kann man sein Verhalten ändern, etwas Neues, etwas Eigenes hineinlegen. Das ist schöpferisch, das ist die Lebenspoesie.

Am romantischsten waren in meinem Leben natürlich die Kriegsjahre, obgleich ich einen Weg ging, so gerade wie nach dem Lineal, nach einer Berechnung gezogen. Ich meine nicht die konspirative und kriegerische Romantik. Wenn ich mir vorstelle, wie unvorbereitet wir hineinkamen und doch eigentlich das jahrhundertealte Streben eines Dobrovský, Kollár, Palacký, Havlíček verwirklichten, wie vereinsamt wir waren, wir im Auslande und die in der Heimat, und dennoch mit Sicherheit das Mandat der ganzen Nation erfüllten, wie wir mit leeren Händen anfingen und am Ende die Freiheit, die Republik, die Slovakei und Karpathorußland heimbrachten – das kommt mir immer wie ein Traum vor. Da haben wir ein Beispiel von Vorsehung.

Es ist eben so: die Methode muß absolut sachlich, vernünftig, realistisch sein; aber das Ziel, das Ganze, die Konzeption, das ist ein ewiges Gedicht. Goethe hat ein schönes Wort dafür: Exakte Phantasie.

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Der Roman des Lebens. – Lange ist's her, daß ich einen tschechischen Roman schreiben und den Roman meines Lebens hineinweben wollte. Ich begann damit schon am Gymnasium und dann immer wieder, ernstlich erst nach meinen Erfahrungen in Prag. Es sollte ein Stück Autobiographie sein, Dichtung und Wahrheit – aber ich hätte es nicht richtig gekonnt, so ließ ich es sein und verbrannte, was ich geschrieben hatte. Ich erkannte, daß ich nicht genügend künstlerische Kraft dazu hatte, und ein professorales Gerede wollte ich nicht von mir geben. Mein Leben war erfüllt, es enthielt sehr viel; jetzt vergesse ich schon Einzelheiten und die genaue chronologische Folge. Ich wende auch beim Erinnern meine Methode an. Was schon erledigt ist, werfe ich aus dem Kopf hinaus, um ihn frei und rein zu bekommen, wie man auf dem Schreibtisch Ordnung macht. Und dann, um aufrichtig zu sein, ich kann nicht alles sagen, nicht nur der Leute wegen. Ich zweifle, ob der Mensch über genügend geeignete Worte verfügt, die das Innerste ausdrücken. Wer zu lesen versteht, wird mich in meinen Werken zwischen den Zeilen finden.


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