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T. G. M. spricht und – schweigt

Der Verfasser der »Gespräche mit T. G. Masaryk« ist sich bewußt, daß er ein unvollständiges und verzeichnetes Bild gäbe, wenn er dieses Kapitel nicht aufschreiben würde. Es gibt Leute, die den »Gesprächen« eine fast photographische Treue beilegen. Das ist also ein Irrtum. Eine Photographie – oder eher ein Tonfilm dieser »Gespräche« würde etwa so aussehen: eine Laube aus Birkenstämmen, verwachsen von Heckenrosen und Efeudickicht; T. G. Masaryk sitzt auf einer groben Bank, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, zieht an seinem Schnurrbart und schweigt; er denkt offenbar an seine Sachen. Auch der Verfasser der »Gespräche« schweigt, raucht und denkt an seine Sachen, etwa an den Marienkäfer, der ihm über die Hand wandert. Endlich hebt der Präsident den Kopf, weist mit der Hand rings herum und sagt nur: »Das ...« Das bedeutet: was für ein schöner Tag, sehen Sie die Berge am Horizont, den schon feurig verfärbten Ahorn. – Der Verfasser der »Gespräche« nickt mit dem Kopf, was zu bedeuten hat: Ja, ein schöner Tag, es geht nichts über solch einen Herbstmorgen; auch die Buchen sind schon gelb geworden – sieh, ein Eichhörnchen; still, damit es nicht davon läuft.

Nun, es war nicht schwer, aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, was an vielen, vielen solchen Vormittagen gesprochen wurde; aber es fehlt die Stille darin, das Schweigen, aus dem die Worte sich gebaren und das langsame Gespräch sich zusammenspann. Das Schweigen war immer da, legte sich zwischen die Worte, schloß die Sätze; kein lastendes Schweigen, bei dem nichts zu sagen ist, sondern ein nachdenkliches Schweigen, das Schweigen eines Menschen, der sinnt, der eher an die Dinge denkt als von ihnen redet. Und erst dann, wenn er zu Ende gedacht hat, beginnt er zu reden; zögernd und langsam wie einer, der aus Gedanken in Worte übersetzt; das geht nicht leicht, weil die Worte manchmal zu eng und manchmal zu weit sind, um den Gedanken auszudrücken. Deswegen redet er ungern, und wenn er es schon tut, dann geizig, damit es so wenig Worte wie möglich werden; langsam, damit in der vergrübelten Pause ein genaueres Wort gesucht werden kann; stockend, weil das Denken nicht den mechanischen Zusammenhang des gesprochenen Satzes hat.

In Wirklichkeit waren die Gespräche also weitaus nicht so zusammenhängend, wie sie sich darbieten: kein Thema wurde auf einmal und so der Reihe nach ausgeschöpft, wie es niedergeschrieben ist. Masaryks Denken folgt eben seiner eigenen Richtung; es hat sozusagen sein gegebenes Gefälle, nach dem es früher oder später, aber fast unabwendbar, hinströmt. Jedes wirkliche Gespräch wandte sich am Ende entweder der politischen Praxis oder Gott zu: den tätigen Sorgen des Tages und der Zukunft oder der Ewigkeit. Gewöhnlich »entfloh« Masaryk dem Verfasser der »Gespräche« von anderen Fragen zu diesen beiden Hauptfragen, die er anscheinend unaufhörlich durchlebt; sie sind gegenwärtig, auch wenn er von etwas anderem spricht, und bei nächster Gelegenheit kehrt er zu ihnen zurück, ob er redet – oder still grübelt. Aber dieser doppelte terminus ad quem ist nicht antithetisch, beides ist bei Masaryk ganz nah beieinander; es ist gleichsam eine einzige Wirklichkeit, aber einmal sub specie aeterni, ein andermal sub specie des tätigen Tages gesehen. Man weiß, daß die Frömmigkeit für Masaryk vor allem Humanität, Liebe zum Menschen, Dienst am Nächsten ist; aber auch alle Politik ist ihm die Verwirklichung von Humanität und Menschenliebe; von einem zum andern hat er nur einen kleinen Schritt. Niemals vermischt er beides, ist völlig gläubig in seiner Frömmigkeit und völlig politisch in seiner Politik; aber niemals gerät ihm eines in Gegensatz zum andern, niemals gibt er im einen noch im andern nach. Man nennt das Kompromißlosigkeit; aber damit ein Mensch so kompromißlos sei, muß er wahrhaftig wie aus einem Guß sein.

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Es ist überhaupt charakteristisch für sein Denken und seine Ausdrucksweise, daß er keine radikalen Antithesen anerkennt. Er erklärt etwa Demokratie und Diktatur; man würde erwarten, daß er Begriff gegen Begriff zuspitzt und einen prinzipiellen Gegensatz zwischen sie legt, aber nein; er versinkt ein wenig in Gedanken und fügt hinzu: »Aber nicht vergessen, daß auch die Demokratie nicht ohne Diktat auskommt, daß auch die Diktatur sich auf Demokratie beruft.« Und ähnlich ist es in allem. All die künstlich getrennten, bis zum Gegensatz verschärften Begriffe nähern sich gegenseitig, verschränken und ergänzen sich zu einer ganzen, vollständigen, konkreten Wirklichkeit, aus der sie abstrahiert worden sind. Der Nachdruck liegt eben auf der Ganzheit und Vollständigkeit: das ist es, was Masaryk seinen Konkretismus und seinen Pluralismus nennt; man müßte aber eine Bezeichnung verwenden, die nicht allein diese Sachlichkeit und Vielheit ausdrückt, sondern auch die Ganzheit, die Synthese und Ausgeglichenheit, die Ruhe und die Zusammenfassung, die Ungespaltenheit, mit einem Wort die Harmonie, das Klassische dieser Anschauung. Er braucht keine Antithesen zu versöhnen und keine Gegensätze zu überbrücken, weil er sie begrifflich nicht hervorbringt; er braucht die Ganzheit nicht zu suchen, weil er von ihr ausgeht.

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Aber hier handelt es sich nicht um eine Charakteristik oder gar eine Darlegung von Masaryks Philosophie, sondern um etwas anderes: man soll etwas wie den geistigen Raum vor Augen haben, in dem sich die Sätze und die Kapitel der »Gespräche« abwickelten. Gewiß, es war damals ein Septembermorgen, zehn Uhr Vormittag, in dem und dem Jahr; einen Augenblick vorher wurde die Zeitungslektüre beendigt, und in einer Weile beginnt die amtliche Arbeit mit allem, was zum »Geschäft« des Präsidenten gehört. Aber inzwischen wölbt sich über der Laube aus Birkenstämmen eine andere, tausendjährige Zeit; in der Laube sprechen Plato und Augustin, die Zeitalter und Jahrhunderte ordnen sich nebeneinander; langsam, nachdenklich wird besprochen, was soeben geschehen ist – das römische Imperium zerfiel, Weltherrschaften erstanden und gingen zugrunde, der menschliche Geist befreite sich; Hus rang nach Wahrheit, Georg von Poděbrad nach Frieden und Komenský nach Bildung; alles, was je war und was mit der Welt und mit uns geschah, wird in Rechnung gezogen, so wie man sich aus den Morgenblättern das Bild des Tages macht. Und da verweilt der Präsident noch bei dem und jenem, und denkt schon an seine Arbeit.

Er denkt an seine Arbeit: so und so sind die Dinge, man müßte konkret das oder jenes tun. Aber über dieser täglichen politischen Situation, die er sachlich und sorgsam erlebt, wölbt sich wiederum etwas wie ein ungeheurer Raum: die zusammenfassende Konzeption von Menschheit und Gottheit, Zusammenarbeit und Vorsehung. In jedem seiner Sätze klingt dieser ganze ausgedehnte, feste und schön gewölbte Raum mit; jedes Wort ist ein Glied dieses Tragsystems der Erkenntnis, des Glaubens und der Liebe; es ist aus irdischem Stoff gemacht, gehört aber zum Bau eines Domes. Jeder Satz kann als Bauquader belastet werden; man erfaßt ihn aber voll erst dann, wenn man die Pfeiler und Säulen, das Gebälk und den First des ganzen Baues vor Augen hat. Erst dann schätzt man die schöne und weise Ordnung, die im einfachsten Stückchen des Baustoffes beschlossen ist.

Das also ist mit dem gemeint, was wir das Schweigen mit T. G. Masaryk genannt haben. Horchen wir nicht auf seine Worte, sondern auf das stille und tiefe Mitklingen. Erst darin ist der wahre und volle Inhalt, seine ganze und volle Wahrheit. Mag auch die Rede sein von etwas so Schwerem und Irdischem, wie es die Politik ist –, es klingt auch da mit, ist stumm und wortlos dabei. Hört man nicht das Brausen der Geschichte und das Gebot Gottes? Klingen die platonische Antike und Jesu Liebespredigt, die große Kirchenordnung, das Treiben des weltlichen Lebens, das Aufatmen der Befreiung und die stille Geduld des Verstandes nicht mit? Was alles muß mitklingen, damit die Harmonie geboren wird! Masaryk lesen, ihn harmonisch lesen, das ist auch Gespräch und Schweigen. Ein Gespräch über alles Zeitliche, an dem uns gelegen ist. Und ein stilles Nachdenken über das, was ewig ist. Wer daran nicht denkt, wird sich niemals ganz mit ihm verstehen.

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Der erste Teil der »Gespräche« wurde zum erstenmal als Buch im Jahre 1928, der zweite 1931 und der dritte 1935 veröffentlicht. Der erste und der zweite Teil wuchsen aus Gesprächen gleichzeitig seit dem Jahre 1926, der dritte Teil tauchte zum erstenmal im Umriß der Gespräche 1927 auf. Somit waren es im ganzen ungefähr neun Jahre des Ausfragens, des Nachdenkens, des Erinnerns, des Erzählens und des Schweigens.


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