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Christentum

Christentum und Kirche

»Sie sagen: Jesutum. Sie deuten dadurch an, daß die Lehre Jesu sich in den christlichen Kirchen nicht voll verwirklicht hat?«

Ja. Das Christentum enthält ja von Anbeginn nicht nur die Lehre Jesu; es nahm auch das Alte Testament und vieles vom orientalischen, griechisch-römischen und hellenistischen, religiösen Synkretismus auf. Es entstand unter den Juden, wuchs aber und verbreitete sich unter den Griechen und Römern; es gewann an Boden in der gebildeten Gesellschaft des römischen Imperiums, unter gelehrten Theologen wie Paulus, unter Philosophen wie Augustin und anderen, aber gleichzeitig unter ungebildeten Völkern und Volksschichten, unter Barbaren, Enterbten und Sklaven. Das Christentum ist je nach den Individuen, den Klassen, den Völkern und ihrer Bildung verschieden; jeder versteht es auf seine Weise. Die Religion entspricht überall und immer dem gesamten Kulturstand der Völker, Rassen und Einzelmenschen.

Man soll vom Christentum überhaupt vorsichtig sprechen; es gab von allem Anfang an und schon zur Lebenszeit Jesu Verschiedenheiten in der Auffassung und Auslegung der Lehre Jesu, wie wir aus dem Neuen Testament sehen, und sie vermehrten sich mit der Ausbreitung des Christentums. Man vergesse nicht, daß wir von Jesus eben kein einziges authentisches Wort besitzen. Nach ihm blieb nur die geschriebene und mündliche Überlieferung; erhalten ist auch noch die außerkanonische altchristliche Literatur, Bruchstücke der Evangelien, Apokryphen und ähnliches. Entsprechend den verschiedenen Auslegungen entstanden auch verschiedene Kirchenorganisationen, verschiedene Lehren, Kulte und so weiter. Die Kirchen standen, schon seit Anbeginn, eine gegen die andere; die Geschichte der christlichen Kirchen ist in hohem Maße eine Geschichte des Ketzertums und der Sekten, wie die größeren Kirchen ihre abtrünnigen Schwestern nannten. Aber das war schon bei den Juden so, bei den Griechen und Römern, überall. Vergleichen Sie, wie verschiedenartig Kant ausgelegt wird, wie viele Kantschulen und Kantrichtungen es gibt! Die Religion spaltet sich darum so leicht, weil sie die Lehre vom Transzendenten darbietet, das der Erfahrung unzugänglich ist, die Lehre von der Sittlichkeit, die je nach der gesellschaftlichen Entwicklung verschieden ist, und die Lehre von der subjektiven religiösen Einstellung.

»Außerdem wird jede Idee getrübt und entstellt, wenn sie Besitz der Masse wird.«

Ja, aber die Massen werden und wurden bisher, auch in religiöser Beziehung, von geistlichen Führern geleitet, in der Regel von gelehrten Theologen. Der erste davon war Paulus, ihm folgten die anderen Autoren des Neuen Testaments; dann kamen die griechischen Kirchenlehrer, die mit Hilfe der griechischen und römischen Philosophie, Wissenschaft und der ganzen Kultur das erste theologische christliche System auf Grund des Neuen und des Alten Testaments ausarbeiteten. Es waren namentlich die alexandrinischen Lehrer vom Ende des zweiten und Anfang des dritten Jahrhunderts. Die genaue Formulierung der Lehre erzwang der literarische Streit mit den Heiden und Ketzern. Die Theologie war gleich in ihrem Anfang Apologie und Polemik. Das ist eine bedeutungsvolle Tatsache zum Verständnis des Christentums und der Kirche; es gab niemals nur eine einzige christliche Kirche, und der Jesus des Neuen Testaments rief und ruft noch immer religiöse Gärung hervor.

Zu Lebzeiten Jesu und längere Zeit darauf vereinigten sich die Gläubigen und Anhänger nur in freien Verbänden – es war die apostolische Zeit. Erst später organisierte sich die Kirche regelrecht. Durch Konstantin wurde sie staatlich; es entwickelt sich die römische und die byzantinische Theokratie; sie wird von der mittelalterlichen fortgesetzt. Die Kirche ist nicht mehr nur eine religiöse, sondern auch eine politische und weltliche Organisation. Der Frankenkönig Karl der Große erneuert mit Hilfe des Papstes das politische römische Imperium; aber schon im 11. Jahrhundert entstehen Gegensätze und Kämpfe zwischen Kaisern und Päpsten, zwischen weltlicher und weltlich-geistlicher Macht. Die päpstliche Macht sinkt seit dem 14. Jahrhundert merklich ab; in der ganzen christlichen Abendwelt wird durch den moralischen Verfall der Kirche ein Streben nach Besserung wachgerufen. Die Kirche beruft selbst Reformkonzile ein, aber ergebnislos; die revolutionäre Reformation in Böhmen entsteht, dann in Deutschland und anderswo.

Es ist eine ungemein wichtige historische Tatsache, daß und wie die Kirche im Mittelalter sich der gesamten geistigen Führung direkt und der politischen indirekt und direkt annahm. Das Mittelalter war die Zeit der Verkirchlichung, die Neuzeit wird zur Zeit der Entkirchlichung.

Auf allen Gebieten, vor allem in der Philosophie und den Wissenschaften, entsteht eine von der Kirche unabhängige neue Wissenschaft und ihre Schulen. Alle Kulturfächer befreien sich von der Führung und Aufsicht der Kirche, auch die Religion wird individueller und von der Kirche unabhängig. Der Staat wird entkirchlicht und übernimmt die kulturelle Führung, allerdings mehr verwaltungsmäßig als sachlich.

Das ist im Extrakt die Entwicklung des Christentums als Kirche. Man ersieht daraus, einen wie reichen und mannigfaltigen Inhalt das hat, was wir Christentum nennen.

Die christlichen Kirchen waren und sind, wie ich schon gesagt habe, von ihrer Umgebung abhängig; sie waren es von ihrer antiken Umgebung – viel mehr und tiefer, als man allgemein weiß; das Christentum ist in hohem Maße die Fortsetzung der Antike. Beachten Sie, daß das Neue Testament griechisch geschrieben ist, und das Alte Testament mußte schon im dritten Jahrhundert vor Christo für die hellenisierten Juden ins Griechische übersetzt werden. Es ist schwer zu sagen, ob Jesus selbst mit den hellenistischen Ideen vertraut war. Palästina – besonders Jerusalem – und ganz Kleinasien waren zu jener Zeit schon stark hellenisiert. Bei Johannes lesen wir, daß Griechen zu den Aposteln kamen und Jesus zu sehen verlangten; sie wollten ihn schwerlich nur sehen, gewiß wollten sie mit ihm sprechen, vielleicht demnach griechisch. Paulus konnte gewiß griechisch und kannte die griechische Philosophie seiner Zeit, namentlich den Stoizismus; in Johannes ist ein Stück Neuplatonismus im Logos enthalten usw. Die ersten christlichen Theologen waren griechische und römische Philosophen, die das Christentum annahmen; die Philosophie – vor allem Plato, Aristoteles und die Stoiker – hatte Einfluß auf die Entwicklung der christlichen Theologie und Kirchenlehre. Die Kirche übernahm schließlich den ganzen Aristoteles; die mittelalterliche Kirche bewahrte uns überhaupt die antike Literatur mitsamt der lateinischen und griechischen Sprache. Der von der Kirche beherrschte Staat nahm das römische Recht und die politische Idee des römischen Imperiums auf – siehe Karl den Großen.

Die junge mittelalterliche Kirche übernahm nicht nur die antike Philosophie, sondern auch manches von der antiken Religion. Viele kultische Einrichtungen stammen aus der religiösen Praxis der Griechen, Römer und Orientalen, hauptsächlich der Juden; allerdings hat das Christentum den Sinn der übernommenen Praxis und der Anschauungen verändert.

»Wie also: hat das Christentum die Antike revolutioniert oder sich aus ihr entwickelt?«

Beides. Jede Revolution, wenn sie nicht bloße Verneinung und Vernichtung dessen ist, was besteht, ist Entwicklung und Reform. Das Christentum entwuchs dem Judentum und nahm antike Elemente auf; in vielem wuchs es über sie hinaus, in vielem bewahrte es sie. Jesus hat selbst gesagt, daß er nicht gekommen sei, das Alte Testament zu zerstören, sondern zu erfüllen; de facto aber hat er es geradezu zerstört.

Die christliche Kirche baute ihre Theologie und scholastische Philosophie mit Hilfe der griechisch-römischen Philosophie auf; sie ist von Anfang an apologetisch und polemisch – dadurch erweist sie ihre Abhängigkeit von der Antike, gegen die sie lange gekämpft hat; denn jeder Kampf ist gegenseitige Berührung und Beeinflussung. Durch ihre Theologie und Scholastik bereitete sie die Reformation, die Reform und religiöse und kirchliche Revolution vor; durch die Aufnahme der antiken Kultur bereitete sie die Renaissance und den Humanismus, das weitere kulturelle Erbe der Antike, vor.

»Danach wäre die Entwicklung des Christentums und der Kirche in nuce schon in den Anfängen des Christianismus enthalten?«

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Porträt 1932

Gewiß. Nehmen Sie die einzelnen Kirchen, wie sie historisch und entwicklungsmäßig bedingt sind. Das ist vor allem die katholische Kirche in ihren zwei Formen. Die Idee des Katholizismus wurde schon im fünften Jahrhundert von Vinzenz von Lerinum formuliert, als Glaube an das quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est. Die römische Kirche stellt einen geistigen Zentralismus dar, die Vervollkommnung und Fortsetzung der politischen und kulturellen Zentralisation des römischen Imperiums; die Ostkirche ist auf die föderative Gleichberechtigung der autokephalen Kirchen und ihrer Hierarchen begründet. Im Osten, am Rande des Orients, hatte der römische Zentralismus keine Kraft mehr. Der Unterschied zwischen der römischen und der griechisch-orientalischen antiken Kultur ist im Dualismus Rom–Byzanz, Katholizismus–Rechtgläubigkeit zu Ende geführt. Man kann darauf hinweisen, daß die katholische Kirche in ihrer Organisation in hohem Maße den römischen Staat nachgeahmt hat; als gesellschaftliche Organisation entlieh sie natürlich der staatlichen Organisation die Vorbilder. Deswegen ist sie als Organisation der damaligen Gesellschaft nicht minder großartig. Ihre Universalität und Internationalität sind ein historisches Unikum.

Dann die protestantischen Kirchen. Sie entstanden aus aktuellen Beweggründen der Kirchen- und Sittenreform, waren aber auch entwicklungsmäßig durch die allmähliche Befreiung des kritischen Verstandes von der offiziellen Theologie vorbereitet. Hier geschieht mutatis mutandis dasselbe, was einst in Rom geschehen ist, als die Philosophen mit der priesterlichen Mythologie in Konflikt geraten waren. Ewig die gleiche Geschichte!

Der Zentralismus Roms entwickelte sich bis zum geistigen und religiösen Absolutismus des römischen Bischofs. Nicht unlogisch. Wenn die Kirche durch Gott Jesus gegründet und der römische Bischof in der apostolischen Nachfolge sein Vertreter auf Erden und Hüter der göttlichen Offenbarung ist, so kann davon die Unfehlbarkeit des Papstes abgeleitet werden. Die Ostkirche behält die Unfehlbarkeit der ganzen Kirche praktisch den Konzilen vor. Das Konzil aber ist ein Parlament und hat alle Mängel der Parlamente. In ähnlicher Weise beanspruchen auch die protestantischen Kirchen die Unfehlbarkeit, haben aber nicht die geistige Autorität dazu; sie kommen dem religiösen und theologischen Subjektivismus und Individualismus entgegen, diesen zwei geistigen Grundforderungen der Neuzeit. Praktisch schreiben die Protestanten die Unfehlbarkeit dem Testament zu, nur daß dieses individuell ausgelegt wird. Die katholische Kirche wacht deshalb über der dogmatischen Auslegung der Schrift durch ihre Theologen und kontrolliert die Übersetzungen und das Lesen der Schrift bei den Laien.

Die Entstehung und Entwicklung der Reformation, die Entstehung der neuen Kirchen und der Theologie ist ein bewunderungswürdiges Ereignis der Kulturentwicklung der christlichen Welt; bewunderungswürdig, daß die Reformation in der ganzen Kirche entstand und sich ausbreitete. Die ganze Entwicklung des Christentums ist ein großartiges und tiefes Geschehen.

Die religiöse Entwicklung in Böhmen

»Und unsere religiöse Entwicklung?«

Darüber habe ich schon mehr als einmal gesprochen und geschrieben. Zu Beginn unserer Christianisierung schwankten wir zwischen dem Westen und dem Osten; geographisch stehen wir an der Scheide zwischen Ost und West, und das Christentum kam zu uns aus dem Osten, der damals dogmatisch noch nicht von Rom getrennt war. Bald wurden wir religiöse, politische und kulturelle Westler. Die Hinneigung zum Westen ist ein bedeutungsvolles, entscheidendes Ereignis unserer Geschichte. Später haben wir als erste in Europa – abermals unter dem Einfluß des Westens – die kirchliche Wiedergeburt und Revolution durchgeführt. Einzelne sogenannte Ketzer und allerlei Sekten gab es verschiedentlich auch vor unserer Reformation, aber bei uns wurde die Reformation zum erstenmal Sache eines ganzen Volkes. Durch die böhmische Reformation wurde den Reformationen in andern Ländern der Boden bereitet; Luther sagte mit Recht, daß wir alle Hussiten seien. Hus, Chelčický, Komenský sind neben dem westlichen Katholizismus unsere religiösen Führer. Hus erfaßte in der Religion und in der Kirche den Primat der Sittlichkeit; Chelčický begriff den Zusammenhang zwischen Kirche und Staat und forderte die Gottesherrschaft; Komenský erreichte den Höhepunkt des reformatorischen Strebens in der Erkenntnis, daß außer der Frömmigkeit die Bildung und die Menschlichkeit der Inhalt des geistigen Lebens sei und machte es zur Aufgabe aller Erziehung, die officina humanitatis, die Werkstatt der Menschlichkeit zu sein.

Durch die politische Führung der Habsburger und ihre im Wesen gewaltsame Gegenreformation wurde der Katholizismus wieder zur Kirche der Mehrheit der Nation, wie er es vor der Reformationsrevolution gewesen war. Aber die gegenreformatorische Gewalt hat der Religion nicht genützt; im 18. Jahrhundert, im Zeitalter des nationalen Erwachens, kam die Aufklärung zur Herrschaft, nach ihr und aus ihr der Liberalismus. Unsere Auflehnung gegen den Thron war auch von der Abneigung gegen die Kirche begleitet, die der Dynastie diente.

»Was ist die Schlußfolgerung daraus für unsere Gegenwart?«

Welche Schlußfolgerung? Vor allem müssen wir unsere Vergangenheit kennen – und nicht in religiöse Gleichgültigkeit verfallen. Der wesentliche Inhalt der Geschichte unseres Volkes ist das religiöse Bewußtwerden. Der Vater unserer Nation, Palacký, war sich dieser besonderen nationalen Sendung bewußt. Ich habe über unser religiöses Problem viel nachgedacht. Ich bin der Begabung und Anlage nach ein politischer, kein religiöser oder gar theologischer Mensch, aber die Religion ist mir der Hauptbestandteil des geistigen Lebens und der Kultur überhaupt. In der »Weltrevolution« habe ich gesagt: Jesus, nicht Cäsar; ich habe es als Politiker gesagt.

Ich bin und war deshalb ein Gegner des Liberalismus in seiner Form nach dem Jahre 1848. Er ist mir zu einseitig rationalistisch und in der religiösen Frage zu indifferent, religiös steril.

»Können sich Kirchen noch entwickeln? Ist eine religiöse Erneuerung möglich?«

Alles entwickelt sich; es gibt auch eine religiöse Entwicklung und wird es geben. Ich habe mich bestrebt, die christlichen Hauptkirchen zu begreifen; ich durchlebte persönlich den Katholizismus tief, lernte später den Protestantismus kennen und drang nach Möglichkeit auch in den Orthodoxismus, besonders den russischen, ein; ich kenne den geistigen Zustand aller dieser Hauptkirchen und weiß nicht, warum er endgültig sein sollte. Wir sehen jetzt überall, daß die Menschheit, die Nationen auf allen Gebieten ihrer Tätigkeit zu einer Einheit hinstreben. Es soll uns nicht beirren, daß es so schwer geht. Große Dinge werden nicht »eins-zwei-drei« geboren. Auch in den christlichen Kirchen ist Sehnsucht nach einem Dach und einem Hirten. So werden Versuche unternommen, die Kirchen zu vereinigen. Sie wiederholen sich seit Jahrhunderten unter den katholischen, auch unter den protestantischen Kirchen. Der Katholizismus lehnt die Union mit den Protestanten ab, aber hervorragende Theologen auf beiden Seiten lassen nie dagewesene Anzeichen von Versöhnlichkeit erkennen. Auch langsame Geschichte ist Geschichte. Allerdings die Kirchen zu vereinigen, ohne daß die Frömmigkeit und Sittlichkeit belebt würde, wäre keine Lösung des heutigen innerlichen religiösen Problems. Die Religion ist ein Ganzes, sie läßt sich nicht durch Flicken verbessern.

Wenn ich an Jesu Lehre glaube, so glaube ich, so muß ich an die Zukunft der Religion glauben. Jedenfalls müssen wir – und ich berufe mich da eben auf Palacký – in unseren Beziehungen Toleranz fordern. Nicht Toleranz aus religiösem Indifferentismus, sondern positive Toleranz: jeder halte am Seinen fest, habe seine Überzeugung, achte aber die echte Überzeugung der anderen. Gönnt jedem die Wahrheit – so wurde uns gesagt, und das gilt für immer.

Kirche und Staat

»Sie haben gesagt, daß Sie eher ein politischer als ein religiöser Mensch sind. Gewiß sehen Sie also auch die Kirche sub specie der Politik.«

Selbstverständlich. Jede Organisation, namentlich eine so riesige wie die Kirche, ist ipso facto eine politische Tatsache. Die Kirche entwickelte sich im heidnischen Staat, gegen ihn und teilweise mit ihm; als organisierte Gesellschaft mußte sie notwendigerweise ihr Verhältnis zum Staat, der damals die einzige allumfassende gesellschaftliche Organisation war, regeln. Schon Jesus gab dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Paulus ging in dieser Richtung noch weiter. Die Kirche versuchte nicht, den heidnischen Staat zu beseitigen oder politisch umzugestalten, sondern ihn zum Christentum zu bekehren. Als er christianisiert wurde und die Kirche verstaatlichte, bildete sich die christliche Theokratie. Der Staat fand in der Kirche seine sittliche und religiöse Grundlage; die Monarchen – notabene Absolutisten – waren »von Gottes Gnaden«. Im Osten nahm die Theokratie den Charakter des Cäsaropapismus an, im Westen überragte das Papsttum den Kaiser und das Kaisertum, war also Papocäsarismus. Es war natürlich und für seine Zeit richtig, daß die Kirche sich als Trägerin der Bildung den Primat über den Staat aneignete; aber der Primat dauerte nicht lange und es entbrannte der Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat konsolidierte sich allmählich. Erinnern Sie sich, daß die römischen Kaiser, als die Christen sich vermehrten und die Kirche sich zentralisierte, längere Zeit die Christen verfolgten. Gewiß zeigen heute die Historiker, daß diese Verfolgungen nicht so zahlreich waren, wie man früher behauptet hat, aber das ändert nichts an der Sache. Wenn die Heiden die Christen verfolgten, so taten diese es mit den Heiden, wann und wo immer sie zur Macht gelangten. Jesus war, wie ich gesagt habe, der Gährstoff, und sein Gebot der Liebe wurde nicht sofort und überall durchgeführt. Aus der ältesten Christenzeit würden sich viele schöne humane Worte finden lassen; ich erwähne nur aus Tertulian: »Das Panier Gottes und das menschliche Panier, die Fahne Christi und die Fahne des Teufels passen nicht zueinander. Der Christ kann nur ohne Schwert kämpfen, der Herr hat das Schwert beseitigt.«

Die Abhängigkeit der Kirche vom Staat sieht man am besten darin, daß die Teilung des römischen Reiches in ein östliches und ein westliches Kaiserreich die Entstehung und Entwicklung eines römischen und eines griechischen, rechtgläubigen Katholizismus vorbereitete. Die Spaltung des Staates führte die der Kirche herbei. Allerdings gab es da auch kulturelle Unterschiede, aber der Einfluß des Staates auf die Kirche wird offenbar.

Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche Institution; außer daß sie Lehre und Kult ist, ist sie die Hüterin und Führerin der Sittlichkeit und der ganzen Lebenshaltung. Daher der Ursprung der Theokraten verschiedener Form: Religion und Politik, Kirche und Staat lenken die Gesellschaft mit gemeinsamer Hand – gewöhnlich so, daß die Kirche die Könige und Fürsten lenkt. Die Reformation veränderte das Verhältnis der Kirche zum Staat; der Staat gewann größere Macht dadurch, daß er auf katholischer Seite die Kirche gegen die Reformation schützte und auch selbst die Gegenreformation vollzog, auf protestantischer Seite aber Patron und geradezu Herr der neuen Kirchen war, die inzwischen mit dem Ausbau ihrer Theologie und kirchlichen Organisation zu schaffen hatten. Der Protestantismus war demokratischer, der Katholizismus aristokratischer.

Es ist wahr, daß orthodoxe Staatswissenschaft und Jurisprudenz in der Theokratie nicht die Grundlage des Staates und des Rechtes erblicken; die im römischen Recht erzogenen Juristen erklären das Wesen, die Entstehung und die Entwicklung des Rechtes und des Staates als unabhängig von Religion, Ethik und Sittlichkeit. Das Recht ist ihnen neben Ethik und Sittlichkeit eine selbständige und ursprüngliche soziologische Kategorie. Nun, ich kann mir nicht helfen, ich stelle mir Recht und Staat auf sittlichen und dadurch auch religiösen Grundlagen gegründet vor. Man kann zugeben – die Entwicklung geht dahin –, daß die geistliche und die weltliche Macht politisch und administrativ getrennt werden sollen; der Staat ist aus dem Bedürfnis einer gesellschaftlichen Organisation geboren, sein Ursprung ist in hohem Maße militärisch und wirtschaftlich; aber er übt auch die Gerechtigkeit aus, schützt die Geschädigten, straft die Schuldigen. So weit der Staat sich Rechts- und Kulturstaat nennt, ruht er auf Grundlagen der Sittlichkeit. Allerdings erlangen durch die Entwicklung und die zunehmende Kompliziertheit der gesellschaftlichen Verhältnisse seine wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und militärischen Funktionen das Übergewicht. Aber auch in den alten Theokratien war der Knüppel, wenn ich so sagen darf, stärker als das Argument. Die geistige Macht war und ist dauerhafter, die weltliche Macht stärker. Man muß jedoch verstehen, daß die menschliche Gesellschaft von zwei Hauptorganisationen geleitet wird, von Staat und Kirche, und daß beide ihr gegenseitiges Verhältnis natürlich und notwendigerweise beständig regeln: die Throne unterstützen den Altar, der Altar die Throne.

Erst in der Neuzeit kam zu Staat und Religion eine dritte Komponente hinzu – die nationale Idee. Aber das ist schon ein anderes Kapitel.


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