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Der junge Mann

Die Welt des Lesers

Mrs. Browning sagt in »Aurora Leigh«, daß der Dichter zweierlei Nationalität haben könne – aber das weiß ich nicht; man sagt oft, daß die Kenntnis einer Sprache gleichbedeutend sei damit, ein Leben mehr zu leben – und darin habe ich einige Erfahrungen.

Deutsch konnte ich schon als Kind, von der Mutter her; aber die deutsche Sprache war mir doch nie eine zweite Muttersprache. Das erfuhr ich nur zu gut, als ich an die deutsche Realschule in Hustopeč kam. Die Jungen verlachten mein Deutsch, mit den deutschen Schulaufgaben hatte ich Schwierigkeiten; das hörte erst mit dem Gymnasium auf, und auch da nicht ganz. Als ich meinen »Selbstmord« herausgab, las ihn ein deutscher Schriftsteller auf das Sprachliche hin durch; er fand etwa ein Dutzend Slavismen in dem Buch. In der deutschen Umgebung sprach ich fast immer tschechisch, zu Hause, mit Kameraden, in tschechischen Vereinen; deutsch hörte ich nur in der Schule, und Stunden gab ich in deutscher Sprache; aber vor allem las ich deutsch.

Ich kam bald auf Goethe und Lessing. Goethe packte mich anfangs mehr durch seine Lyrik als durch den »Faust«, und Lessing lenkte mich auf die Griechen und Römer hin. Außerdem eröffnete mir die deutsche Sprache die Bildungsliteratur und in Übersetzungen vor allem die Weltliteratur. Shakespeare und die andern großen Dichter lernte ich zuerst durch deutsche Übersetzungen kennen.

Unter dem Einfluß Wiens befaßte ich mich ziemlich viel mit der österreichischen Literatur, mit Grillparzer und anderen; ich versuchte, durch diese Literatur Österreich und Wien zu verstehen. Mit Interesse verfolgte ich die Literatur aus Böhmen (Hartmann, Meißner) und lese unsere deutschen Schriftsteller noch heute mit Aufmerksamkeit. Von den Dichtern, die ungarischer Herkunft waren, fesselte mich Lenau durch seine Poesie und sein Leben; auch Karl Beck stammte aus Ungarn, in Wien kam ich indirekt in Berührung mit ihm.

Französisch begann ich einmal in Čejkovice zu lernen, als ich dort Unterricht gab. In Čejkovice und einigen Nachbarorten gab es Nachkommen französischer Kolonisten aus Lothringen, die dort, wenn ich nicht irre, von Maria Theresia angesiedelt worden waren; Namen wie Doné (donner), Biza (bison) und andere kamen hier vor. Allerlei Geschichten gingen über diese Kolonisten um. Pater Satora schlug mir und dem Unterlehrer Štancl vor, französisch zu lernen; er unterrichtete uns selbst darin, obwohl er die Sprache nicht konnte, aber er kannte sich in der Grammatik aus, und das Lateinische half ihm dabei. Lange dauerte dieser Unterricht nicht. In der dritten Klasse nahm ich Französisch selbst in Angriff; es interessierte mich nämlich, die französische Grammatik mit der lateinischen zu vergleichen. Ich lernte allein; aber ich unterrichtete damals einen Mitschüler, in dessen Haus eine Französin Lehrerin war, und bemühte mich, ihre Aussprache aufzufangen. Man sagt, daß Leute mit musikalischem Gehör sich eine fremde Aussprache leichter aneignen – das wäre für uns Tschechen und Slovaken gut, da wir, wie man behauptet, gute Musiker sind. Ich las viel französisch, alles, was ich auftreiben konnte; von dem wenigen Geld, das ich besaß, kaufte ich französische Lehrbücher, eine Geschichte, eine Geologie usw. Ich las Romane: Balzac, die Sand, Dumas, Hugo, aber mehr interessierte mich Renan; auch Père Hyacinthe spielte damals eine große Rolle für mich.

Erst an der Universität in Wien und später, wo und wann immer ich Zutritt zu Bibliotheken hatte, studierte ich die französische Literatur systematischer; ich kam auch auf Rabelais – in ihm fand ich den eigentlichen französischen Charakter. Sehr fesselte mich Molière; von den Lyrikern liebte ich Musset am meisten; aus Chateaubriand übersetzte ich mir dieses und jenes sogar selbst, so nahe war er meinem Romantismus. Von Denkern beschäftigte mich Descartes und dann Comte; tief ergriff mich Pascal, in Maìstre studierte ich den Katholizismus. Rousseau hielt mich durch seine »Heloise« ebenso gefangen wie durch seinen »Sozialen Vertrag«. Voltaire las ich, aber er machte keinen besonderen Eindruck auf mich, im Gegensatz zu d'Alembert.

Der französische Geist ist bewunderungswürdig. Man sagt, daß den Franzosen seine besondere Logik oder Klarheit kennzeichne – möglich; ich möchte dies Deduktivität und Folgerichtigkeit nennen. Und dabei die starke Initiative: die französische Revolution, der französische Sozialismus gaben der Welt neue Probleme und neue Lösungen, die französische Kunst, die französische Literatur bringen immer neue Anregungen. Man nehme den französischen Formensinn dazu – mit Recht erblickt man in den Franzosen die eigentlichen Vollender der Römer und den lebendigen Quell des Klassizismus.

Da ich soviel und stets französisch las, unterließ ich es, nach Frankreich zu gehen; ich glaube, daß das ein Fehler ist, denn der Mensch versteht die Nationen besser, wenn er sie auch mit den Augen sieht. Aber ich besaß dazu nicht Geld genug, und wenn ich schon irgendwohin reiste, so wählte ich Länder, die ich nicht so gut aus ihren Literaturen kannte. Bis heute verfolge ich die französische Literatur, so gut ich kann.

Die französischen Einflüsse suchte ich von Anfang an ganz bewußt als Gegengewicht für die deutschen. Es verstimmte mich, daß so viele unserer Leute von Frankreich und von den Russen so viel redeten und sich praktisch dabei aufs Deutsche beschränkten. Ich erlebte unsere Franko- und Russophilie konkret, versuchte mich in die Literatur und den Geist dieser Nationen einzuarbeiten. Man nannte mich manchmal einen Germanophilen; de facto wurde ich mehr als irgendein anderer durch die nichtdeutschen Literaturen ausgebildet; wie gesagt, durch die französische, aber auch die russische; wie ich diese las, davon gibt mein Buch über Rußland »Rußland und Europa«, Studien über die geistigen Strömungen in Rußland. Zwei Bände, Jena 1913. Der dritte, im Manuskript vollendete Band wurde während des Weltkrieges mit anderen Handschriften Masaryks von der österreichischen Polizei beschlagnahmt. ein Zeugnis.

Ich mochte unsere marktschreierischen Erzslaven, die nicht einmal die Azbuka Die russischen Schriftzeichen. (Anm. d. Übers.) gelernt hatten, nicht leiden, das ist wahr. Von den Russen hatte ich Puschkin, Gogol, Gontscharow lieb; Tolstoj ist für mich ein großer Künstler, obgleich ich mit ihm über seine Anschauungen stritt. Dostojewskij interessierte mich auch negativ. Ich mußte gegen seinen russischen und slavischen Anarchismus sein, den er trotz seiner Rückkehr zur Rechtgläubigkeit nicht überwunden hat. Dostojewskij wurde durch seine Zwiespältigkeit der Vater des russischen Jesuitismus. Ich liebe Gontscharow und Gorkij; bei Turgenjew stört mich etwas.

Die andern slavischen Sprachen kann ich leidlich lesen, aber ich ziehe Übersetzungen vor; Mickiewicz und Krasinski interessierten mich sehr.

Zur amerikanischen und englischen Literatur gelangte ich später, hauptsächlich unter dem Einfluß meiner Frau. Diese beiden Literaturen kenne ich nach vielen Jahren Lektüre ziemlich gut und lese sie bis heute am meisten; es scheint mir, daß wenigstens die Romane nach Form und Inhalt interessanter sind als in den anderen Literaturen – sie sagen mir mehr, ich erfahre mehr aus ihnen. Diese beiden Literaturen bieten viele zarte und weise Erfahrungen.

Italienisch kann ich lesen und zur Not auch sprechen; aber die meisten italienischen Autoren las ich in französischen, deutschen, englischen Übersetzungen; von Philosophen liebe ich Vico sehr. Die nordischen und die anderen Literaturen kenne ich nur aus Übersetzungen.

Von meiner Kindheit an bis heute bin ich ein unersättlicher Leser. Ich habe eine Studie über mein Verhältnis zur Literatur verfaßt; vielleicht werde ich sie veröffentlichen. Ich wollte mir darin klar werden, wie, in welchem Maße eine fremde Nation auf einen Menschen wirken kann, wie weit wir uns eine fremde Sprache aneignen und in den Geist dieser Nation eindringen können; wieviel von diesem Fremden wir übernehmen, wie die Synthese möglich ist und wie diese Einflüsse unseren Charakter intellektuell und moralisch formen. Längere Zeit hatte ich die Absicht, diese Anschauungen und Studien als »Tagebuch des Lesers« niederzuschreiben – wenn man von seinem achten oder zehnten Lebensjahr an liest, wieviel liest man da zusammen!

Neben den Philosophen und vielleicht noch intensiver als sie las ich von früh an die großen Dichter; man nennt sie ja mit Recht »Dichter-Denker«. Mich interessierte Goethe nicht weniger, ja eher mehr als Kant, und ebenso andere Dichter nach Shakespeare. Dante blieb mir irgendwie unzugänglich. Die Dichter und Künstler denken über das Leben und seine Probleme nicht weniger nach als die Philosophen und dabei konkreter. Wer lesen kann, dem schenken sie unermeßlich viele Erkenntnisse; und wer die Seele und den Geist fremder Nationen kennenlernen will, dem öffnet die Kunst den sichersten Weg dazu.

Ich fühle mich bei einer Nation nicht heimisch, wenn ich nicht in sie hineinsehe, ihre Sprache nicht kenne. Deshalb fuhr ich nur dahin, wo ich mich mit dem Volk in seiner Sprache verständigen konnte. Allerdings reiste ich auch nach Ägypten, Palästina und Griechenland, aber dort ging ich den alten Kulturen nach, nicht der Gegenwart.

Durch meine Bildung bin ich bewußt Europäer; damit will ich sagen, daß mir die europäische und amerikanische Kultur geistig genügt (Amerika ist ethnisch und kulturell – nicht völlig – ein Stück nach Amerika übertragenes Europa).

Die östlichen Philosophien und Literaturen kenne ich sehr wenig und aus zweiter Hand, weil ich die östlichen Sprachen nicht kenne; die Kulturen Indiens, Chinas, Japans sind mir unzugänglich. Ich bin sehr skeptisch gegen die Stimmen, die sie über die europäische Kultur hinaus preisen und erheben; aber ich weiß, daß man mir da einwenden könnte, ich spräche als Blinder von der Farbe.

Als Europäer bin ich Westler – das sage ich für die Slavophilen, die in Rußland und im Slaventum etwas Übereuropäisches erblicken. Die besten Russen waren gleichfalls Westler.

Und unsere Literatur, die tschechische und die slovakische? Ich las sie viel und kenne sie, wie ich sagen kann, ziemlich gründlich; aber die junge Generation ist in und mit ihr aufgewachsen und kann sie daher besser schätzen. In meiner Kindheit und Schulzeit war sie keine so umfangreiche und vollendete Literatur wie jetzt. Ich kam zur tschechischen Literatur, als ich mich schon in die Weltliteratur eingelesen hatte, der Vergleich mit den Weltvorbildern ließ keine Begeisterung zu; darum waren meine Kritiken unserer Dichter zumeist negativ.

Am liebsten ist mir Mácha Mácha und die in diesem Absatz genannten Dichter sind tschechische Dichter des 19. Jahrhunderts, von denen mehrere auch ins Deutsche übersetzt worden sind. (Anm. d. Übers.), obwohl ich in ihm nur einen Anlauf und etwas Unfertiges sehe, allerdings etwas Geniales; ich liebe Němcová, Neruda, Havliček, nicht nur den Publizisten, sondern auch den Dichter. Immer interessierte mich Vrchlický. In seiner Lyrik ist viel Ausgezeichnetes, aber man muß es aus seiner Überproduktion herausfinden. Ich kenne wohl alle unsere und alle slovakischen Romane – ich bemerkte, daß unsere Lyrik stärker ist als die Romane. Vor allem fehlt uns ein tschechischer und slovakischer Roman, nämlich einer, in dem unsere gegenwärtigen nationalen und nun auch staatlichen Probleme behandelt werden und aus dem der heimische wie der fremde Leser den Geist der Nation schöpfen könnte; man vergleiche zum Beispiel die Höhe des skandinavischen Romans mit dem unsrigen. Es gibt Partien bei Čapek-Chod, Holeček, Hermann und anderen, die ich mit Vergnügen lese. Ich schätze auch manche von unsern Jüngeren und Jüngsten, namentlich die Lyriker. Ich möchte sagen, daß ich in der fremden Literatur mehr Ideen, größere Schönheit und vollendetere Formen finde; unsere Dichter belehren mich über unsere nationalen Mängel und Schmerzen.

In unseren Jungen spüre ich ein starkes künstlerisches Streben und die Sehnsucht nach der Welt, nach dem Weltniveau. Vor dem Krieg und kurz danach waren unsere geistigen Kräfte einseitig politisch befangen; auch die allgemeine Armut engte uns ein, der tschechische Schriftsteller konnte sich durch Literatur nicht ernähren. Die Selbständigkeit, die Republik kann unser Geistesleben freier machen; das wird der Literatur zugute kommen und kommt ihr schon zugute, wie man an dem Interesse des Auslandes für sie und unsere Kunst überhaupt sieht.

Ich trachtete mein Leben lang außer in die eigene und slovakische Literatur auch in die griechische, römische, deutsche, französische, englische, amerikanische, italienische, skandinavische und spanische Literatur einzudringen und damit auch in diese Kulturen, in die übrigen weniger. Ich habe mich um eine organische, wertende Synthese bemüht und glaube, daß ich all diese Einflüsse von unserem nationalen Standpunkt aus gesehen so ziemlich in Übereinstimmung gebracht habe. Den entscheidenden, formenden Einfluß auf mich hatten aber, wie ich glaube, nicht Dichter und Philosophen, sondern das Leben, mein eigenes und unser Leben.

Universitätsjahre

Während meiner Wiener Studentenjahre übte der Philosoph Franz Brentano als Lehrer und Mensch den größten Einfluß auf mich aus. Ich besuchte ihn sehr häufig. Seine Vorlesungen, die an Nachmittagen lagen, konnte ich nicht hören, weil ich durch meine Privatstunden gebunden war.

Franz Brentano war katholischer Priester gewesen, aber aus der Kirche ausgetreten, weil er dem vatikanischen Konzil und dem Dogma von der Unfehlbarkeit nicht zustimmte. Dieses Konzil war auch für mich ein Stein des Anstoßes. Aber über das religiöse Problem pflegte Brentano weder in seinen Vorlesungen noch in seinen Gesprächen zu reden; seit seinem Austritt aus der Kirche schwieg er darüber.

Mir half er viel durch die Betonung der Methode, der Empirie und vielleicht am meisten durch das Vorbild seiner durchdringenden Kritik der Philosophen und ihrer Lehren. Besonders auf Kant hatte er es abgesehen.

Von anderen Philosophen lernte ich in Leipzig Drobisch, Zöllner, Wundt, Heinz, Avenarius persönlich kennen; ich besuchte ihre Vorlesungen und verkehrte mit einigen von ihnen in der Philosophischen Vereinigung, wo es lebhafte Diskussionen gab. Ich selbst hielt dort einmal einen Vortrag über den Selbstmord in der modernen Zeit. Fechner las nicht mehr; ich suchte ihn aber mehrmals auf, er war mir menschlich ungemein sympathisch.

Einige Vorlesungen besuchte ich zusammen mit Husserl, der später unter den Einfluß Brentanos und seiner Schule geriet.

Mehr als mit Philosophie befaßte ich mich in Leipzig mit theologischen Studien; ich hörte Luthardt, Fricke u. a. Überhaupt half mir Leipzig und seine Kultur dazu, den Protestantismus verstehen zu lernen.

Der Philosoph, der auf mich am stärksten gewirkt hat, ist Plato. Vor allem durch sein Interesse für Religion, Ethik und Politik und seine besondere Vereinigung von Theorie und Praxis. Überaus schön ist die Einheitlichkeit der Weltanschauung Platos, wenn sie auch eigentlich aus einer Unvollkommenheit stammt, nämlich daher, daß die wissenschaftlichen Fächer auf der damaligen Entwicklungsstufe noch nicht so streng voneinander abgegrenzt waren. Ich gewann zu Plato schon darum eine so innige Beziehung, weil er ein großer Dichter und Künstler war.

Ja, ich bin auch heute Platoniker. Das könnte ich an meinem Verhältnis zu den Entwicklungstheorien darlegen. Ich nehme Platos Ideen in dieser Form an: ich glaube an eine Idee des Lebens. Unter Idee des Lebens verstehe ich, daß das Leben, das einzige Leben in einer Menge von Formen verkörpert ist; jedes Lebewesen ist den anderen Lebewesen in manchem ähnlich, in manchem unähnlich, gerade darum, weil es lebendig ist wie sie. Nach der Ähnlichkeit vermag ich aus der ganzen Fülle der Lebewesen eine Stufenleiter von dem Einfachsten bis zum Menschen zusammenzustellen; eine solche Stufenleiter, eine solche Hierarchie führen wir auf allen Gebieten durch, sobald wir vergleichen, ordnen, werten. Wie die verschiedenen Formen und Arten entstanden sind, weiß ich nicht; aber ich lehne Darwins mechanische Zufälligkeit, lehne sein Ausleseprinzip im Kampf ums Leben ab. Bei all seiner englischen Empirie wendet Darwin eine phantastische Methode eben darin an, daß er aus der methodischen Ähnlichkeitsstufenleiter eine Entwicklungs- und Abstammungsstufenleiter schuf. Gegen Darwin stellten ja die Naturwissenschaftler Lamarck auf; durch den Neulamarckismus wurde ein Zugeständnis an den Darwinismus gemacht, durch den Neudarwinismus werden in allerlei Formen Zugeständnisse an den Lamarckismus gemacht. Schließlich melden sich die Vitalisten, wieder in verschiedene Schulen geteilt. Als Laie nehme ich für mich daraus die Lehre, daß wir über den wahren Ursprung der Arten, beziehungsweise der neuen Arten wissenschaftlich noch nichts wissen. Meiner Meinung nach ist der Darwinismus eine der Formen des Historismus und des Relativismus, gegen die ich stets den Realismus verteidigt habe. Ich glaube nicht, daß die Menge der Lebewesen, wie Haeckel wahrhaben will, sich aus einigen Urarten oder gar der Urart eines einzigen entwickelt hat, und glaube, wie gesagt, nicht an eine zufällige und mechanische Artbestimmung.

Ich halte an der Schöpferhypothese fest. Mit dem Schöpfer empfangen die Ideen eine gewisse metaphysische Grundlage, daß sie nämlich Ideen des Schöpfers sind und waren. Ganz ohne Metaphysik kommen wir nicht aus; aber ich hoffe, daß ich die Reserve, die ich mir in diesen Dingen auferlege, nie überschritten habe.

Über Plato gelangte ich zu Sokrates; und selbstverständlich verglich ich ihn mit Jesus. – Jesus war mir ein religiöser Prophet, Sokrates ein philosophischer Apostel. Diese seine Maieutik und Ironie! Er stellt auf der Straße einen Hohepriester und fragt ihn so lange über Religion aus, bis der griechische Priester selbst gestehen muß, daß er ein Dummkopf sei; oder er spricht mit einem General über Kriegswesen, mit einem Sophisten über Sophistik und zeigt, wie die Menschen sich nicht einmal über ihren Beruf Gedanken zu machen vermögen. Überlegen Sie nur einmal, was das für eine Zeit war; ein Erzieher wie Sokrates, ein Philosoph wie Plato, ein Systematiker und Scholastiker wie Aristoteles!

Aristoteles – was der für das Mittelalter und die Menschheit bedeutet! Sein Verhältnis zu Plato ist merkwürdig; er war zwanzig Jahre lang Platos Schüler, ist Platoniker, aber darin reifer, daß er das Mythische Platos mildert. In der Tat zwei Typen – die Platoniker und die Aristoteliker; ich wurde mir dessen auch in meinem Verhältnis zu Brentano bewußt, der der ausgesprochene Typ eines Aristotelikers war.

Als ich in Athen war, überraschte mich am meisten, daß zu den Tempeln auf der Akropolis weder Stufen noch ein richtiger Weg führten. Man stellte den Tempel mitten in die Natur, als wäre er dort aus dem Erdboden gewachsen. Erst die Römer als die größeren Formalisten gaben den Tempeln Stufen. Ebenso wächst die griechische Philosophie, Wissenschaft, Poesie und Kunst unmittelbar aus der griechischen Natur und aus dem primitiven Leben – eine Offenbarung, wie das Alte und das Neue Testament eine Offenbarung der palästinensischen Wüste und des jüdischen Primitivismus ist.

Welchen Einfluß hatten und haben die beiden kleinen Nationen, die Griechen und die Juden, auf die ganze Kulturmenschheit! Die Griechen schenkten uns Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Politik, die Juden Theologie und Religion. Vor ihnen gab es zwar die Ägypter, die Babylonier, aber gerade ihre Kultur war es, die die Antike aufnahm und verarbeitete.

Wir leben noch heute von der Antike und dem Judentum, ganz Europa lebt von ihnen; wir wissen es kaum mehr, aber die Antike steckt in allem. Der amerikanischen Zivilisation merkt man an, daß sie nicht der Antike entstammt, sie enthält ein neues Element: das Pioniertum, den praktischen Optimismus. Darum können wir von den Amerikanern lernen und sie von uns.

Aber ebenso ist noch Mittelalter in uns. Schon der Katholizismus nahm die Antike in sich auf und bemühte sich von seinem Standpunkt aus um eine kulturelle Synthese, ja er war auf seine Art eine Fortsetzung der Antike. Selbst in den Evangelien gibt es antike Elemente. Deshalb sollte man an den Lateinschulen auch manche Kirchenautoren lesen.

Etwas besaß die Antike nicht, was wir unter unserm nördlichen Himmelsstrich haben, das warme Verhältnis zum Haus, zum Herd, zur Familie, zur Frau, zu den Kindern. Den Griechen und den Römern fehlte unser Winter. Sie wußten nicht, was es heißt, im Warmen zu sitzen, die Kinder rings um Mutter und Großmutter. Der antike Mensch politisierte und philosophierte auf der Straße; wir schließen uns zu Haus ab und können über Bücher spekulieren. Der russische Mensch gar sitzt hinterm Ofen und denkt nicht, sondern singt.

Mehr Einsamkeit und Abgeschiedenheit, mehr Familienleben, das ist nordisch. Beobachten Sie nur, wie die Bäume gelb werden und sich färben – was liegt alles in der Vierzahl der Jahreszeiten! Wieviel immer neue Schönheiten, andere Eindrücke, allerdings auch, wieviel komplizierter durch das Wetter, wieviel intensiver die notwendige Arbeit! Das kennen die Italiener so nicht, und das gab es auch nicht in der Antike.

*

Selbstverständlich bin ich für die klassische Bildung. Nur soll es keine Wörterbuchgelehrtheit sein. Es ist immer gut, die Seele eines anderen Volkes kennenzulernen. Die Antike war verhältnismäßig primitiv in religiöser, wissenschaftlicher, philosophischer und künstlerischer Beziehung, ebenso in technischer, wirtschaftlicher und politischer, und deshalb kann man um so leichter zum Kern der Sache vordringen. Namentlich dem jungen Menschen ist diese Primitivität gleichsam kongenial.

Es ist auch etwas daran, daß die klassischen Sprachen eine bestimmte Klarheit und Logik haben. Die lateinische und die griechische Grammatik lehren Genauigkeit und Pedanterie im Denken und Reden. Und die große Schönheit, Reinheit und Harmonie der antiken Kunst! Schöne Form und künstlerische Vollendung sind ewig. Immer sollte man Homer, Sophokles, Äschylos und in reiferem Alter Euripides lesen. Wenigstens in Auszügen sollte man Theokrit und andere kennenlernen. Im Lateinischen Virgil, Horaz, Tibull, Properz, allerdings auch die Historiker. Von Cicero genügt es vielleicht, ein, zwei Reden zu lesen; seine philosophischen Ausführungen haben für diejenigen Interesse, die die griechischen Philosophen kennen und vergleichen können, was Cicero von den Griechen übernommen hat und wie.

Das Griechische war in Rom, was im Mittelalter das Lateinische, was später das Französische war. – »Vos exemplaria graeca nocturna versate manu, versate diurna!« Ich habe mir diesen Vers gemerkt – schon die Römer hatten das Problem der Zweisprachigkeit und schämten sich nicht, die fremde Sprache zu lernen; ihre Legionen wurden bei der Eroberung der Welt durch das Griechische nicht aufgehalten.

Warum soll man am Gymnasium nicht den heiligen Augustin lesen? Und meinetwegen ein kleines Stück aus Plotin. Ich glaube, daß man sie im Original lesen sollte, doch mit einer guten Übersetzung in der Hand. Wir haben jetzt schon einige schöne Übersetzungen. Wenn ich Geld hätte, würde ich einen Fonds für die Herausgabe vorbildlicher Übersetzungen aller griechischen und lateinischen Autoren gründen. Das wäre eine gute Sache! Dann möchte ich ebenso die Klassiker der anderen Nationen herausgeben. Und gute Lebensbeschreibungen. Außerdem möchte ich eine Glyptothek gründen und eine mustergültige, lebendige Bibliothek – für eine Bibliothek des gebildeten Menschen habe ich einen Plan und überdenke ihn oft. Mein Gott, es gäbe so viele schöne Kulturaufgaben! Warten Sie nur, vielleicht kommen wir noch zu einer wahren Kulturpolitik!

Von Philosophen hatten Comte, Hume, Mill bedeutenden Einfluß auf mich. Man darf dabei nicht vergessen, daß auf uns auch Menschen und Autoren Einfluß zu haben pflegen, mit denen wir nicht übereinstimmen.

Das tschechische Leben in Wien sammelte sich in den Arbeitervereinen, dann in der »Beseda« und im akademischen Verein. In diesem gab es zumeist Leute aus Mähren; einige Prager gefielen mir weniger. Drei Semester lang war ich auch Vorsitzender des Akademischen Vereins – warum? Nun, jemand mußte Vorsitzender sein, und ich hatte ein wenig Geld – ich ließ es fast ganz in dem Verein, wenn er etwas brauchte. Geld aufzuheben, kam mir niemals in den Sinn.

Meine erste gedruckte tschechische Arbeit war ein Artikel über Platos Vaterlandsliebe, der in einem mährischen Almanach erschien; dann ein Essay über den Fortschritt, auch in einem Almanach. Damals gab ich mir den nom de plume Vlastimil; in meinen späteren Fehden in Prag klagten mich meine patriotisierenden Gegner an, daß ich diesen Namen von mir geworfen habe, als ich an die deutsche Universität kam. Ich indessen hatte mich geschämt, meinen Patriotismus so auszurufen. Als Wiener Dozent hatte ich doch meinen Vortrag über den Hypnotismus tschechisch herausgegeben.

Meine Doktorthese (1876) lautete »Plato über die Unsterblichkeit«. Ich habe sie mit vielen anderen Manuskripten verbrannt. Etwas Gutes mag an ihr gewesen sein, aber wer wollte so etwas aufbewahren!

*

Nach Leipzig ging ich schon als Doktor der Philosophie im Herbst 1878. Leipzig ist der Ort, wo ich meine Frau kennengelernt habe.

An der Universität befaßte ich mich mit Philosophie und Theologie. Ich studierte den Protestantismus, wie er sich in dem protestantischen und gebildeten Lande offenbarte. Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb ich in Leipzig einen Artikel über den Fortschritt; er läßt erkennen, wie ich mich in der religiösen Frage entwickelte und reifer wurde. Im ganzen war ich noch nicht klar, nicht entschieden genug.

Mit den Kameraden in Wien stand ich in Briefwechsel. In Leipzig gab es damals tschechische Philologen, die sich für ihren Beruf vorbereiteten, den sie dann in Rußland ausüben wollten; es gab ein russisches Seminar und, wie ich glaube, ein Internat, wo die Studenten Russisch lernten und sich gleichzeitig an der Universität in der Philologie ausbildeten. Ich trat mit einigen von ihnen in Verbindung.

Ich pflegte einen tschechischen Verein zu besuchen, dessen Mitglieder vorwiegend Arbeiter waren. Dort lernte ich den Lausitzer Schriftsteller Pjech kennen (deutsch schrieb er sich Pech), einen glühenden Verehrer Havličeks. Für Havliček hatte ich mich schon am Gymnasium interessiert; wir schrieben uns seine Satiren und alles, dessen wir damals – Mitte der sechziger Jahre – habhaft werden konnten, ab. Pjech legte mir nahe, die Tschechen sollten sich ernster als bisher mit Havliček beschäftigen; durch einen merkwürdigen Zufall konnte ich dieser Aufforderung nachkommen Masaryk verfaßte ein Buch über den hervorragenden Publizisten und Satiriker Karel Havliček (1821-1856), einen Geist von der Art Lessings und Voltaires. Charakteristisch für Havličeks unromantischen Nationalismus sind seine Worte: »Früher starben die Männer für die Ehre, für das Wohl ihres Volkes, wir aber werden aus demselben Grunde leben und arbeiten.«  (Anm. d. Übers.).

Damals interessierte mich auch das Studium und die Beobachtung der Lausitzer Serben. In Dresden gab es ihrer mehr, dort konnte ich von Zeit zu Zeit mit denjenigen sprechen, die sich um die katholische Hofkirche sammelten. Vor allem konnte ich an Pjech beobachten, wie aus einem Lausitzer ein Deutscher wird und was an den Lausitzern noch slavisch geblieben war. Später reiste ich, schon von Prag aus, wiederholt nach Bautzen und setzte meine Beobachtungen fort.

In Leipzig befaßte ich mich damals auch mit dem Spiritismus. Ich hatte schon vorher in Wien viel über alle Arten von Okkultismus gelesen, in Leipzig kam ich auch unter Spiritisten und konnte sie beobachten. In dieser Zeit wurde, glaube ich, der Astronom und Philosoph Zöllner für den Spiritismus gewonnen. Dieses Interesse brachte mich dann in Wien zu einem sorgfältigeren Studium des Hypnotismus. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich mich vom Spiritismus und von den okkulten Erscheinungen nicht einfangen ließ; es gibt manche Erscheinungen, die wir nicht begreifen – aber, mein Gott, was begreifen wir eigentlich?

Miß Garrigue

In Leipzig – es war im Sommer 1877 – hatte ich ein Erlebnis, das für mein ganzes Leben und meine geistige Entwicklung entscheidend wurde; das war meine Bekanntschaft mit Charlotte Garrigue.

Ich hörte von ihr und ihrer ganzen Familie, besonders ihrem Vater, sehr viel bei Görings. Frau Göring führte in Leipzig eine Pension, in der ich damals wohnte. Ich erfuhr, daß die Garrigues von einem alten Hugenottengeschlecht abstammten; Mr. Garrigue, der in Kopenhagen geboren war, hatte die Görings kennengelernt, während er in einer Leipziger Buchhandlung tätig gewesen war. Seine Frau, die Mutter Charlottes – eine geborene Whiting – stammte aus dem amerikanischen Westen und gleichfalls aus alter Familie. Der Vater also ein Nachkomme der Hugenotten, die Mutter aus dem Geschlecht der Pioniere im Westen Amerikas – was für eine Tradition von lebendiger, sittlicher Energie lag darin!

Im Jahre 1870 war Mr. Garrigue mit einem Teil seiner Familie in Deutschland gewesen; Charlotte widmete sich damals schon dem Musikstudium, dem Klavierspiel. Sie hatte Gelegenheit gehabt, Liszt zu besuchen. Sie wohnte den Gewandhauskonzerten und den Motetten in der Thomaskirche bei, deren berühmter Regens chori Bach in der Tradition fortlebte. Im Jahre 1877 sandte Mr. Garrigue Charlotte wieder zu den Görings, damit sie ihre Bildung am Konservatorium vollende; aber eine Teillähmung der Hand unterbrach ihre Musiklaufbahn.

Es war natürlich, daß ich von vornherein auf sie neugierig war. Als sie ankommen sollte, wartete ich am Fenster, um sie aus der Droschke aussteigen zu sehen. Einmal machten wir alle einen Ausflug dorthin, wo sich die ehemaligen slavischen Dörfer bei Leipzig befinden, die auch auf Kollár Tschechischer Dichter der Romantik, Verfasser des Epos »Slávas Tochter« (1793-1852). (Anm. d. Übers.) Eindruck gemacht haben. Wir fuhren auf einem Boot über den Fluß, das Boot stieß gegen das Ufer, Frau Göring stürzte ins Wasser. Die Arme war schrecklich beleibt und wäre ertrunken, da sprang ich ihr nach und brachte sie ans Ufer. Ich zog mir dabei wohl eine Erkältung zu, der Arzt verordnete mir ein paar Tage Hausarrest. Ich schlug Miß Garrigue und Fräulein Göring vor, zusammen mit mir irgend etwas zu lesen. Wir lasen englische Bücher, Gedichte und vor allem Buckles »Geschichte der Zivilisation«. Damals kamen wir uns näher.

Charlotte fuhr nach Thüringen, nach Elgersburg zu einer Freundin. Als sie abgereist war, wurde ich mir meiner Beziehung zu ihr bewußt und schrieb ihr einen Brief, in dem ich ihr die Verbindung fürs Leben vorschlug. Ihre Antwort war unbestimmt; da packte ich zusammen und reiste ihr nach – Geld hatte ich nur für die vierte Klasse. Wir wurden einig.

Dann reiste Charlie nach Amerika, und ich kehrte nach Wien zurück. Ich stürzte mich in meine Habilitationsarbeit über den Selbstmord. Plötzlich erhielt ich ein Telegramm von Mr. Garrigue. Charlotte sei von einem Wagen gefallen und habe sich verletzt, ich möchte kommen. Als ich mich zur Reise vorbereitete, traf ein Brief von ihr ein, es sei nicht so schlimm und ich brauche mich in meiner Arbeit nicht stören zu lassen. Ich war aber unruhig und fuhr dennoch – im Jahre 1878 – mit der »Herder« von Hamburg aus über Le Havre nach Amerika.

Damals dauerte die Reise von Hamburg nach Amerika zwölf bis vierzehn Tage; aber unsere Überfahrt war besonders stürmisch, und so brauchten wir siebzehn Tage. Die »Herder« und eine ganze Reihe von Schiffen der Hamburg-Amerika-Linie waren sehr schlecht; die »Herder« ging auf ihrer nächsten Fahrt unter, ebenso sank damals die »Schiller«. Eines Nachts, als ich schon in der Kabine lag, hörte man einen starken Krach, und das Wasser stürzte in den Raum. Ich mußte annehmen, daß wir sinken würden – aber es war seltsam: die anderen Reisenden waren entsetzt, schrien und beteten; ich blieb unbeweglich liegen und wartete, was geschehen würde ... Es war nur der Kessel mit dem Trinkwasser geplatzt.

Ich traf Charlotte fast genesen an. Aber was nun? Ich überlegte, ob ich in Amerika bleiben und mir eine Beschäftigung suchen sollte, da ich in Wien meinen Lebensunterhalt – die Stunden – infolge meiner Abreise verloren hatte. Vielleicht konnte ich auch in Amerika an eine Universität oder zu einer Zeitung kommen. Ich entschied mich jedoch, zurückzukehren und meine Habilitation durchzuführen. Ich bat deshalb Mr. Garrigue, uns für drei Jahre Geld zu geben, bis ich meine Familie ernähren könnte. M. Garrigue war ein alter Wikinger und Amerikaner. In Amerika versteht es sich von selbst, daß ein Mann, der heiratet, seine Frau selbst ernähren kann. Er lehnte darum die Unterstützung, die er als Mitgift ansah, von vornherein ab. Dann gab er uns trotzdem dreitausend Mark und die Fahrkarten. Eine Zeitlang schickte er uns eine kleine Unterstützung.

Charlottes Familie war väterlicherseits dänisch; die Mutter war Amerikanerin, und den Genealogen zufolge waren beide Familien ungewöhnlich alt; die Garrigues stammen aus Südfrankreich – es gibt dort noch heute einen Höhenzug La Garrigue – und sollen Nachkommen der Capetinger, sogar Ludwig IX., des Heiligen, sein; auch mütterlicherseits sind sie ein altes, man möchte sagen, aristokratisches Geschlecht. Sie stammen von den »Pilgervätern« ab, die England ihrer religiösen Überzeugung wegen im 17. Jahrhundert verlassen haben.

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Charlotte Masaryk-Garrigue

Für jedermann hat es einen gewissen Wert, wenn seine Vorfahren etwas zu bedeuten hatten und anständige Menschen waren; so setzte mir Tolstoj einmal mit Begeisterung auseinander, was für hervorragende Männer einige seiner Vorfahren gewesen seien. In der Familie und im Geschlecht ein glänzendes Vorbild und Tradition zu haben, ist ein glückliches Schicksal.

Väterlicherseits, von mir, haben meine Kinder slavisches, bäurisches Blut; vielleicht ist es gar nicht jünger – ein anständiger Bauern- oder Arbeitervorfahre ist um nichts schlechter.

Charlie war eines von elf Kindern. Zwei waren Söhne; der eine von ihnen wurde Kaufmann, der andere studierte und starb frühzeitig. Die Mädchen waren sehr begabt und selbständig; zwei sind noch heute vortreffliche Musiklehrerinnen. Jedes Familienmitglied hatte einen andern Glauben; alle waren frei erzogen worden, um sich religiös selbst zu entscheiden, sobald sie erwachsen waren. Mr. Garrigue war Agnostiker – damals nannte man die Agnostiker oft Atheisten –, aber ein sittlich ausgezeichneter Mensch, ein guter Gatte und Vater, ein echter Amerikaner, der seine Kinder zur Arbeit und Wahrheit erzog. Charlotte war Unitarierin.

Ihr Äußeres war schön; sie hatte einen vortrefflichen Kopf, besser als ich; charakteristisch ist, daß sie die Mathematik liebte. Sie sehnte sich ihr Leben lang nach strenger Erkenntnis; aber ihr Gefühl litt dadurch nicht. Sie war tief gläubig. Der Tod war ihr wie der Gang aus einem Gemach ins andere, so unerschütterlich glaubte sie an die Unsterblichkeit.

In moralischer Beziehung hatte sie keine Spur von dem Anarchismus, der in Europa, d. h. auf dem Kontinent so verbreitet ist; darum war sie auch gewissenhaft und fest in der Politik und in sozialen Fragen. Sie war gegen Kompromisse und log niemals; ihre Wahrhaftigkeit und ihre Kompromißfeindlichkeit übten einen großen erzieherischen Einfluß auf mich aus. Als im Jahre 1906 die Arbeiter für das freie, gleiche, geheime Wahlrecht demonstrierten, ging meine Frau in ihrem Zuge mit.

Mit ihr empfing ich das Beste vom Protestantismus für mein Leben: die Einheitlichkeit von Religion und Leben, das religiös Praktische, die Religion für den Alltag.

In Leipzig erkannte ich in den gemeinsamen Debatten ihre Tiefe; ihre sowie meine Dichter waren Shakespeare und Goethe, aber sie blickte tiefer in sie hinein und wußte Goethe durch Shakespeare zu ergänzen. Wir arbeiteten alles zusammen, auch Plato lasen wir gemeinsam; unsere ganze Ehe war Zusammenarbeit.

Sie war sehr musikalisch; sie liebte Smetana und schrieb für »Naše Doba« eine Analyse seines zweiten Quartetts; von diesem meint man nämlich, daß es Smetanas Geistesstörung erkennen lasse. Sie skizzierte über Smetana mehrere Studien; vielleicht wird man sie einmal veröffentlichen.

Was soll ich Ihnen darüber sagen! Es war eine so starke Verbindung ... Während des Krieges erkrankte sie; ich habe es dort in der Fremde geahnt ... Als ich im Jahre 1918 in all meinem Ruhm zurückkehrte, wartete ich nur auf den Augenblick, in dem ich mit der Kranken zusammensein würde.

Die Amerikanerin war Tschechin geworden, moralisch und politisch; sie glaubte an den Genius unserer Nation, sie half mir in meinen politischen Kämpfen und meiner ganzen politischen Tätigkeit. Nur während des Krieges, in der Fremde, mußte ich ohne sie arbeiten, aber ich wußte, daß ich im Einvernehmen mit ihr handelte. Es gab überhaupt Stunden, in denen ich, weit von ihr, das Zusammenspiel unserer Gedanken aus der Entfernung geradezu fühlte. Ich glaube nicht, daß das Telepathie war, sondern paralleles Denken und Fühlen von zwei Menschen, die in allem übereinstimmen und die Welt in gleicher Weise ansehen. Die Frau – das war ihre Überzeugung – lebt nicht nur für den Mann und der Mann nicht nur für die Frau; beide sollen die Gesetze Gottes suchen und sie verwirklichen.

An der Schwelle

Ja, meine Ehe vollendete meine Erziehung, meine Lehr- und Wanderjahre. Ich war 28 Jahre alt, als ich heiratete; bis zum Jahre 1882 dozierte ich in Wien.

Tag um Tag hatte ich Sorgen ums Brot, und dabei kamen Bankiers zu mir, die mir im Hinblick auf meine erheirateten »amerikanischen Millionen« ihre Dienste anboten! In den Ferien in Klobouky kam eine Deputation aus dem ganzen Bezirk zu mir, ich möchte eine Bahn von Hustopeč nach Klobouky bauen lassen. Ironie des Schicksals! Aber es lag darin auch viel Humor. Ein Mitbürger von Klobouky kam zu Besuch und beaugapfelte uns lange, bis er schließlich gestand, daß er gekommen sei, um meine Frau zu sehen, weil er noch niemals – eine Negerin gesehen habe.

Die Sorgen ums Brot verschlimmerten sich noch, als ich während der nächsten Ferien an Typhus erkrankte und verspätet nach Wien zurückkehrte; aber ich bekam wieder Stunden, mit Hilfe der Frau Hartmann, der Witwe unseres deutschen Revolutionsdichters Moritz Hartmann. Unter anderm hielt ich Vorträge in einem Kreis von Damen im Hause des bekannten Chirurgen Billroth. Meine ersten Vorlesungen an der Universität handelten über den Pessimismus. Geistig mußte ich damals als Dozent meine Kenntnisse vermehren; der Umfang meines Wissens war ziemlich groß, bedurfte aber der Vertiefung und Systematisierung. Wie ich Ihnen schon mehrmals gesagt habe, studierte ich die Literatur der großen Nationen und bemühte mich theoretisch und praktisch um eine philosophische Synthese.

Durch die aktive Politik unserer Abgeordneten wurde die Errichtung der tschechischen Universität in Prag erreicht. Dorthin wurde ich im Jahre 1882 als Professor der Philosophie berufen.

Im Grunde hätte ich lieber den Lehrstuhl für Soziologie gehabt, aber den gab es in Österreich nicht. Die Soziologie war in Frankreich, England, Amerika, Italien und anderswo schon als Wissenschaft anerkannt, aber in Deutschland und Österreich wollten die Fachmänner nichts von ihr hören. In Deutschland war eigentlich nur die Geschichtsphilosophie anerkannt, doch war es unklar, in welchem Verhältnis sie zur Soziologie und Geschichte stand. Auch meine Arbeit über den Selbstmord, mit der ich mich an der Universität habilitiert hatte, gehörte gleichsam in kein Universitätsfach. Ein Professor der Philosophie meinte, ich sollte sie bei der Rechtsfakultät einreichen, einem andern schien sie etwas Sozialistisches zu sein –, ich muß Brentano und Zimmermann dafür danken, daß sie mich trotzdem habilitierten.

In methodischer Beziehung ist meine Arbeit über den Selbstmord Geschichtsphilosophie, also Soziologie, in sachlicher Beziehung eine Analyse unserer großen Übergangszeit. Manche Kritiker meinten, ich führe ein neues Fach in die Philosophie ein, und billigten besonders, daß ich den brennenden Fragen des Tages und des Lebens nicht auswich.

Zugleich zeigt diese Schrift schon meinen wissenschaftlichen Charakter – Synthetik neben Analyse. Dennoch gaben mich meine Prager Kritiker lange für einen extrem analytischen, kritischen, skeptischen Geist aus. Indes habe ich an ein kritisches Wirken zunächst gar nicht gedacht. Solange ich in Wien war, schrieb ich keine einzige Kritik oder Polemik, obwohl mich Zeitschriften zur Mitarbeit aufforderten. Ich bereitete meine Vorlesungen vor und arbeitete meine Gedanken gründlicher aus; ich wollte sie in einer Reihe von theoretischen Arbeiten niederlegen – aber, wer weiß, die Natur verleugnet sich nicht; vielleicht hätte ich mich auch in der Fremde auf die praktische Laufbahn begeben.

Nach der Ankunft in Prag begann ich, als ich unsern Mangel an Kritik und Literatur erkannte, im »Athenaeum« die kritische Kleinarbeit und benützte diese Zeitschrift, wenn ich so sagen darf, als ideelle Kampferspritze. Vielleicht war ich einigermaßen nervös und ungeduldig. Ich war eigentlich ungern nach Prag gegangen, aber – nolentem fata trahunt. Alles Weitere entwickelte sich von selbst, ohne meinen Willen; in alle meine Konflikte geriet ich unwillkürlich, wenn ich auch infolge Unkenntnis der Verhältnisse Fehler beging. Auch später, als ich schon in der Politik tätig war, wollte ich keine neue politische Partei gründen; in alles brachten mich eigentlich die Umstände hinein. Auch heute noch trete ich sehr ungern und nur unter Zwang vor die Öffentlichkeit. Allerdings, wenn ich vor eine Aufgabe gestellt werde, weiche ich nicht mehr aus, und was ich angefangen habe, das trachte ich zu vollenden.

Mein Übergang von Wien nach Prag bedeutete für mich eine neue Krise, die ich schon in Wien durchmachte. Ich fürchtete die Kleinheit Prags, ich war den Menschen dort ganz unbekannt, dem nationalen Leben entfremdet, obgleich ich gelegentlich als kleiner tschechischer Schriftsteller aufgetreten war. Diese Entfremdung steigerte sich in Prag in gewissem Maße nicht nur während der Handschriftenkämpfe, Der Streit um die »Königinhofer Handschrift« und die »Grünberger Handschrift« bewegte jahrzehntelang die tschechische Öffentlichkeit. Beide Handschriften waren Fälschungen des dichterisch begabten Philologen und Bibliothekars am Böhmischen Nationalmuseum in Prag Václav Hanka (1791-1861). Entstanden aus dem nationalistischen Romantismus von 1817/18, sollten sie dem tschechischen Volke epische und lyrische Dokumente aus seiner halbmythischen Vorzeit geben. Ihre Veröffentlichung erregte großes Aufsehen; die Handschriften wurden in viele Sprachen übersetzt; sie galten als Beweis für ein Kulturniveau, das tatsächlich innerhalb des Slaventums erst in späterer Zeit erreicht wurde. Goethes »Sträußchen« entstammt der »Königinhofer Handschrift«. Wissenschaftliche Zweifel an der Echtheit der Handschriften, die bald auftauchten, wurden in der tschechischen Öffentlichkeit als nationaler Verrat zurückgewiesen, so daß sich der Streit geradezu zu einer Krise der nationalen Moral entwickelte. Masaryk und mit ihm mehrere Gelehrte, wie der hervorragende Literarhistoriker Jaroslav Göll und der Sprachforscher Jan Gebauer, verhalfen der Wahrheit rücksichtslos zum Sieg. – Vergl. auch S. 83, 89 u. ff. (Anm. d. Übers.) sondern auch durch die darauf folgende Beteiligung an der Politik.

Ich gründete Nationalität und Staatlichkeit auf Moralität und geriet so in Konflikt nicht allein mit den politischen Parteien, sondern auch mit dem engern Kreis von Bekannten, die den sogenannten Nationalismus über alles stellten und als vis motrix allen Lebens, des Einzelmenschen und der Gesellschaft, betrachteten. Ich sehe heute, daß ich mir noch nicht klar genug war und darum Fehler beging, Fehler nicht nur in der politischen Praxis, sondern auch in der Theorie.

Sehen Sie, seit der Zeit, in der ich in Čejče das Schmiedehandwerk gelernt hatte, kam ich aus dem Arbeiten nicht heraus. Als ich schon Präsident geworden war, suchte mich der deutsche Philosoph Fritz Mauthner auf, er wollte nichts anderes, als sehen, wie ein glücklicher Mensch aussehe.

Glücklich! Warum nicht? Aber wenn ich Schmied in Čejče geblieben wäre, wäre ich wohl ebenso glücklich, wie ich es jetzt bin. Die Hauptsache ist, ein an Ereignissen und innerer Entwicklung reiches Leben zu haben – und damit kann ich zufrieden sein. Visuri!


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