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II. Leben und Arbeit

Neue Aufgaben

Der Privatdozent

Als ich in Wien als verheirateter Privatdozent begann, war das kein leichtes Leben. Wir wohnten in einer Stube mit einem Fenster und einem Vorraum, durch einen eigentümlichen Zufall gerade neben dem Haus, wo ich als Junge Schlosserlehrling gewesen war. Das Frühstück bereiteten wir uns zu Hause, sonst aßen wir in einem billigen Wirtshaus um die Ecke – was lag daran, es war ein Studentenleben, aber es ging. Schwerer wurde es, als die Kinder kamen.

In jener Zeit arbeitete ich meinen »Selbstmord« um. Ich hatte ihn schon vor meiner Abreise nach Amerika als Habilitationsschrift eingereicht, doch hatte er nicht entsprochen. Ich wußte das, war aber noch nicht mutig genug, rund herauszusagen, was ich dachte. Professor Brentano riet mir, die Schrift umzuarbeiten. So machte ich mich nochmals ans Werk; meine Frau interessierte sich dafür, es war unsere erste Zusammenarbeit. Und mit dem überarbeiteten »Selbstmord« habilitierte ich mich. Die Schrift war eigentlich eine Geschichtsphilosophie, hauptsächlich eine Philosophie der Gegenwart. Das eine oder das andere würde ich heute genauer und stärker formulieren, aber im wesentlichen würde ich nichts ändern.

Privatdozenten bezogen kein Gehalt. Für kurze Zeit nahm ich eine Hilfslehrerstelle an einem Wiener Gymnasium an; aber die Mittelschule bekam mir nicht. Ich unterrichtete privat den Sohn des Professors Theodor Gomperz, des Philosophen und klassischen Philologen. Dieser Sohn, Harry Gomperz, ist jetzt Professor der Philosophie in Wien. Ich gab ihm auch Lateinunterricht. Dazu hatte ich mir eine besondere Methode zurechtgelegt: ich ließ meinen Schüler Sätze übersetzen, die von dem handelten, was ihn im täglichen Leben interessierte; wenn er zum Beispiel im Rechnen bei der Multiplikation hielt, so lernte er sie lateinisch. Die Methode bewährte sich sehr gut.

Am bittersten war es, wenn ich mir Geld leihen mußte. Selbst von Brentano borgte ich mir einmal 80 Gulden, die ich ihm erst von Prag aus abzahlte. Ja, das Schuldenmachen war mir schrecklich, aber ich hatte mir vorgenommen, meiner Frau keine materiellen Sorgen zu bereiten, und das half mir dabei, auch das Unangenehme zu tun. Einmal ging es mir schlecht, da suchte mich ein junger Wiener auf, Herr Oelzelt-Newin, später Dozent der Philosophie; er wollte in die Philosophie eingeführt werden, ich sollte mit ihm die Philosophen, vor allem Kant, lesen. Er honorierte mich sehr anständig. Damals hatten wir schon zwei Kinder, Alice und Herbert. Ich machte eine Typhuserkrankung durch, und auch meine Frau wurde krank; Herr Oelzelt-Newin lieh mir einige Tausend Gulden – das war viel Geld. Ich gab sie ihm auch erst zurück, als ich in Prag lebte. Die Not dauerte drei Jahre, 1879-1882.

Das Leben spielte sich so ab: Vormittags bereitete ich mich auf die Vorlesungen vor und sammelte Quellenmaterial in der Bibliothek; zweimal wöchentlich hatte ich Vorlesung, nachmittags gab ich Stunden, am Abend machte ich den »Selbstmord« druckfertig. Für gesellschaftliche Beziehungen hatte ich weder Zeit noch Lust. In den Ferien fuhren wir nach Klobouky bei Brünn zu den Eltern.

Ich wußte, daß ich in Wien nicht sobald Professor werden würde; es handelte sich also darum, etwa nach Czernowitz an die Universität zu gehen oder nach Deutschland. Dessen wurde ich mir bewußt: ging ich hinaus, so wurde ich deutscher Schriftsteller, würde deutsche Bücher herausgeben müssen, bliebe aber doch Tscheche, wenn auch ein verlorener Tscheche wie irgendein Schneider in Berlin oder ein Farmer in Texas. Der Mensch ist das, als was er geboren wird.

In jener Zeit wurde nun die tschechische Universität in Prag gegründet, und ich bekam eine Einladung. Ich ging.

*

Gern? Eigentlich ungern. Ich hatte Befürchtungen wegen meines Tschechischen, und vor den damaligen tschechischen literarischen und philosophischen Verhältnissen war mir bange. Prag kannte ich nicht; bis dahin hatte ich es nur auf Reisen berührt.

Die tschechische Literatur kannte ich unvollständig. In der Schule in Brünn hatte es gleichsam keine gegeben, erst in Wien suchte ich mir zusammen, was ich erlangen konnte. Die Tschechen in Wien waren zumeist Arbeiter; ich hatte keine Zeit, regelmäßig mit ihnen zusammenzukommen. Es gab tschechische Beamte genug in den Ministerien, aber die waren Honoratioren, an die ich als Student nicht herankam, und als Dozent hatte ich keine Zeit dazu. Ich kam also nach Prag, ohne das tschechische Leben und die Menschen zu kennen. Ich las mich in unsere Literatur und Geschichte ein und faßte auch allmählich Fuß in der Prager Gesellschaft. Meine Frau lernte tschechisch und war von der Mission unseres Volkes überzeugt. Das war eine große moralische Stärkung für mich, besonders als ich bald darauf in Opposition zu den bei uns landläufigen Anschauungen trat.

Meine Frau hatte Wien nicht geliebt; ich war an Wien gewöhnt, denn ich hatte zwölf Jahre dort verlebt. In den Familien, wo ich unterrichtete, hatte ich auch das gebildete und liberale Wien kennengelernt – aber verwachsen war ich nicht damit; das Wienertum stand mir im Wege. Von dem kulturellen Wien stand und blieb mir der Philosoph Brentano am nächsten. Ich machte den gleichen Konflikt mit dem Katholizismus durch wie er, wegen des Dogmas der Unfehlbarkeit.

Auch für mich war damals meine Trennung von der katholischen Kirche die Hauptsache. In meinem »Selbstmord« sieht man, wie ich die Religion und vor allem den Verlust des Glaubens bewertete. In diesem Buch habe ich dargelegt, daß das Leben ohne Glauben an Sicherheit und Kraft verliert. Das besagt eigentlich alles. Ich habe schon erwähnt, daß es ein unfertiges Buch ist – ich bin auch heute noch nicht damit fertig. Und sehen Sie, trotzdem schrie man mich wegen dieses Buches für gottlos aus. Als ich in Leipzig studierte, trug ich einmal meine Ideen über den Selbstmord im Philosophischen Verein vor. Am Tage darauf kam ein junger Mann zu mir, der vor Aufregung zitterte und mir sagte, er werde seit Jahren von dem Gedanken verfolgt, sich das Leben zu nehmen, aber meine Darlegung hätte ihn von der fixen Idee befreit. Dennoch schrieben Klerikale und Liberale, mein Buch wäre eine Empfehlung des Selbstmordes. Damals war ich starr darüber, daß Menschen so böse sein können. Heute wundere ich mich nicht mehr so sehr. Der deutsche katholische Schriftsteller Ratzinger begriff sofort, daß mein Buch eine Philosophie der Geschichte ist und sich nicht gegen die Religion richtet; aber unser tschechischer Katholizismus stand weder philosophisch noch theologisch auf solcher Bildungsstufe. Am häufigsten mußte ich Menschen entgegentreten, die gar nicht wußten, was ich vertrat. Wenn die Menschen sich gegenseitig verstehen könnten, hätten wir mit einem Schlag die Demokratie; ohne gegenseitiges Verstehen, ohne Duldsamkeit gibt es keine Freiheit. Nur wenn der Mensch zum Menschen absolut wahrhaftig und offen ist, erkennt man sich wirklich; ohne Liebe gibt es keine Wahrheit; ohne Wahrheit und ohne Liebe kann der Mensch den Menschen nicht erkennen.

*

Wie können die Menschen überhaupt nur die Frage aufwerfen, ob das Weib dem Manne gleichwertig sei! Als ob die Mutter, die das Kind geboren hat, dem Vater nicht gleichwertig wäre! Wenn der Mann wirklich liebt, wie könnte er etwas lieben, was niedriger ist als er selbst. Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Begabung der Männer und der Frauen. Sooft mir der verstorbene Professor Albert Berühmter tschechischer Arzt der Wiener Schule. (Anm. d. Übersetzers.) darzulegen pflegte, daß die Frauen zur Medizin nicht taugten, weil ihre Muskeln und Nerven zu schwach wären, sagte ich ihm: »Und zur Krankenpflege sind sie nicht zu schwach? Eine Pflegerin muß Tag und Nacht für den Kranken sorgen, muß ihn heben und alles mögliche für ihn tun – dazu muß sie mehr Kräfte haben als ihr Feldscherer, die ihr höchstens eine Stunde operiert.« Dann schwieg er.

Die Frage nach der Gleichwertigkeit der Frauen ist eigentlich ein Problem der Bourgeoisie und der Intellektuellen. Beim Bauern, beim Arbeiter muß die Frau oft dieselben Arbeiten verrichten wie der Mann, ebenso viele und ebenso schwere. Wenn aber der Mann in der Kanzlei sitzt, so denkt er nicht daran, daß seine Frau sich den ganzen Tag um die Kinder kümmern, einkaufen, kochen, aufräumen, nähen und zehnerlei Handwerk im Hause ausüben muß. Ich möchte wissen, wer von den beiden mehr Arbeit verrichtet! Und was die Ämter, die Kunst, die Wissenschaft, die Politik betrifft, da beginnen die Frauen erst einzudringen. Es ist verständnislose Überstürzung, wenn wir uns schon zu beurteilen trauen, ob sie das können oder nicht. Die Männer haben Jahrtausende Zeit gehabt, um es zu lernen, und machen ihre Arbeit oft noch immer schlecht.

Die Unterschätzung der Frauen zeugt von einer polygamen Gesellschaft. Wir leben tatsächlich noch in der Vielweiberei. Der Mensch des Altertums kümmerte sich nicht um die Kinder und ging mit der Frau um wie mit einem Sklaven oder einem Lasttier. Aber er war ein roher Jäger und Krieger, der dafür das Leben der Familie mit seinem Leben schützte. Heute sind wir zivilisiert, und trotzdem erhält sich eine grobe Polygamie. Beweis dafür ist die Tatsache der Prostitution. Man bedenke, welche doppelte Geschlechtsmoral für Männer und Frauen gilt und wie das die Ehe entwertet. Aus dem, was ich im Leben und in der Literatur beobachte, ersehe ich, daß in der Mehrzahl verdorbener Ehen die Schuld den Mann trifft. Und soweit die Frauen schuld sind, liegt eine beträchtliche Mitschuld der Männer vor: bisher ruhte es in ihrer Hand, was sie aus den Frauen machten. Ich will damit nicht sagen, daß alle Frauen Genien und Engel sind; im ganzen stehen sie mit den Männern auf gleicher Entwicklungsstufe; sie haben jedoch den Vorzug, daß sie sich durch das Leben und seine Pflichten reiner erhalten als die Männer. Sie trinken nicht soviel, rauchen nicht soviel, bummeln nicht – darum suchen so viele Männer ihre Rettung in der Ehe.

Ich sehe nur einen Weg, und das ist die Erziehung zur Monogamie. Das ist eine Aufgabe der Gesamtkultur, in gewissem Maße eine wirtschaftliche und soziale Aufgabe. Soll die Prostitution bekämpft werden, so müssen wir das erniedrigende Elend beseitigen – paupertas meretrix. Wollen wir die Sittlichkeit heben, so müssen wir dafür sorgen, daß die Menschen schön, sauber und gesund wohnen, daß die Mütter sich den Kindern widmen, daß die Menschen ihren Lebensunterhalt und ihr Heim durch ehrliche Arbeit erringen können. Dann der unglückselige Alkoholismus! Sie wissen, daß die Prostitution und das ganze gesellschaftliche Elend Hand in Hand mit ihm geht. Ich glaube, daß ein gesunder, gebildeter Mann und eine gesunde, gebildete Frau an den verworrenen modernen Geschlechtsproblemen nicht leiden werden. Ihre Beziehung wird stark, groß und schön sein. Die starke und gesunde Natur ist sittlich – genauer gesagt, sie ist nicht niedrig. Das ist Hygiene des Lebens, des seelischen und körperlichen Lebens. Ich möchte jungen Menschen nicht Moral predigen, ihnen aber sagen: Die Quelle des lebendigen und lebenspendenden Trankes findet nur derjenige, der in der Jugend den Sinn für Reinheit nicht eingebüßt hat. Und dann, mehr Interesse für die Kinder! Unsere Väter können meistens nicht mit Kindern umgehen und widmen ihnen erschreckend wenig Aufmerksamkeit.

Aber das höchste Argument der Monogamie ist die Liebe. Eine große Liebe ohne Vorbehalt, eine Liebe des ganzen Menschen kann weder mit den Jahren noch mit dem Tode vergehen. Ich sehe das so: Ein Mann, eine Frau – das ganze Leben lang; treu bleiben bis zum Tode. Glücklich ist, wer streng monogam zu leben verstanden hat oder monogyn.

Gewiß, ich bin für die Möglichkeit der Scheidung: eben weil ich will, daß die Ehe Liebe sei und nicht Geschäft, Konvention, eine unvernünftige und unbesonnene Verbindung. Allerdings kann die Scheidung mißbraucht werden, wie alles.

Die Liebe, die Sympathie ist die größte moralische Kraft, aus ihr entspringt alle gegenseitige Teilnahme, Hilfe und Zusammenarbeit; ein moralisches Leben ist der mittätige Anteil an Gottes Weltordnung. Liebe, Sympathie, Synergie ist das Lebensgesetz in der Beziehung der Menschen, in der Familie, in der Nation, im Staate, in der Menschheit. Ein anderes kenne ich nicht.

Nach Prag

Nach Prag kam ich im Jahre 1882. Das geschah so: In Wien produzierte sich der Hypnotiseur Hansen. Ich ging hin, um mir seine Produktionen anzusehen, und besuchte ihn. Dann luden mich unsere Studenten ein, ihnen im tschechischen Akademischen Verein darüber einen Vortrag zu halten. Man erblickte damals in der Hypnose noch etwas Geheimnisvolles, einen »Magnetismus« und ähnliches. Ich erklärte Hansens Versuche psychologisch, also als Hypnose. Für die Erklärung der hypnotischen Körperstarre fehlten mir die Fachkenntnisse. Nach dem Vortrag riet mir Herr Penížek, damals mein Hörer und später Journalist, meine Ausführungen drucken zu lassen. Er half mir selbst, mein mangelhaftes Tschechisch zu verbessern, und schickte die Arbeit nach Prag. Sie sollte irgend woanders erscheinen, aber schließlich bekamen sie die Professoren Goll und Hostinský in die Hände – sie redigierten nämlich eine Folge von Vorträgen – veröffentlichten sie und machten Professor Kvíčala auf mich aufmerksam. Kvíčala war Abgeordneter und hatte bei der Gründung der tschechischen Universität in Prag viel mitzureden. Daraus wurde ein Antrag an mich, als Extraordinarius der Philosophie nach Prag zu kommen. Kvíčala und das Wiener Ministerium versprachen mir, ich würde nach drei Jahren Ordinarius werden. So ging ich.

Ein Extraordinarius bezog ein Jahresgehalt von 1800 Gulden. Vielleicht hätte ich durch irgendein kleines Nebenamt etwas dazu verdienen können, aber ich wollte unabhängig bleiben. Selbstverständlich ging es uns unterschiedlich, auch Geld ausleihen mußte ich mir wieder manches Mal. Nach drei Jahren sollte ich Ordinarius werden; der Antrag auf Ernennung war schon vorbereitet, aber ich verwickelte mich nolens volens in den Handschriftenstreit Siehe oben S. 70.. Ein Teil der Professoren war deshalb gegen mich, und die Abstimmung über meine ordentliche Professur fiel so aus, daß elf Stimmen für mich waren, elf gegen mich. Darauf sollte das Ministerium in Wien die Entscheidung fällen. Es ließ die Sache aber in salomonischer Weise unentschieden; man mochte mich nicht, man wollte an der Universität Ruhe haben. Aus Prag kamen Denunziationen nach Wien, ich wäre ein Jugendverderber, ein Chauvinist, verwürfe Kant und die deutsche Philosophie u. a. Erzbischof Schönborn und einige unserer einflußreichsten Leute waren gegen mich. Man sandte einen Bericht über meine Vorlesungen über praktische Philosophie nach Wien, ich spräche über Prostitution und verdürbe dadurch die Jugend. Man stelle sich vor, daß vor Juristen und Philosophen über ein so furchtbares moralisches Problem wie die Prostitution nicht gesprochen werden sollte! Als ich nach Rußland reiste, wurde nach Wien gemeldet, ich wäre ein Russophile und Panslavist. Solcher Dinge gab es viele – jetzt ärgere ich mich darüber nicht mehr. Ich sah daran, wie verkrümmt die Menschen durch Unfreiheit werden. Selbstverständlich mißtraute man mir in Wien. Deshalb mußte ich dreizehn Jahre warten, bevor ich Ordinarius wurde. Erst Minister Hartl war so vernünftig, daß er sich nicht fürchtete, all den Klagen und Denunziationen entgegenzutreten.

So hatte ich anfangs eine Menge Sorgen. Damals, ich glaube im Jahre 1884 oder so herum, geschah auch folgendes: Ich hatte in Wien einen Schüler gehabt, namens Flesch, den Sohn eines bekannten Brünner Fabrikanten. Er kam mir nach Prag nach und besuchte mich. Es war ein melancholischer Junge. Dann ging er nach Berlin weiter, und dort erschoß er sich. Mir vermachte er Geld. Ich erbte ungefähr 60 000 Gulden. Das hielt mich über Wasser. Ich konnte meine Schulden bezahlen, den Eltern helfen, meinem Bruder Ludwig in Hustopeč eine Druckerei einrichten, das »Athenaeum« herausgeben.

Lange reichte das Geld nicht aus. Und damals sagte man, ich hätte das Geld von einem Selbstmörder erhalten, weil ich den Selbstmord verteidigt hätte!

Ich machte mit Geld eine eigentümliche Erfahrung. Sooft es mir sehr schlecht ging, kam es von irgendwoher. Niemals bereitete es mir Sorgen, ob ich zu essen haben würde; ich glaubte daran, daß der Mensch, wenn er einem anständigen Ziele nachgeht, nicht ohne Hilfe bleiben könne. Wie Jesus sagt: »Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.« Ich liebe das Geld nicht, es war mir niemals Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, mag es sich um Hilfe für den Nächsten oder um dauerndes Kulturgut handeln. Heute gefällt mir an meiner Stellung vielleicht am besten, daß ich kein Geld bei mir zu tragen brauche. Ich habe nichts als ein Stückchen Bleistift in meiner Tasche und weiß kaum, wie unser Geld aussieht.

*

Bei meiner Ankunft in Prag kannte ich niemanden. Ich hatte niemals viele Freunde, ich bin dazu zu verschlossen. So verkehrte ich mit Kollegen, den Professoren Gebauer, Goll, Hostinský, Randa, Ott. Am liebsten war mir Gebauer; er imponierte mir und lehrte mich, methodisch zu arbeiten, zum Beispiel bei Notizen jede Idee auf ein eigenes Blatt Papier zu schreiben, und das Blatt dann in das Fach zu legen, in das es gehört. Gebauer gehörte zur Redaktion der »Národní Listy« und erteilte mir auch eine journalistische Lehre: es genüge nicht, für die Zeitung etwas zu schreiben, man müsse es immer aufs neue wiederholen. Der Journalist soll nicht zitieren, das und jenes sei schon geschrieben und gesagt worden, sondern es nochmals sagen, weil der Zeitungsleser sich nicht merkt, was er gelesen hat.

Einen sehr intimen Kameraden hatte ich an dem Maler Hanuš Schwaiger. Er war ein guter, unendlich guter Mensch, mit einem göttlichen Humor, der niemandem wehtat und ihm selbst das Leben und alle Not erleichterte. Mit ihm und seinen Freunden, dem Maler Pirner und Professor Klein, dem Archäologen der deutschen Universität, ging ich manchmal des Abends zu einem Glas Bier oder Wein. Als ich mich später gegen den Alkohol erklärte, schrieb mir der arme Schwaiger, der damals schon sehr krank war, ich hätte recht, auch er trete zu meinem Glauben über: »Ich höre auf zu trinken, weil ich nicht mehr kann.«

An der Universität war in unserer Fakultät anfangs natürlich Kvíčala der größte Herr, dann Tomek. Ich hielt mehr mit den jüngeren zusammen, mit Gebauer, Goll, Hostinský. Viele Lehrstühle an der tschechischen Universität waren noch unbesetzt. Eine gewisse gesellschaftliche Aristokratie bildeten die Nachkommen der nationalen Erwecker: der Sohn Čelakovskýs, der Botaniker, Frič, der Sohn Palackýs, der Geograph, den man »das scheu gewordene Lexikon« nannte. Die Studenten waren in den damaligen liberalen Ideen erzogen. Meine Antrittsvorlesung handelte über Hume und die Skepsis; ich rief Verwunderung damit hervor, daß ich die englische Philosophie einführte und den Jungen das Problem der Skepsis vorlegte und daran Kritik übte. Meine Kritik Kants und der deutschen nachkantischen Philosophie wurde von den Universitätskreisen ungern gesehen. Wie unglückselig war der antideutsche Ultrapatriotismus, der in Wirklichkeit eine Nachahmung des deutschen war! Als mich ein Studentenverein, ich glaube »Jungmann«, um einen Vortrag ersuchte, sprach ich über Blaise Pascal, um zu zeigen, daß die Religion nicht, wie man dem deutschen Liberalismus gemäß behauptete, tot sei, sondern ein Bedürfnis des menschlichen Herzens. Ich griff den liberalen Indifferentismus an. Für den damaligen Gebildeten galt die Religion als erledigte Sache, und man verstand nur schwer, wie sich jemand damit ernstlich befassen konnte.

Ein eifriger Lehrer war ich nicht; oft trug ich ungern vor. Ich spreche ungern öffentlich, und auch zum Schreiben muß ich mich zwingen. Es interessierte mich nicht, den Jungen auseinanderzusetzen, was andere schon geschrieben und gelehrt hatten; ich sagte ihnen, darüber gäbe es die und die Bücher, die sollten sie lesen, basta. Lieber stellte ich mit ihnen Betrachtungen über konkrete und gegenwärtige Fragen an. Am liebsten war mir, wenn sie mich fragten oder mit mir stritten: ich sah wenigstens, daß sie dachten und wie sie dachten, und lernte in mancher Hinsicht selbst etwas dabei. Wenn es im Lehrsaal nicht ging, so lud ich sie zu mir nach Hause ein. Aber das Lehren selbst fiel mir manchmal schwer.

Was für eine Gewissensfrage ist es, heranwachsende Menschen in moralischen Fragen zu belehren! Ja, jemanden im Lesen und Schreiben unterrichten, ihm allgemeine Erkenntnisse beibringen, darlegen, was schon erkannt und geschrieben ist, das ist etwas anderes, als die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß derjenige, der Sie hört, folgt und sich nach Ihren Worten richtet. Dann sind Sie für sein Leben verantwortlich, ob nun als Lehrer oder als Schriftsteller.

Manchmal, wenn ich zur Vorlesung ging und schon im Hof des Clementinums war, überkam mich ein derartiger moralischer Katzenjammer, daß ich nicht lesen konnte, ich konnte einfach nicht. Ich drehte mich auf der Ferse um und ließ den Jungen durch den Pedell bestellen, daß ich heute nicht könne.

Und vielleicht war ich auch darum kein richtiger Pädagoge, weil ich mein Leben lang nur mich selbst erzogen habe. Ich bin Individualist und Demokrat – im Leben und metaphysisch. Ich glaube, daß jede Seele der anderen gleich ist, jede Seele ihr Eigendasein, Selbständigkeit und ihr Eigenrecht hat. Die Menschen entwickeln sich gewissermaßen nebeneinander, jeder auf seine Weise; sie können aufeinander nicht anders wirken, wahrhaft wirken, als dadurch, daß der Gefährte den Gefährten kennt. Die Hauptsache ist, sich um sich selbst kümmern, sich selbst überwachen und vervollkommnen. Sache der andern ist es, zu bemerken, zu begreifen und für sich auszuwählen, was für sie geeignet ist. Das ist kein Egoismus, eher das Gegenteil. Selbständig sein, auf sich gestellt und selbstgenügsam, das bedeutet eben, daß man vom andern nicht verlangt, was man für sich selbst tun kann und soll. Es gibt nicht nur Hausbettelei, sondern auch moralische Bettelei. Ich habe immer gewollt, daß jeder über sich selbst Herr sei. Das gilt politisch, sozial und moralisch. Herr über sich selbst sein: das umfaßt die Freiheit und die Zucht.

*

Wir sind nicht mehr viele, die die achtziger Jahre in Prag gut im Gedächtnis bewahren. Heute erscheint uns diese Zeit groß, gemessen an großen Namen wie Rieger, Neruda, Vrchlický. Aber uns bedrückten mitunter die kleinen Verhältnisse, die kleinen Mittel, die wenigen Persönlichkeiten ... So sage ich mir auch heute manchmal, wenn mich die Kleinheit des Tages bedrückt: vielleicht werden in fünfzig Jahren den kommenden Menschen gerade diese Jahre im Licht einer Größe erscheinen, um die sie uns beneiden werden.

Ich bin kein laudator temporis acti; wenn ich mitunter lese, daß wir zu den »Idealen unserer Väter« zurückkehren sollen, so erinnere ich mich daran, wie es war, und sage mir, um wieviel näher wir heute den Idealen sind. Die Welt ist besser als damals; besonders unsere tschechische Welt hat so unermeßlich viel gewonnen – ich möchte jeden, der jammert und nörgelt, zur Strafe in jene achtziger Jahre zurückversetzen. Ich habe lange genug gelebt, um sagen zu können: Ich vertraue auf die Zukunft, auf die Entwicklung und den Fortschritt. Ich möchte sehen, wie das Leben in hundert Jahren ausschauen wird.

Seit dem Krieg schlafe ich schlecht und will die Nacht nicht immer bei einem Buch verbringen, es greift die Augen an. Da male ich mir nun Utopien aus, wie das Leben in zwanzig, in hundert Jahren werden mag. Es sind praktische Utopien; ich wähle das Beste von dem, was es schon heute gibt, und führe es ein wenig aus. Die Zukunft lebt schon unter uns; wenn wir das Beste und Fähigste von dem, was es heute gibt, wählen würden, so wäre das der richtige Weg, wir hätten unser Leben um ein Stück Zukunft erweitert!

Universität und andere Interessen

Als ich von Wien nach Prag ging, dachte ich nur an eine Professorenlaufbahn; ich fürchtete Konflikte und wäre ihnen lieber ausgewichen. Es ist nicht richtig, daß ich von Natur aus ein Kampfmensch bin. Niemals wollte ich im Vordergrund all der verschiedenen Affären und Polemiken stehen; gewöhnlich brachten mich andere hinein.

An unserer neuen Universität fand ich recht kleine Verhältnisse vor: keine Kritik, keinen Meinungsaustausch. Da ich sah, daß uns ein fachkritisches Organ fehlte, gründete ich die Monatsschrift »Athenaeum«; sie brachte Rezensionen heimischer und fremder Fachschriften, aber auch belletristischer Werke; für mich bildete ja die Belletristik stets eine ebenso wichtige Quelle der Erkenntnis wie die Wissenschaft. Das »Athenaeum« erschien ungefähr zehn Jahre. Es fehlte ihm viel, um eine gute Revue zu sein, aber es war wenigstens etwas.

Ich bemerkte auch, daß sich unsere neue Universität nicht genug um die Volksbildung kümmerte. Deshalb schlug ich vor, Kurse für breitere Kreise zu veranstalten, und hielt selbst solche Kurse und Vorträge ab. Ich schrieb, daß wir eine zweite tschechische Universität haben müßten. Ich sah, daß uns auch ein Lexikon fehlte; Riegers Wörterbuch war für seine Zeit gut gewesen, aber schon veraltet. Ich setzte mich mehr für eine wissenschaftliche Enzyklopädie ein, etwa wie die »Encyclopädia Britannica«, fand Mitarbeiter und einen Verleger. Aber der Handschriftenstreit Siehe oben S. 70. kam dazwischen.

Es wäre mir nicht eingefallen, mich in den Streit einzulassen, wenn Gebauer, mit dem ich bis dahin wenig verkehrt hatte, nicht gekommen wäre, um mich um den Abdruck eines Artikels im »Athenaeum« zu ersuchen, in dem er bewies, daß die sogenannte Königinhofer und die Grünberger Handschrift Fälschungen aus unserm Jahrhundert seien. Ich glaube, es kam so: Gebauer hatte seine Einwände gegen die Handschriften in einer Fachpublikation erhoben, und man hatte ihn deswegen in den Zeitungen angegriffen; da wollte Gebauer sich wehren. Ich nahm den Artikel selbstverständlich an. Einmal wußte ich, was für ein Gelehrter Gebauer war, außerdem glaubte ich selbst nicht an die Echtheit der Handschriften. Mir war die Frage der Handschriften vor allem eine moralische Frage: wenn es wirklich Fälschungen waren, so mußten wir das vor der Welt eingestehen. Unser Stolz, unsere Erziehung durfte nicht auf einer Lüge beruhen. Und dann: wir konnten unsere eigene Geschichte nicht richtig erkennen, solange wir über eine erdachte Vergangenheit stolperten. Das erschien mir selbstverständlich.

Daraus wurde ein Streit, der jahrelang dauerte. Philologen, Historiker, Paläographen, Chemiker stellten fest, daß die Handschriften Falsifikate waren; ich versuchte ästhetisch und soziologisch darzutun, daß sie nicht aus dem Mittelalter stammen konnten. Wir wurden bekämpft; die Zeitungen griffen uns an: wir wären nicht patriotisch und Verräter der Nation – nun, es war dumm. Dann gingen Vereine gegen uns los und sogar die Gasse. Einmal erwartete ich Schwaiger in einem Wirtshaus. Am Nebentisch saß ein Bruder Vojta Náprsteks Vojta Náprstek (1826-1894) war der verdienstvolle Gründer des Gewerbe-Museums in Prag. (Anm. d. Übers.), ein Brauereibesitzer; er kannte mich nicht und begann von mir zu reden, ich wäre von den Deutschen bestochen, um die tschechische Vergangenheit zu verunglimpfen, und derlei Dinge. Ich ließ ihn dabei und stachelte ihn noch auf – erst als ich fortging, sagte man ihm, wen er vor sich gehabt hatte. Ein andermal half ich Bürgern in der Straßenbahn den Verräter Masaryk beschimpfen. Das bereitete mir Spaß, aber es ärgerte mich, sooft ich sah, wie unaufrichtig manche Leute die Handschriften verteidigten: sie glaubten nicht an sie, fürchteten sich aber, es einzugestehen.

Mir brachten die Handschriftenkämpfe auch Gutes. Ich mußte das ganze Zeitalter studieren, in dem die Handschriften tatsächlich entstanden waren; ich las die ganze Wiedergeburtsliteratur, von Dobrovský angefangen. Dobrovský, das war ein prächtiger, gebildeter Mensch, der erste Tscheche von Welt in der neuen Zeit! Ich las Jungmann, Šafařík Hervorragende Sprach- u. Literaturforscher. (Anm. d. Übers.).

Eifrig grub ich mich durch die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts hindurch, um die Zeit der Entstehung der Handschriften und die Stimmung, aus der sie entsprungen, zu durchschauen: die Romantik, den Historismus, die Sehnsucht, sich mit anderen Nationen, namentlich mit den Deutschen, zu messen. Durch die Handschriften lernte ich unsere nationale Wiedergeburt kennen; das führte mich weiter in die Vergangenheit, in unsere Geschichte, zu unserer Reformation und Gegenreformation, und wieder vorwärts zu unsern nationalen Erweckern, zu Palacký, Kollár, Smetana, Havlíček. Dadurch wurde der Handschriftenstreit auch für mich ein politisches Ereignis: er führte mich in unsere politischen Probleme ein.

*

In die Konflikte wurde ich so beinahe zufällig verwickelt; jetzt sehe ich aber, daß mich die Umstände immer ins öffentliche Leben geführt haben und daß ich auch vom Katheder auf dieses öffentliche Leben zu wirken trachtete. Ich habe schon gesagt, daß mein »Selbstmord« eigentlich eine Philosophie der Geschichte ist, also auch eine politische Philosophie. Als ich über Hume und Pascal las und auf Comte hinwies, versuchte ich absichtlich die Aufmerksamkeit auf die französische und englische Philosophie hinzulenken, um aus der einseitigen deutschen geistigen Beeinflussung herauszukommen. Darum ließ ich die verkürzte Ausgabe von Comtes »Soziologie« und Sullys »Psychologie« übersetzen. »Die konkrete Logik«, die ich während der Ferien in Hustopeč schnell niederschrieb, war ein Versuch, Organisation und Ordnung in die Wissenschaften einzuführen. Auch in den Wissenschaften geht jeder Fachmann seiner eigenen Sache nach und hat mit den andern nichts gemein, so wie die Leute auf der Straße. Jede Organisation, jede Überwindung der Anarchie ist eo ipso Politik.

*

Das Problem, das mich damals am meisten interessierte, war das Slaventum. Das hatte ich, wenn auch unklar und gleichsam als Ahnung, schon in der Kindheit erlebt. Als Knabe zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie es käme, daß ich die polnischen Ulanen, die einige Zeit in Čejkovice lagen, verstand, obgleich sie einer andern Nation angehörten. Aus romantischer Sympathie zum polnischen Aufstand lernte ich als Gymnasiast polnisch.

Schon in Wien hatte ich mich in die russische Literatur eingelesen. In Prag nahm sie mich dann völlig gefangen. Ich darf sagen, daß damals nur wenige die russische Literatur so gut kannten wie ich. Dabei war ich bei Kollár auf die Slavophilie gestoßen; auch in unserer Politik gab es Slavophilen, aber ich merkte, daß sie ihr Slaventum nur im Munde führten, ohne es zu kennen. Ich studierte die russische Slavophilie: Kirějevskij, den Schellingianer, und am meisten Dostojewskij. An ihm erkannte ich, wie eng die russische Slavophilie mit der Orthodoxie verknüpft ist. Dostojewskij war Atheist. Er hat selbst einmal zu russischen Nihilisten gesagt: »Ihr wollt mir erzählen, was Atheismus ist?« Aber er wollte orthodox sein, wollte sich »zur Wahrheit durchlügen«. Ein vergebliches Beginnen! Niemand vermag zu seinem verlorenen Glauben zurückzukehren; er kann einen andern annehmen, aber den, den er verloren hat, wird er nicht wiederfinden. Darum empfand ich in der gewollten Orthodoxie Dostojewskijs etwas wie Jesuitismus. Mir ließ das keine Ruhe; ich wollte Rußland und die Orthodoxie aus der Nähe sehen.

Zum erstenmal ging ich im Jahre 1887 nach Rußland und ein Jahr darauf nochmals. Ich machte in Warschau halt, um auch die Polen kennenzulernen. Dann besuchte ich Petersburg, Moskau, Kiew und Odessa. Es interessierte mich, all die Straßen und Orte zu sehen, die ich so gut aus Dostojewskij, Tolstoj und den anderen Dichtern kannte. Ich fuhr dritter Klasse, auf dem Schwarzen Meer im Zwischendeck. Ich wollte unterm Volk sein, hatte auch nicht viel Geld. Ich kam mit slavischen Philologen zusammen, mit Lamanskij, Florinskij und andern. Lamanskij sagte mir gerade heraus, daß die Russen sich nur für die rechtgläubigen Slaven interessierten, höchstens noch für die Slovaken, weil sie ebenso naiv wären wie das russische Volk Gottes; uns Tschechen als Liberale und Westler ließen sie zum Teufel gehen. Ich besuchte russische Klöster und Einsiedeleien. Im Sergjejew-Kloster war ich Gast beim Vater Igumen. Ich bemerkte hier die Unbildung und den Aberglauben des Orthodoxentums. Und damit wollten die Slavophilen des Slaventum retten! Ich kam mit derselben Anschauung wie Havlíček aus Rußland: Liebe zum russischen Volk und Abneigung gegen die offizielle Politik und die herrschende Intelligenz.

Ich suchte Tolstoj auf. Ich hatte vorher keine Zeit gehabt, ihn so gründlich zu studieren wie Dostojewskij, und so wollte ich ihn persönlich kennenlernen. Das erstemal besuchte ich ihn in Moskau in seinem Palais. Ich erinnere mich, als wäre es heute, wie er mir geradezu stolz sein Arbeitszimmer zeigte; eine bäurische Zimmerdecke aus Holz, fast mit der Hand zu erreichen; aber diese Decke war nachträglich in dem hohen Herrschaftszimmer angebracht worden. In dieser Bauernstube ein Schreibtisch mit bequemem Lehnstuhl aus Leder, ein Diwan – in die Bauernstube paßte das entschieden nicht. Er hatte eine Schwarzwälder Uhr, die er anpries, weil sie nur 35 Kopeken gekostet hatte. Er trug ein Muschikhemd, Gürtel und Stiefel, die er selbst genäht hatte; selbstverständlich waren sie schlecht genäht. Zum Tee führte er mich in die Herrschaftszimmer – lauter roter Samt, wie es in den adeligen Häusern üblich war. Die Frau Gräfin schob ihm die gewohnten Konfitüren hin, er aber schlürfte, als hätte er es nicht bemerkt, den Tee nach Muschikart durch ein Stückchen Zucker. Nach dem Tee gingen wir in den Park. Wir sprachen über Schopenhauer, den Lew Nikolajewitsch schlecht verstand. Mitten im Gespräch blieb er wie ein Muschik am Feldrain stehen und forderte mich auf, ebenso zu tun – mir kam es gewollt, künstlich primitiv, unnatürlich vor.

Lew Nikolajewitsch lud mich dann auch nach Jasnaja Poljana ein. Ich fuhr von Tula in einer Kibitka hin. Der Steg vor dem Dorf war so morsch, daß die Pferde sich fast die Beine gebrochen hätten; wir mußten ihn umfahren. Vor Mittag traf ich im Schlosse ein. Man sagte mir, daß Lew Nikolajewitsch noch schlafe, er habe die ganze Nacht mit Tschertkow und den Gästen durchdebattiert. Ich ging inzwischen ins Dorf. Es war schmutzig und armselig. Vor einer Hütte arbeitete ein junger Muschik. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch und sah, daß er unter dem offenen Hemd einen Ausschlag hatte – eine Geschlechtskrankheit. In einer andern Hütte fand ich auf dem Ofen eine Greisin im Schmutz und ohne Hilfe liegen, dem Tode nahe.

Ich kehrte zu Tolstoj zurück. An jenem Tag war der junge Gay, ein Sohn des Malers, einer seiner Anhänger, zu ihm gekommen. Er hatte sich so sehr zur Einfachheit bekehrt, daß er zu Tolstoj weit her zu Fuß marschiert war, weil die Eisenbahn nicht muschikmäßig war; er kam so verlaust an, daß er sofort baden und sich reinigen mußte. Tolstoj sagte mir selbst, er habe aus dem Glas eines Syphilitikers getrunken, um ihm nicht seinen Abscheu zu verraten und ihn nicht zu erniedrigen. Daran hatte er gedacht, nicht aber daran, seine Bauern von der Ansteckung zu befreien. Und als er auseinanderzusetzen begann, wir müßten zur Einfachheit zurückkehren, wir müßten nach Muschikart leben, sagte ich zu ihm: »Und was bedeutet dieses ihr Haus und der Salon, die Lehnstühle und die Diwans? Und was dieses elende Leben Ihrer Bauern? Ist das die Einfachheit? Sie trinken zwar nicht, rauchen aber Zigarette auf Zigarette. Wenn schon Askese, dann konsequent. Der Muschik lebt armselig, weil er arm ist, nicht aber um Asket zu sein.« – Und ich sagte ihm, was ich in seinem Dorf gesehen hatte, die Unordnung, die Krankheit, den Schmutz und all dies. »Um des guten Gottes willen, sehen Sie das nicht? Sie, ein solcher Künstler, können das nicht beobachten? Selbst die Schuhe nähen, zu Fuß gehen, statt im Zuge zu fahren, das ist ein Totschlagen der Zeit. Wieviel Besseres läßt sich in derselben Zeit tun!« Ich zitierte ihm das englische Sprichwort: »Cleanliness is godliness« und unser tschechisches: »Reinlichkeit ist halbe Gesundheit.« Kurzum, wir konnten uns nicht verstehen. Die Gräfin war eine vernünftige Frau. Sie sah ungern, wie unvernünftig Tolstoj alles verschenkte; sie dachte an ihre Kinder. Ich kann mir nicht helfen, in ihrem Konflikt mit Lew Nikolajewitsch gab ich eher ihr recht als ihm.

Zum drittenmal besuchte ich Tolstoj kurz vor seinem Tode, im Jahre 1910. Da war er mit seiner Frau innerlich schon völlig auseinandergekommen. Er war sehr nervös und beherrschte sich nicht. In jener Zeit befand sich bei ihm und als Arzt im Dorfe unser Dr. Makovický. Er war für Tolstoj und seine Lehre eingenommen und notierte heimlich alles, was Lew Nikolajewitsch sprach.

Einfachheit, zur Einfachheit zurückkehren! Mein Gott, das Problem der Stadt und des Landes läßt sich nicht durch sentimentale Moral und nicht dadurch lösen, daß man den Bauern und das Land in allem als Vorbild hinstellt. Die Landwirtschaft industrialisiert sich heute auch schon, sie kann ohne Maschinen nicht auskommen, und der Bauer bedarf einer höheren Bildung als seine Vorväter. Über all dies sind auch bei uns noch viele unrichtige Anschauungen und vererbte Vorurteile verbreitet.

Wir stritten am meisten darüber, ob man dem Bösen widerstehen soll. Tolstoj begriff nicht, daß es sich nicht nur um gewaltsamen Widerstand handelt, sondern um den Kampf gegen das Böse auf der ganzen Linie. Er sah den Unterschied zwischen Verteidigung und Angriff nicht ein. Er glaubte zum Beispiel, daß tatarische Räuber bei einem Überfall, wenn die Russen ihnen keinen Widerstand leisteten, nach kurzem Morden von der Gewalt ablassen würden. Meine These lautete: Fällt jemand über mich her, um mich zu erschlagen, so werde ich mich wehren und werde, wenn ich mir nicht anders helfen kann, den Gewalttäter erschlagen. Wenn schon einer von uns beiden erschlagen werden soll, so mag es derjenige sein, der die böse Absicht hatte.

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Ich liebe das leere Gerede über das Slaventum nicht, ebenso wie ich das patriotische Gerede nicht liebe. Wieviele von unseren Slavophilen können denn auch nur russisch, polnisch, serbisch lesen? Ebenso die Leute, die den Mund damit vollnehmen, daß wir »das Volk des Hus« seien: wer von ihnen hat denn ein Stückchen aus den Werken von Hus gelesen, und nicht nur von Hus, sondern auch ein Buch aus der Brüderreformation? Wozu das Gerede! Ein normaler Mensch trompetet nicht in die Welt hinaus, er liebe seine Eltern, seine Frau, seine Kinder, das versteht sich für ihn von selbst. Liebst du dein Land, so brauchst du darüber nicht zu reden: Tu etwas Anständiges; um etwas anderes geht es nicht.

Ich weiß sehr gut, ein wie großes, aber auch ein wie schweres Programm das Slaventum bedeutet. Ich habe mich mit dem Studium Polens beschäftigt, habe Rußland studiert, arbeitete politisch mit Kroaten und Serben zusammen, bin mehr als ein halber Slovak und schon vor fünfzig Jahren mit einem slovakischen Programm hervorgetreten. Selbstverständlich hätte ich das nicht ohne Liebe getan; der Mensch ist nun einmal so, daß er gern seinem Herzen folgt; gerade deshalb redet er nicht von der Liebe, sondern trachtet mit dem Verstand zu helfen.

Mich hinderte immer eine gewisse Scham, Worte wie »Vaterland« und »Volk« auszusprechen. Ich preise mich nicht als Patrioten an, ich schreie nicht, der andere sei ein Landesverräter; ich muß geduldig beweisen, daß sein Weg aus den und den Gründen verfehlt sei. An großen Schlagworten können Menschen sich berauschen, nicht aber durch sie arbeiten lernen. Wir haben uns von einer despotischen Herrschaft befreit, nun müssen wir uns noch von großen und despotischen Worten befreien.

Es ist wahr, daß die Menschen sich nicht nur in der Politik, sondern auf allen anderen Gebieten, in der Religion, Wissenschaft, Philosophie an Worte klammern. Darum habe ich immer auf die Dinge Wert gelegt, auf die Beobachtung und die Erkenntnis der Tatsachen. Aber um gut zu beobachten und zu erkennen – dazu bedarf es der Liebe.

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Masaryk in seiner Bücherei (1913)


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