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3. Kapitel

Pünktlich zur festgesetzten Zeit stellte sich Ferrars bei Harding ein und nach kurzer Beratung beschlossen sie, vor allem den Besitzer der Droschke Nr. 207,130 aufzusuchen. Da sie beide die Londoner Verhältnisse gut kannten, so bereitete ihnen dies keine Schwierigkeit. Der Mann wohnte in jener Gegend zwischen Guildford und Bernardstreet, die den Namen »Die Kolonnade« trägt und zu den eigenartigsten Teilen der inneren Stadt gehört.

Die Kolonnade besteht aus zahlreichen Stallungen, deren gepflasterte Höfe stets mit allerhand kleinem Fuhrwerk der Gemüse- und Obsthändler angefüllt sind, zwischen denen sich Hühner, Gänse, Katzen und Kinder in friedlicher Eintracht tummeln. An der einen Seite der unansehnlichen, altersgrauen Gebäude läuft ein gedeckter Bogengang, von dem einige Stufen auf die enge Straße hinabführen. In den über den Ställen befindlichen Wohnungen hausen zum größten Teil Wäscherinnen, die ihre Seile zum Trocknen der Wäsche von Pfosten zu Pfosten spannen und damit das wenige Licht, das in die niederen Stuben dringen kann, fast völlig absperren.

Leute aus der Gesellschaftsklasse Hardings und Ferrars verirrten sich nur selten hierher und so war es kein Wunder, daß die beiden Freunde vielen teils neugierigen, teils mißtrauischen Blicken begegneten. Nach längerem Fragen – man gab ihnen nur ungern Auskunft – fanden sie endlich das Haus des Lohnkutschers.

An der Tür stand eine blasse, verhärmt aussehende Frau, deren Gesicht Spuren von Mißhandlung zeigte.

»Ist Herr Ruggins zu Hause?« redete Harding die Frau an.

»Ja,« entgegnete diese schüchtern, »aber er – er ist nicht ganz wohl.«

»Was fällt Dir ein, alte Krähe, mir die Kunden wegzuscheuchen?« schrie eine branntweinheisere Stimme vom Hausflur her. Gleich darauf trat die stämmige, untersetzte Gestalt eines Mannes auf die Straße hinaus.

»Mach' daß Du fortkommst!« herrschte er die scheu zurückweichende Frau mit drohend erhobener Faust an, und sich zu Harding wendend, fuhr er in gemäßigterem Tone fort: »Ist kein Wort wahr, was das Weib sagt, – bin munter wie'n Fisch im Wasser und so nüchtern wie'n Minister im Parlament.«

Dieser letztere Vergleich hinkte zwar bedenklich angesichts des vom Trunk stark aufgedunsenen Gesichtes des Sprechers, aber Harding ließ sich auf keine Berichtigung ein, sondern ging direkt auf sein Ziel los.

»Wir wünschen nur eine gefällige Auskunft von Ihnen,« sagte er höflich. »Wenn ich nicht irre, sind Sie der Eigentümer der Droschke Nr. 207 130.«

»Ja, der bin ich,« erwiderte Ruggins, die beiden Freunde argwöhnisch musternd. »Was wollen Sie wissen?«

»Wir möchten fragen,« begann Harding, doch Ferrars unterbrach ihn, indem er selbst das Wort nahm. »Ein Freund von uns mietete für Sonntag morgen Ihren Wagen und versprach abends zu uns zu kommen, hat sich aber nicht blicken lassen. Wir sind nun um ihn besorgt und wollten deshalb bei Ihnen nachfragen, ob Sie das Fuhrwerk wieder zurückerhalten haben.«

»Ah, Sie sprechen von Herrn Brown?« entgegnete Ruggins, zutraulicher werdend. »Ja, ja, der Wagen kam gestern abend, aber ich war nicht recht munter und so sagte der Herr, er werde heute morgen wiederkommen, um das Geld, das er hinterlegte, zu holen.«

»Ah, er ließ ein Pfand zurück?« warf Harding erstaunt ein. »Dann gab er Ihnen wohl auch seine Adresse?«

»Pah!« lachte Ruggins verächtlich. »Halten Sie mich für so einfältig, daß ich dem ersten Besten Wagen und Pferd für ein paar Schillinge und eine Adresse überlasse? So dumm ist Peter Ruggins nicht. Der Mann gab mir die beste Garantie, die sich denken läßt – die Bank von England. Da schauen Sie her – eine 50 Pfund-Note als Sicherheit und ich bekomme zwei Goldfüchse für die Benutzung des Wagens. Den hat er auch pünktlich am Nachmittag wiedergebracht, aber ich konnte momentan die hinterlegte Banknote nicht finden, denn meine Frau hatte sie eingeschlossen und war ausgegangen. »Das schadet nichts!« sagte der Herr Brown zu mir, »ich komme wieder, 's ist nur fatal, daß ich kein Kleingeld bei mir habe und die Banken heute geschlossen sind. Wär' mir lieb, wenn Sie mir 1-2 Pfund auf die Note geben könnten; das ziehen wir dann morgen ab.«

»Na, wir tranken eins zusammen – und ich gab ihm so viel er brauchte. Da, meine Herren, ist die Banknote; Herr Brown muß jetzt gleich kommen.«

Harding warf seinem Freund einen triumphierenden Blick zu, als wollte er sagen: »Jetzt haben wir den Vogel im Netz!« Ferrars jedoch schien diese Zuversicht nicht zu teilen, denn er forderte Ruggins auf, ihm die Banknote zu zeigen. Verblüfft starrte der Mann ihn an. »Nun,« beruhigte ihn Ferrars, »Sie werden doch nicht denken, daß ich sie Ihnen stehlen will?«

Kopfschüttelnd hielt ihm Ruggins den Schein hin. Ferrars betrachtete die Banknote sorgfältig von allen Seiten, dann gab er sie mit den Worten zurück: »Diesen Herrn Brown werden Sie schwerlich jemals wiedersehen. Sollte er dennoch auftauchen, so übergeben Sie ihn sofort der Polizei, denn der Schein ist gefälscht. Sie sind da mal gründlich hereingefallen.«

Das blaurote Gesicht des Lohnkutschers wurde kreideweiß. »Was?« stotterte er. »Sie meinen, der Schein wäre falsch und ich hätt' noch obendrein 2 Pfund verloren?«

»Stimmt aufs Haar!« nickte Ferrars. »Gebe Ihnen den guten Rat, sich künftig vor Schwindlern in Acht zu nehmen. Guten Morgen!« Und ehe der noch halb Betrunkene sich von seiner Bestürzung erholt hatte, waren die beiden Freunde schon um die nächste Straßenecke verschwunden. Ihre Stimmung war allerdings auch nicht die beste, denn der erste Schritt, den sie zur Entdeckung Herrn Windhams unternommen, hatte zu keinem befriedigenden Resultate geführt.

»Was jetzt?« fragte Harding, sobald sie die Kolonnade hinter sich hatten. »Ich gestehe, dieser Gang hat mich arg enttäuscht. War so fest überzeugt, den Entführer Herrn Windhams durch den Lohnkutscher ausfindig machen zu können. Und nun dieses Fiasko.«

Ferrars drehte gelassen die Spitzen seines Bärtchens. »Pah, mich entmutigt das nicht im geringsten, wenn es mir auch zeigt, daß wir es mit einem schlauen Schurken zu tun haben, der sich nicht so leicht wird fangen lassen. Was mich bei der Geschichte amüsiert hat, ist die Art und Weise, wie dieser sogenannte Brown den Trunkenbold Ruggins übers Ohr gehauen hat. Nicht nur den Wagen bekam er umsonst – er profitierte auch noch zwei Pfund bei dem Handel. Wirklich ein gottvoller Spaß! Ha, ha!«

Harding schien den Humor der Situation nicht in gleichem Maße zu empfinden. »Ich möchte dem Kerl den Hals brechen!« knirschte er ingrimmig. »Wohin gehen wir nun?«

»Selbstverständlich zu Woodrett und Fender. Vielleicht erfahren wir dort, wie der Schlaufuchs es fertig brachte, den leeren Milchhof zu kapern, um dort den Wagen zu verbergen, bis er ihn brauchte. Wir müssen uns natürlich stellen, als ob wir den Laden mieten wollten.«

Die Herren Woodrett und Fender befaßten sich mit Vermietungen aller Art und das Geschäft hatte dem Anschein nach eine große Ausdehnung. Erst nach geraumer Weile konnten die Freunde ihr Anliegen vorbringen.

»Ich fürchte,« erklärte der sie bedienende Kommis, »der Laden ist bereits vermietet.«

»An einen Herrn Brown?« fiel Harding rasch ein.

Der Kommis sah ihn überrascht an. »Brown? O nein, an eine Frau Maguire aus Birmingham. Sie kam Sonnabend nachmittag gerade vor Geschäftsschluß und da sie sehr gute Referenzen vorwies, so überließen wir ihr die Schlüssel, die sie heute zurückzubringen versprach.«

»War sie schon da?«

»Nein, noch nicht; kann aber jeden Augenblick kommen.«

»Darf ich fragen, wie Frau Maguire aussieht?« sagte Ferrars. »Ich bin mit vielen Personen aus dem Milchgewerbe bekannt; vielleicht würde ich sie nach Ihrer Beschreibung erkennen, obgleich der Name mir fremd ist.«

»Sie sah sehr gut aus,« berichtete der Kommis, »war schlank und hatte dunkles, fast schwarzes Haar.«

»Wie alt ungefähr?«

»Hm,« entgegnete der Beamte lächelnd, »das Alter einer Frau anzugeben ist immer eine kitzliche Sache. Dem Äußeren nach mochte diese sechsunddreißig oder vierzig Jahre zählen.«

»O, danke!« nickte Ferrars. »Die Frau kenne ich nicht. Jetzt hätte ich gern noch einen der Chefs gesprochen.«

»Viel Nutzen hat das nicht,« wandte der Kommis ein, »denn wir sind gebunden, bis wir Nachricht von Frau Maguire erhalten haben.«

»Einerlei!« beharrte Ferrars, »ich möchte Herrn Woodrett sprechen.«

Ohne weiteren Widerspruch führte der Kommis die Freunde in das Privatbureau seines Chefs. »Der Zweck unseres Besuches,« nahm Ferrars das Wort, »ist ziemlich delikater Natur. Um es kurz zu machen – wir glauben, daß Sie von einer bestimmten Person betrogen worden sind.«

Herr Woodrett lächelte sarkastisch. »Das ist mir neu,« entgegnete er in ungläubigem Ton. »Ich gelte allgemein für einen tüchtigen Geschäftsmann, dem niemand so leicht ein X für ein U machen kann. Vielleicht haben Sie die Güte, sich etwas deutlicher zu erklären.«

»Gewiß,« versetzte Ferrars. »Ihr Angestellter übergab die Schlüssel eines zu vermietenden Milchladens einer gewissen Frau Maguire unter der Bedingung, sie bis heute wieder abzuliefern. Natürlich ist dies nicht geschehen und ich bin fest überzeugt, daß die betreffende Person Ihnen die Schlüssel nicht zurückbringen wird.«

»Sie sprechen ja sehr bestimmt, mein Herr,« bemerkte der Häuseragent, »ich sehe aber nicht ein, aus welchem Grund jemand ein Bund wertloser Schlüssel stehlen sollte, da die Räume doch vollständig leer sind.«

»Die Sache läßt sich erklären,« gab Ferrars zurück. »Es hat sich nämlich in der Gegend des Milchladens etwas Seltsames ereignet. Ein reicher, angesehener Mann ist plötzlich verschwunden und der Wagen, in dem er entführt wurde – ich kann keine andere Bezeichnung dafür finden – war bis zum Augenblick der Benutzung in dem an den leeren Milchladen stoßenden Hofraum untergebracht.«

»Können Sie für die Richtigkeit Ihrer Behauptung bürgen?« fragte Herr Woodrett, der mit steigender Aufmerksamkeit zugehört hatte.

»Vollkommen,« versicherte Ferrars. »Ein glaubwürdiger Zeuge hat den Herrn gesehen, wie er mit einem Fremden den Hofraum betrat und nachher in einem Wagen von dort fortfuhr.«

Der Agent drückte auf einen elektrischen Knopf. »Hat eine gewisse Frau Maguire,« fragte er den eintretenden Kommis, »die am Sonnabend hier war, die ihr übergebenen Schlüssel zurückgebracht?«

»Nein, noch nicht,« lautete die Antwort. »Nach ihrem Versprechen hätte sie schon vor einer halben Stunde hier sein müssen.«

Herr Woodrett überlegte einen Augenblick. »Wie ist es, meine Herren,« wandte er sich dann zu den Freunden, »würden Sie mich zu dem Milchladen hinbegleiten? Die Geschichte erscheint mir so mysteriös, daß es sich wohl verlohnt, sie näher zu untersuchen.«

Die jungen Leute erklärten sich bereit und so fuhren die drei nach dem Ort, wo Herr Windham zuletzt gesehen worden war. Die nähere Inspektion der Lokalitäten ergab, daß das Vorlegeschloß an dem nur leicht zugeklinkten Hoftor fehlte. Es lag mitsamt den Schlüsseln einige Schritte entfernt in einer Ecke, als sei es achtlos bei Seite geworfen worden.

»Wirklich sehr sonderbar!« bemerkte Herr Woodrett. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das Einzige, was man tun könnte, wäre, den Platz durch die Polizei überwachen zu lassen. Viel nützen würde es wohl nicht, denn es ist kaum anzunehmen, daß die Gauner noch einmal hier auftauchen.«

Ferrars war der gleichen Meinung und nachdem er Woodrett gebeten, durch seinen Kommis eine genaue Personalbeschreibung der Frau Maguire an Hardings Adresse zu senden, traten die Freunde den Heimweg an.

»Die Geschichte wird immer verwickelter,« bemerkte Harding, als er, in seiner Wohnung angelangt, die Ergebnisse des Morgens mit Ferrars besprach. »Wer ist diese Frau Maguire und was für eine Rolle spielt sie in dem rätselhaften Vorgang?«

»Die Frage kann ich Dir leider nicht beantworten,« entgegnete Ferrars. »Ohne Zweifel bediente sich der Gauner ihrer, um die Schlüssel zu dem Hof zu erhalten, der sich seiner Lage nach am besten zur Aufnahme des Wagens eignete, vermittelst dessen Herr Windham fortgebracht wurde.«

»Was konnte letzteren nur veranlassen, mitzugehen?«

»Ah, wenn wir das wüßten, wären wir auch schon auf seiner Spur. Vorläufig müssen wir ruhig warten, da uns jeder Anhaltspunkt fehlt. Ich denke aber früher oder später wird der Vermißte doch ein Lebenszeichen von sich geben und vielleicht an Fräulein Burton schreiben. Du stehst sicher noch in Verbindung mit der jungen Dame – trotz der strengen Quarantäne?«

Harding errötete leicht und gestand, daß er verabredet habe, Evelyn am nächsten Tag in der Sahara-Street zu treffen.

»Sehr recht!« nickte Ferrars. »Laß mich das Resultat Eurer Zusammenkunft wissen und inzwischen werde ich über einen neuen Operationsversuch nachdenken.«

Niedergeschlagen und mißmutig verbrachte Harding die nächsten Stunden, beständig über das Geschehene nachgrübelnd, das er sich doch nicht zu erklären vermochte.

Gegen Abend brachte der Postbote drei Briefe, deren einer nicht frankiert war. Mechanisch griff er nach dem ersten, weil er die Handschrift seiner Braut erkannte. Das Billett erhielt nur drei Zeilen, die ihn aber in die größte Bestürzung versetzten.

»Ich bitte Dich dringend,« schrieb Evelyn, »versäume nicht, mich in der Sahara-Street zu treffen. Ich muß Dich durchaus sprechen, denn ich bedarf Deines Beistandes.«

»Gütiger Himmel, was ist denn dort wieder geschehen?« murmelte Harding vor sich hin. »Wäre es doch schon morgen!«

Seufzend griff er nach dem zweiten Brief, für den er hatte Strafporto zahlen müssen. Sonderbar genug sah das Schreiben aus: ein grobes Stück Papier ohne Kuvert, nur mit einer Oblate geschlossen, die Adresse in sehr unsicherer Handschrift mit Bleistift geschrieben. Der Inhalt lautete:

»Bin noch in der Gewalt meines Feindes; werde streng bewacht. Hoffnungslose Lage; vielleicht für immer verschollen. Sorge für Evelyn. Ich schreibe bald wieder, wenn möglich. Percy W.«

Harding schüttelte den Kopf, als er dies las. »Die Geschichte wird immer unerklärlicher,« dachte er, nach dem dritten Schriftstück greifend. Es kam von Woodrett und Fender und erhielt die gewünschte Beschreibung der Frau, die den Milchladen hatte mieten wollen. »Schlanke Figur, regelmäßige Gesichtszüge, kleiner Mund, dunkle Augen, schwarzes Haar, Alter etwa siebenunddreißig,« las Harding. »Nun hört aber alles auf!« rief er mit bestürzter Miene aus. »Abgesehen vom Alter paßt diese Beschreibung genau auf Evelyn! Wie soll man daraus klug werden?«

Mit begreiflicher Ungeduld erwartete er den folgenden Tag. Die Sorge um seine Braut verscheuchte den Schlaf von seinen Lidern und immer wieder fragte er sich, welchen Quälereien das junge Mädchen von Seiten ihrer Tante ausgesetzt sein müsse, daß sie sich hilfesuchend an ihn wandte.

Lange vor der verabredeten Zeit schritt er unruhig die Sahara-Street auf und ab, beständig die Uhr hervorziehend und die Straße entlang spähend. Endlich gewahrte er Evelyns graziöse Gestalt, die rasch auf ihn zu eilte. Ihr bleiches Gesicht, ihre verweinten Augen fielen ihm sofort auf.

»Evelyn, mein Lieb, was hast Du?« fragte er besorgt. »Du siehst ja ganz verändert aus.«

»Ach, Ambrose,« seufzte sie, »Du weißt nicht, wie schrecklich mir zu Mute ist! Komm' hinüber in den Park, da sind wir ungestörter als hier. Ich werde Dir alles erzählen.«

Schweigend zog er ihren Arm durch den seinen und geleitete sie an eine abgelegene Stelle des um diese Stunde ohnehin nicht sehr besuchten Gartens.

»Nun sprich!« bat er, sich mit ihr auf einer Bank niederlassend. »Sag' mir offen, was Dich quält.«

»Siehst Du, Ambrose,« begann Evelyn, die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, gewaltsam zurückdrängend, »ich bin so unglücklich, ich kann es zu Hause nicht mehr aushalten.«

»Was ist denn vorgefallen?« warf Harding ein.

»Höre zu! Den ganzen Sonntag, nachdem Onkel Percy verschwunden war, tat die Tante nichts anderes, als auf ihn schimpfen. Sie behauptete, er sei ein ganz schlechter Mensch, ein Heuchler, der sie betrüge und heimlich fortgegangen sei, um sich unerlaubter Weise zu amüsieren. Ich konnte das zuletzt gar nicht mehr mit anhören, denn Onkel Percy ist doch die Gutmütigkeit selbst, der alles geschehen läßt und der Tante nie widerspricht.

Zu Mittag hatte sie gar noch den Reverend Mauler eingeladen und obgleich dieser sie scheinbar zu besänftigen suchte, indem er sie ermahnte, nicht vorschnell zu urteilen, merkte ich doch, daß er ihre Ansicht über Onkel Percy teilte.

Ich ging nachher in die Bibliothek hinüber. Bald darauf kam Tante Leah herein und hielt mir eine lange Rede. Sie erklärte, in Onkels Abwesenheit habe sie die Verantwortlichkeit für mich und halte es für ihre Pflicht, mir die Augen zu öffnen. Ich würde mein ganzes Leben ruinieren und tief unglücklich werden, wenn ich Dich heiratete. Sie wolle mir nicht alles sagen, was sie über Dich gehört habe, aber aus Besorgnis um mein Wohl müsse sie entschieden darauf dringen, mich von Dir frei zu machen. Wenn ich vernünftig sei, könne ich ihr nur dankbar sein und ich verlöre nichts dabei, denn sie habe eine weit bessere Partie für mich in Aussicht. Ich hatte so wenig Lust, mich mit ihr zu zanken, daß ich zu allem schwieg und das verleitete sie wahrscheinlich zu der Annahme, ihre Worte hätten Eindruck auf mich gemacht.

Nach einer Weile – sie hatte sich wieder entfernt – kam der Reverend zu mir, sprach mir erst allerhand Tröstendes wegen Onkel Percy zu und schließlich – ja, was meinst Du wohl – schließlich machte er mir einen Antrag!«

Sie hielt einen Augenblick inne; die Erinnerung daran trieb ihr noch jetzt das Blut in die Wangen. Auch Harding war entrüstet aufgefahren, beherrschte sich aber rasch wieder, um die Geliebte nicht noch mehr aufzuregen.

»Der Reverend behauptete,« fuhr Evelyn fort, »er habe mich schon lange im stillen geliebt, es aber nicht gewagt, mir seine Gefühle zu verraten, bis er nun von meiner Tante dazu ermutigt worden sei. Du kannst Dir denken, Ambrose, wie entrüstet ich war und wie ich ihn abfertigte. Er nahm meine schroffe Zurückweisung aber sehr ruhig auf und sagte, in Anbetracht der Verhältnisse werde er natürlich nachsichtig sein, jedoch nicht ablassen, bis er mein sprödes Herz gewonnen und mich überzeugt habe, daß ich mit einem ehrlichen, soliden Mann weit glücklicher werden würde als mit einem Menschen, der schlecht und ohne moralische Grundsätze sei.

Der Gedanke, mich nun unausgesetzt von seinen Liebeswerbungen verfolgt zu sehen, dazu tagtäglich von der Tante Hetzereien gegen Dich zu hören, war mir so unerträglich, daß ich mir nicht anders zu helfen wußte, als Deinen Beistand anzurufen.«

»Du hast sehr recht getan, Dich an mich zu wenden,« nicke Harding, ihr die Hand streichelnd. »Ich begreife vollkommen, wie peinlich Dir das Zusammenleben mit Frau Windham jetzt sein muß und wenn ich Dir raten darf, so solltest Du bis zur Rückkehr Deines Onkels eine andere Unterkunft suchen. Du könntest dies ruhig tun,« fügte er hinzu, als er ihrem zweifelnden Blick begegnete, »denn wie Du ohne Zweifel weißt, hat Frau Windham keine gesetzliche Macht über Dich.«

»Wohl möglich,« gab Evelyn zu, »allein was soll ich anfangen? Onkel Percy sagte mir zwar einmal, ich hätte ein bestimmtes jährliches Einkommen, ich habe mich aber nie weiter darum gekümmert und momentan besitze ich nicht mehr als 15 Pfund. Damit läßt sich doch nichts machen.«

»Das laß Deine geringste Sorge sein,« entgegnete Harding rasch. »Viel schwieriger ist die Frage, wo Du die kurze Zeit über bleiben kannst, bis Du meine Frau wirst.«

»O, Ambrose!« flüsterte Evelyn in lieblicher Verwirrung.

»Es ist der einzige Ausweg, Liebchen, um Dich vor den Quälereien Deiner Tante zu schützen,« erklärte Harding unwillkürlich lächelnd. »Herr Windham hat ja auch seine Zustimmung zu unserer Verbindung gegeben – was schadet es also, wenn wir unter den obwaltenden Umständen unsere Hochzeit ein wenig beschleunigen. Natürlich müssen wir noch einige Wochen warten und ich weiß wirklich nicht, wo Du inzwischen bleiben könntest, denn meine Angehörigen sind augenblicklich verreist. Ah, da fällt mir ein – Ferrars hat mir wiederholt von einer Frau Ponsonby-Carter gesprochen. Bei ihr wärst Du vielleicht am besten aufgehoben.«

Evelyn schaute fragend zu ihm auf. »Wer ist das?«

»Eine Dame, die mein Freund Ferrars kennt,« entgegnete Harding. »Sie hält eine feine Pension in Bloomsbury und soll eine gutmütige kleine Frau sein. Ich werde gleich heute mit Ferrars sprechen. Könntest Du Dich dann bis Donnerstag bereit halten?«

Das junge Mädchen zögerte mit der Antwort; es war doch kein leichter Entschluß, das Haus des Onkels in so eigenmächtiger Weise zu verlassen.

»Vertraust Du mir nicht, Evelyn?« fragte Harding sanft. »Ich möchte doch nur Dein Bestes.«

In raschem Impuls legte Evelyn ihre kleine Hand in die des Geliebten. »Wäre das rechte Liebe,« sagte sie leise, »wenn ich nicht das vollste Vertrauen zu Dir hätte? Ich werde blindlings tun, was Du mir rätst.«

»Nun gut! Wenn meine Briefe nicht etwa unterschlagen werden, so wirst Du bis Donnerstag morgen von mir hören. Hast Du keine Nachricht, darfst Du annehmen, daß man sie Dir vorenthalten hat. Auf jeden Fall begib Dich gegen elf Uhr wieder hierher an den Briefkasten in der Saharastraße. Da wirst Du einen jungen Mann meines Alters mit blauen Augen und blondem Bärtchen finden – –«

»Kommst Du nicht selbst, Ambrose?« unterbrach sie ihn betroffen.

»Nein; es ist besser, ich halte mich bei dieser Gelegenheit fern. Dein guter Ruf liegt mir zu sehr am Herzen – es darf auch nicht der leiseste Schatten darauf fallen. Mein Freund Ferrars wird Dich gemeinsam mit Frau Carter erwarten und nach deren Wohnung begleiten. Du darfst ihm ruhig vertrauen.«

»Wirklich?«

»Gewiß. Er ist mein bester Freund, der zuverlässigste, ehrenhafteste Mensch, den ich kenne. Deshalb vertraue ich ihm auch unbesorgt mein Liebstes an, Dich, meine Evelyn.«

»Aber wie kann ich meine Sachen fortschaffen?« stellte Evelyn diese echt weibliche Frage.

»Ja, da heißt es schon, sich ein Weilchen von ihnen zu trennen,« erwiderte Harding. »Du mußt das Haus ganz einfach, als gingest Du Einkäufe machen, verlassen, um keinen Verdacht zu erregen. 's ist ja nicht für lange, Schätzchen, und wer weiß, ob nicht Dein Onkel unerwartet bald zurückkehrt. Dann haben alle Heimlichkeiten mit einem Schlag ein Ende. Sei also herzhaft, mein Lieb,« fügte er ermutigend hinzu, »sage mir, daß Du zustimmst und daß Du, sobald es geht, die Meinige werden willst.«

Er sah sie so innig, so bittend an, daß sie ihm ohne Zögern die Hand gab und obgleich sie nicht sprach, las er doch in ihren Augen die Gewährung dessen, was er ersehnte.

Als er Evelyn dann auf einem Umweg nach dem Deseret-Sqare begleitete, fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend: »Ist Dir unter Deinen Bekannten nie eine Frau begegnet, die Dir selbst sehr ähnlich sah?«

Das junge Mädchen blickte ihn verwundert an. »Nein, ich entsinne mich nicht. Weshalb fragst Du?«

»Hat Dein Onkel auch niemals erwähnt, daß er eine Frau kannte, etwas älter als Du, aber Dir seltsam ähnlich?«

Evelyn verneinte abermals.

»Sonderbar!« bemerkte Harding. »Eine Frau, die bei dem Verschwinden Deines Onkels eine Hauptrolle spielt, ist nach der Beschreibung Dir so ähnlich, daß ich ganz verblüfft bin.« Er erzählte ihr von seinem Besuch bei Woodrett und Fender und von dem vergeblichen Bemühen, etwas über den Verbleib Herrn Windhams zu erfahren.

An der Ecke des Deseret-Sqare trennten sich die Liebenden. »Du kommst also bestimmt?« fragte Harding nochmals, als fürchte er, Evelyn könne ihren Vorsatz doch noch, von der Tante beeinflußt, ändern.

Sie schien seine Gedanken zu erraten, denn sie erwiderte ernst und bestimmt: »Sei unbesorgt, Ambrose – ich komme!«


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