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1. Kapitel

Ein heller Sonntagmorgen im Juli. Die Straßen und Plätze Londons von flimmerndem Sonnenlicht überflutet; in den Gärten und Parkanlagen der Stadt lustiges Vogelgezwitscher und die Luft erfüllt von dem harmonischen Glockengeläut zahlreicher Kirchen und Kapellen. Allüberall die für England so charakteristische Sonntagsruhe, die selbst nicht durch das Kläffen eines herrenlosen Hundes, das Pfeifen und Johlen eines halbwüchsigen Straßenjungen gestört wird.

Etwas abseits von dem Lärm der Metropole liegt der stille Deseret-Square, hauptsächlich von reichen Geschäftsleuten der City bewohnt. Inmitten des großen Platzes befindet sich ein mit Bäumen, Gebüschen und bunten Blumenbeeten bepflanzter, mit hohem Eisengitter umgebener Garten, zu dem nur die Anwohner des Square Zutritt haben.

Die hier gelegenen Häuser zeichnen sich nicht eben durch ornamentalen Baustil aus; im Gegenteil, sie machen einen nüchternen, monotonen Eindruck, in keiner Weise den Reichtum und Luxus ihrer inneren Ausstattung verratend. Unter ihnen fällt ein ansehnliches zweistöckiges Gebäude – die Nr. 140 – durch seine peinliche Sauberkeit auf. Schon von weitem sieht man den Messinggriff der Haustür, das Schild am Briefkasten blitzen; die Treppenstufen glänzen wie polierter Marmor und auf den mit methodischer Genauigkeit zur Hälfte herabgelassenen Jalousien ruht kein Stäubchen.

Peinlichste Ordnung und Sauberkeit herrscht auch im Innern des Gebäudes, in jedem Winkel vom Dach bis zum Keller, Zeugnis ablegend, daß hier eine tüchtige Hausfrau, eine strenge Herrin das Zepter führt.

Und streng sah sie allerdings aus, diese Herrin, als sie an dem genannten Sonntagmorgen ihre Gemächer im ersten Stock verließ und sich über die breite teppichbelegte Treppe nach dem großen Speisesaal im Erdgeschoß begab, um dort mit den Ihrigen und der Dienerschaft die Morgenandacht zu verrichten.

Frau Windham, die Gattin eines reichen Bankiers, war von großer, etwas eckiger Gestalt, mit auffallend energischen Gesichtszügen, die nichts Sympathisches besaßen. Ein herrschsüchtiger, unduldsamer Zug lag um die dünnen Lippen; die Nase war lang und spitz, der Blick der grauen Augen hart und durchdringend. Die Dame trug ein Kleid von schwerer schwarzer Seide mit kostbarer Spitzengarnitur. Ein schwarzes Spitzenhäubchen deckte das glattgescheitelte graue Haar.

»Nun Evelyn, wo ist Onkel Percy?« wandte sie sich beim Betreten des Saales zu einem hübschen jungen Mädchen von neunzehn Jahren, das bereits mit einem Teil der Dienerschaft anwesend war. »Ich glaubte, er sei schon hier.«

»Nein, Tante Leah,« entgegnete die Angeredete. »Onkel ist noch nicht heruntergekommen. Soll ich hinaufgehen und an sein Zimmer klopfen?«

Die Dame schüttelte mißbilligend den Kopf, indem sie halblaut vor sich hinmurmelte: »Unglaublich! Gerade am Sonntag so wenig pünktlich zu sein – und das den Dienstboten gegenüber!« Laut fügte sie hinzu: »Ja, Evelyn, sieh nach, wo er bleibt, und sag' ihm, daß wir auf ihn warten.«

Leichtfüßig eilte das junge Mädchen die Treppe hinauf, kehrte aber mit einem Ausdruck der Enttäuschung zurück.

»Die Tür von Onkels Zimmer steht offen,« berichtete sie. »Er selbst ist aber nirgends zu sehen.«

Mit noch energischerem Kopfschütteln als vorher klingelte Frau Windham dem Diener ihres Gatten, der sich dem anwesenden Dienstpersonal noch nicht zugesellt halte.

»Chipperfield, wo ist Herr Windham?« fragte sie mit so strenger Miene, als sei der Bediente für seinen Gebieter verantwortlich.

»Herr Windham ist in der Bibliothek, gnädige Frau.«

»Sagen Sie ihm, ich erwartete ihn hier,« gebot die Dame.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau,« wandte der Diener ein, »ich glaube, Herr Windham hat Besuch.«

»Besuch?« wiederholte die Dame sichtlich erstaunt. »Zu so früher Morgenstunde? Aber einerlei!« fuhr sie fort, »richten Sie Ihren Auftrag aus.«

Der Mann gehorchte, kam jedoch nach wenigen Minuten mit der Meldung zurück, Herr Windham sei nicht in der Bibliothek; auf dem Tisch jedoch läge ein Brief für die gnädige Frau.

»Den hätten Sie doch gleich herbringen können!« tadelte die Dame, mit ärgerlicher Miene den Saal verlassend und sich der Bibliothek zuwendend.

Daß der Herr des Hauses – er war dies allerdings nur dem Namen nach – es gewagt haben sollte, sich ohne Erlaubnis seiner gestrengen Ehehälfte zu entfernen, noch dazu kurz vor der Sonntagsandacht, war etwas so Unerhörtes, ja Unglaubliches, daß Evelyn nicht umhin konnte, ihrer Tante zu folgen.

Auch der würdige Chipperfield hielt es für angemessen, sich zur Ergründung des seltsamen Ereignisses seiner Herrin anzuschließen.

Kaum hatte Frau Windham die Bibliothek betreten, als sie stehen blieb und entrüstet ausrief: »Da hört doch alles auf! Am frühen Morgen hier Tabakrauch!«

»Der Fremde rauchte eine Zigarette,« schob Chipperfield zur Rechtfertigung seines Gebieters ein.

Die Gnädige ließ seine Bemerkung unbeachtet, trat an den Schreibtisch und griff nach dem dort liegenden Brief, der mit ihrer Adresse versehen war. Raschen Blickes überflog sie den Inhalt des kurzen Billetts, schien ihn aber nicht zu verstehen, denn Evelyn sah deutlich das Erstaunen, das sich auf ihren Zügen ausprägte.

Schüchtern wagte sie die Frage zu stellen, ob der Brief von ihrem Onkel sei.

»Jawohl,« lautete die mürrische Antwort. »Er klingt aber so konfus, daß man glauben könnte, ein Verrückter habe ihn geschrieben. Hör' mal zu, ob Du klug daraus wirst.«

Mit harter Stimme las sie die folgenden Worte laut vor:

 

»Vor Jahren fiel ich in die Hände eines Menschen, der mich heute wieder in seiner Gewalt hat. Ich bin gezwungen, mit ihm zu gehen; jeder Widerstand wäre vergeblich. Gott weiß, ob ich Euch wiedersehen werde. Wenn mein Feind es erlauben wird, gebe ich bald Nachricht von mir, doch kann ich es nicht versprechen. Sei gut gegen Evelyn.

Dein unglücklicher Gatte,
Percy Windham.«

 

»Verrückt, rein verrückt muß er gewesen sein, um so etwas zu schreiben!« machte sich der Unwille der liebevollen Gattin Luft.

Auf Evelyn übte das Billett eine ganz andere Wirkung aus. Ihr traten die Tränen in die Augen und voller Bestürzung stammelte sie: »Der arme Onkel! Was mag er damit gemeint haben?«

Auch Chipperfield zeigte ein betroffenes Gesicht. Wie er seinen Herrn kannte, sah diesem ein solches Schreiben gar nicht ähnlich. Es mußte sich wirklich etwas Unerhörtes, Absonderliches zugetragen haben, um den sonst so klaren Kopf des Bankiers zu verwirren.

»Können Sie mir den Fremden beschreiben?« weckte die scharfe Stimme der Herrin Chipperfield aus seinem Grübeln. »O ja,« stotterte er hervor.

»Der Mann war groß und hatte pechschwarze Augen.«

»Wonach sah er aus?«

Chipperfield zuckte die Achseln. »Ich hielt ihn für einen Gentleman, obgleich er nicht sehr fein gekleidet war.«

»Wissen Sie seinen Namen?« forschte Frau Windham weiter.

»Es klang ausländisch,« lautete die Antwort, »behalten habe ich ihn aber nicht. Doch – da liegt ja die Karte des Fremden im Kamin.« Chipperfield bückte sich rasch, hob das Kärtchen auf und reichte es seiner Herrin.

»Mark Lucifer,« las sie laut.

»Lucifer?« wiederholte Evelyn. »Was für ein sonderbarer Name!«

Das dachte Chipperfield ebenfalls; nur gab er dem Träger desselben in seiner Einbildungskraft noch eine besondere Bedeutung, woraus er auch kein Hehl machte, denn als Frau Windham ihn fragte, ob er ihren Mann habe weggehen sehen, erwiderte er mit geheimnisvoller Miene: »Nein – aber – das Fenster stand offen – vielleicht hat ihn der – Gottseibeiuns – da hinaus entführt.«

»Pah!« lachte Frau Windham verächtlich auf. »Wie können Sie etwas so Unsinniges denken! Und Du, Evelyn,« wandte sie sich zu dem jungen Mädchen, das sichtlich niedergeschlagen neben ihr stand, »trockne Deine Tränen. Es liegt keine Ursache zum Weinen vor. Glücklicherweise kennst Du noch nicht die Schlechtigkeit der Welt, insbesondere der Heuchler, die es so geschickt verstehen, ihre sündigen Taten vor den Augen anderer zu verbergen. Du hast keinen Grund, Dich aufzuregen. Wärst Du älter und erfahrener, würdest Du sofort erkannt haben, daß der Brief nur Komödie ist, um mich zu täuschen. Wir wollen jetzt auch nicht länger warten.«

Mit unterdrücktem Seufzer folgte Evelyn ihrer Tante in den Speisesaal zurück; als sie aber nach beendigter Morgenandacht am Frühstückstisch saß, wo der gewohnte Platz ihres Onkels leer geblieben war, erfüllte sie wieder bange Sorge um den so rätselhaft Verschwundenen.

»Was wird denn nun geschehen, Tante Leah?« fragte sie zaghaft. »Du kannst doch nicht ruhig zusehen, daß Onkel Percy in der Gewalt eines schlechten Menschen bleibt?«

»Larifari, mein Kind!« gab Frau Windham gleichmütig zurück. »Meinst Du, ich sei so einfältig, auch nur ein Sterbenswort von dem zu glauben, was er mir da in dem Briefe vormacht? Für mich ist's eine schwere Kränkung, die Dein Onkel mir angetan hat, aber ich werde auch diese Prüfung des Himmels geduldig ertragen.«

»Doch aber nachforschen, wo Onkel Percy hingeraten ist?« drängte Evelyn, die sich noch keineswegs beruhigt fühlte.

»Wozu?« entgegnete Frau Windham abweisend. »Übrigens hast Du ja selbst gehört, was er über seinen Verbleib geschrieben. Welchen Nutzen hätte es also, die Polizei zu Hilfe zu rufen? Warten wir ab, bis Dein Onkel selbst Nachricht von sich gibt.«

»Wo mag er nur sein?« murmelte Evelyn, mehr zu sich als zu ihrer Tante sprechend.

»Die krummen Wege der Übeltäter sind heimlich und verborgen,« bemerkte Frau Windham salbungsvoll. »Wir wollen uns durch das Vorgefallene nicht von unseren Pflichten abhalten lassen, mein Kind, jedenfalls aber nicht die Kirche versäumen.«

Evelyn seufzte. »Ich kann mich noch nicht trösten, Tante Leah, und möchte lieber nicht in die Kirche gehen. Meine Gedanken wären sicher nicht bei der Predigt.«

»Wie Du willst,« entgegnete Frau Windham resigniert. »Ich habe leider keine Macht über Dich. Die Vernachlässigung Deiner Christenpflicht mußt Du mit Deinem eigenen Gewissen abmachen.«

Damit erhob sie sich, segelte majestätisch aus dem Zimmer und überließ Evelyn ihrer Sorge um das Geschick des verschwundenen Hausherrn. Diese blieb eine Weile unbeweglich, den Kopf in die Hand gestützt, sitzen. Sie liebte ihren Onkel aufrichtig, denn er hatte ihr gegenüber stets eine wahrhaft väterliche Zärtlichkeit an den Tag gelegt; kein Wunder, daß ihr der mysteriöse Vorfall zu Herzen ging. »Wenn Tante Leah gleichgültig bleibt,« murmelte sie vor sich hin, »ich kann es nicht. Niemals werde ich glauben, daß Onkel Percy unrecht getan hat, dazu ist er viel zu gutherzig. Nein, ihm ist sicher etwas Schlimmes zugestoßen – man liest es ja deutlich aus seinem Brief heraus. Da Tante das aber nicht zugeben will, so wird sie gewiß nichts tun, Onkel zu helfen. Und doch muß es geschehen. Ich werde mich an Ambrose wenden, denn ich selbst kann ja nichts unternehmen. Wenn es in seiner Macht steht, bringt er sicher Licht in das Dunkel. Er wird es auch nicht falsch deuten, daß ich ihn in seiner Wohnung aufsuche – es bleibt mir ja nichts anderes übrig. Ich hoffe, die besonderen Umstände werden meinen Schritt entschuldigen.«

Sie wartete, bis ihr das geräuschvolle Schließen der Haustüre kündete, daß Frau Windham den Gang zur Kirche angetreten hatte, alsdann begab sie sich in ihr Zimmer, hüllte sich in einen dunklen Mantel, schlüpfte unbemerkt auf die Straße und fuhr in einer Droschke nach der Wohnung ihres Verlobten Ambrose Harding.

Vor dem Hause North-Square 4 hielt der Wagen an. Evelyn stieg aus, bezahlte den Kutscher und blickte sich dann scheu um, als fürchtete sie, gesehen zu werden. Doch der Platz lag wie ausgestorben, trotzdem er sich mitten im Zentrum Londons befand. Auch hier herrschte heute Sonntagsruhe. Keine Menschenseele sichtbar, die Jalousien an den Fenstern zum größten Teil herabgelassen und der spärlich bepflanzte Platz nur von einer Schar Tauben belebt, die eifrig pickend am Boden hin und her liefen.

Mit klopfendem Herzen betrat Evelyn Burton das Haus Nr. 4, stieg in den zweiten Stock hinauf und klopfte schüchtern an eine Tür, neben der sich ein Schild mit dem Namen: Ambrose Harding befand.

»Herein!« rief eine frische Männerstimme. Zögernd folgte Evelyn der Einladung und gleich darauf stand sie im Sanktuarium ihres Verlobten. Es war ein heller, freundlicher Raum mit der Aussicht in einen gutgepflegten Wintergarten. Die Wände des Zimmers verschwanden fast unter der Fülle von Bildern, Skizzen, Porzellanfiguren und Kuriositäten aller Art, mit denen sie geschmückt waren. Ein gefülltes Bücherregal, ein mit den verschiedensten Zeitschriften bedeckter Tisch und mehrere bequeme Sessel vervollständigten das Mobiliar des Junggesellenheims, auf dessen Schwelle Evelyn zögernden Fußes stehen blieb.

Ambrose Harding, der, in ein Buch vertieft, am Fenster saß, sprang überrascht auf, als er das junge Mädchen erkannte.

»Evelyn, Du?« rief er im Ton maßlosesten Erstaunens.

»Ja, ich!« erwiderte sie verlegen, sich zu einem Lächeln zwingend. »Du wirst es gewiß unschicklich finden, daß ich Dich hier aufsuche; wenn Du jedoch den Grund erfährst –« ihre Stimme zitterte leicht – »entschuldigst Du mich sicher.«

Ambrose, der auf den ersten Blick bemerkte, daß sie mit einer heftigen Erregung kämpfte, entgegnete nichts, sondern ließ sie Platz nehmen und wartete, vor ihr stehend, geduldig, bis sie sich gefaßt hatte. Dies gelang ihr auch mit einiger Anstrengung. Sie erzählte dem aufmerksam Zuhörenden, was sich ereignet hatte und gab ihm zur Bestätigung ihres Berichtes das Schreiben des Bankiers, das Frau Windham verächtlich weggeworfen, Evelyn aber an sich genommen hatte. Hastig überflog Harding den Inhalt des Billetts.

»Das klingt ja geradezu wie von einem Geistesgestörten geschrieben,« sagte er kopfschüttelnd. »Ist Dein Onkel wirklich spurlos verschwunden?«

»Ja, ganz spurlos!« entgegnete Evelyn. »Wie ich Dir schon erzählte – nach dem Erscheinen des Unbekannten hat niemand ihn mehr gesehen. Ambrose –« sie sah mit bittender Miene zu ihm auf – »willst Du mir helfen, ihn zu suchen?«

»Von Herzen gern!« versicherte der junge Mann, »jedoch – verzeih, daß ich es ausspreche – hier ist nicht der geeignete Ort, uns darüber zu beraten. Erlaube, daß ich Dich nach Hause begleite, vielleicht finden wir in den Zimmern Deines Onkels eine Spur, die bisher übersehen worden ist.«

»Was wird aber Tante Leah sagen, wenn Du mit mir kommst?« wandte Evelyn zaghaft ein.

Harding warf den Kopf zurück. »Ich denke, Liebchen, daß ich das volle Recht besitze, an Deiner Seite zu sein, wenn Du in Bedrängnis bist. Dein Onkel, der ja auch Dein gesetzlicher Vormund ist, hat unserer Verlobung zugestimmt und so kann Frau Windham trotz ihrer Abneigung gegen mich keinen Einspruch erheben. Überdies bist Du ganz unabhängig von Deiner Tante, da Du ein eigenes Vermögen besitzest. Mich hat's ja gewundert, daß sie sich unserer Verbindung nicht widersetzte, aber ich glaube fast, sie wird froh sein, wenn Du das Haus verläßt.«

»Ja, ich weiß, daß sie mich nicht gern hat,« nickte Evelyn. »Wahrscheinlich, weil unsere Meinungen zu verschieden sind.«

»Da hast Du recht,« stimmte Harding lachend bei. »Nun, wir zwei wollen uns das nicht weiter zu Herzen nehmen; so lange wir zusammenhalten, kann uns aller Zorn Deiner Tante nichts anhaben. Doch laß uns jetzt gehen; wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Eine Droschke war bald gefunden und bald hatten die Liebenden das Haus des verschwundenen Bankiers erreicht. Chipperfield, der fester denn je an eine übernatürliche Entführung seines Gebieters glaubte, war noch zu fassungslos, um seiner Verwunderung über Evelyns eigenmächtigen Schritt, mit dem Geliebten zusammen heimzukehren, Ausdruck zu verleihen. Mechanisch öffnete er den beiden die Tür und schaute ihnen, als sie sich der Bibliothek zuwandten, mit einem melancholischen Blicke nach, der zu sagen schien: Was könnt ihr armen jungen Leute gegen die Macht des Satans ausrichten?

Evelyn und Harding hielten inzwischen Umschau, dort, wo sich Herr Windham zuletzt aufgehalten hatte.

Die Bibliothek war ein großer, viereckiger Raum mit zwei Fenstern nach der Straße zu. Er enthielt einen Schreibtisch, einige Lederstühle, einen runden Tisch in der Mitte des Zimmers und ein bis zur Decke reichendes Büchergestell. Dunkelbraune Fenstervorhänge und ein schwarzer Marmorkamin gaben dem ziemlich ungemütlichen Raum, trotz des hellen Sonnenlichtes einen düsteren Anstrich.

»Setz' Dich, Evelyn, während ich meine Nachforschungen beginne,« sagte Harding, seiner Braut einen Stuhl hinschiebend. »Wahrhaftig, ich komme mir vor wie Mathias Wenlock oder einer der anderen berühmten Detektivs, bereit, einen verwickelten Fall in Angriff zu nehmen. Damit endigt aber auch die Ähnlichkeit, denn ich fürchte, nicht die Geschicklichkeit jener genialen Spürnasen zu besitzen, um ein so dunkles Geheimnis wie das vorliegende ergründen zu können.«

»Da drüben auf dem Kamin liegt die Visitenkarte des Fremden,« bemerkte Evelyn. »Tante Leah warf sie ebenfalls fort, aber ich brachte sie in Sicherheit. Vielleicht gibt sie uns einen Anhaltspunkt.«

Harding nahm die kleine, länglich geformte Karte, sie sorgfältig musternd. »Der Herr mit dem satanischen Namen,« sagte er scherzend, »gestattet sich nicht den Luxus einer lithographierten Karte; der Name ist einfach und noch dazu in ungeübter Handschrift darauf geschrieben worden. Doch das hat nichts zu bedeuten; ein Fürst, sei es auch nur der Beherrscher der Finsternis, braucht sich nicht kalligraphisch hervorzutun. Auf jeden Fall will ich die Karte behalten, wenn sie auch nicht als ein Fingerzeig gelten kann.«

»Was ist das für ein glänzender Gegenstand dort auf dem Teppich neben dem Schreibtisch?« fragte Evelyn.

Harding bückte sich und hob einen kleinen Schlüssel auf, den er dem jungen Mädchen hinhielt. »Da sieh her! Wie kunstvoll gearbeitet! Gehört er Dir?«

»Nein,« entgegnete sie, »er gehört meinem Onkel. Es ist der Schlüssel zu seinem Geldkasten. Wie kommt der dahin auf den Boden?«

»Weißt Du, wo Herr Windham seine Kassette verwahrte?«

»Rechts in der obersten Schublade des Schreibtisches. Den Schlüssel trug er stets in der Westentasche, sodaß ich ihn oft damit neckte, indem ich fragte, ob er befürchte, Tante Leah oder ich würden ihn berauben.«

Harding hatte inzwischen dies Fach geöffnet und ihm eine längliche mit Juchtenleder überzogene Kassette entnommen.

»Ist dies die richtige?« fragte er.

Evelyn bejahte.

»Den Schlüssel brauchen wir nicht erst zu probieren,« bemerkte Harding, »denn der Kasten ist offen.« Damit schlug er den Deckel zurück. Das Innere enthielt drei Abteilungen, für Gold, Banknoten und Wertpapiere.

»Hatte Dein Onkel die Gewohnheit, hier Geld zu verwahren?« wandte Harding sich zu Evelyn.

»Natürlich. Jeden Samstag brachte er das Wirtschaftsgeld für Tante Leah mit und gestern hatte er noch 15 Pfund extra für mich, da ich verschiedene Einkäufe machen wollte. Wir zählten zusammen die ganze Summe, die er in den Kasten legte – es waren 50 Pfund in Banknoten und 65 Pfund in Gold.«

Harding zog die Augenbrauen hoch. »So? Na, da hat der Herr Lucifer, mit dem Dein Onkel auf so außergewöhnliche Weise verschwand, wie es scheint, gleich für die Deckung der Reisekosten gesorgt, denn die Kassette ist leer. Überzeuge Dich selbst.«

Er hielt ihr den Kasten hin, den er auf einer Hand balancierte. Infolge einer ungeschickten Bewegung, die er machte, fiel die Kassette mit lautem Geräusch zu Boden, gerade als sich die Tür öffnete und Frau Windham eintrat.

Helle Entrüstung malte sich auf den Zügen der würdigen Dame.

»Ah!« rief sie zornsprühend, »so verbringst Du die Zeit, anstatt Deiner Christenpflicht zu genügen? Hast hier heimlich ein Stelldichein mit einem Menschen, der sich, wie ich gehört habe, nicht in der besten Gesellschaft bewegt – –«

»Verzeihung, Frau Windham,« unterbrach Harding seine Anklägerin, »Sie befinden sich da doch im Irrtum.«

»Meine Informationen sind durchaus zuverlässig,« erklärte die erzürnte Dame spitz. »Sie besuchen zweifelhafte Orte, führen ein unregelmäßiges Leben und haben sogar die Keckheit, vor den Augen des betörten Mädchens da den abwesenden Hausherrn zu berauben. Wollen Sie das etwa leugnen? Kommen Sie herein, lieber Reverend,« rief sie mit erhöhter Stimme, sich der Tür zuwendend, »ich nehme Sie zum Zeugen der verbrecherischen Tat dieses Mannes.«

Ihrer Aufforderung folgend trat der Reverend Mauler ein, der seine Freundin von der Kirche nach Hause begleitet hatte, um von ihr Näheres über das Verschwinden ihres Gatten zu hören. Er war ein noch junger Mann, trug aber ein großes Selbstbewußtsein zur Schau und eiferte von der Kanzel herab in besonders heftiger Weise gegen die Sittenverderbnis seiner Mitmenschen.

»Wünschen Sie meinen Beistand, Verehrte?« fragte er, einen mißtrauischen Blick auf Harding werfend.

»Jawohl. Sie sollen bezeugen, daß dieser Herr sich hier widerrechtlich eingeschlichen und sich die Geldkassette meines Gatten angeeignet hat.«

»Wie kannst Du Ambrose solcher Dinge beschuldigen?« fiel ihr Evelyn ins Wort. »Er ist mein Verlobter und besitzt die Erlaubnis meines Onkels, mich zu besuchen. Alles, was Du gegen ihn sagst, nenne ich Verleumdung.«

»Ereifere Dich doch nicht, Liebchen!« wehrte Harding beschwichtigend ab. »Deine Tante spricht ja nicht im Ernst; mich für einen Einbrecher zu halten, ist ja geradezu lächerlich. Auf Evelyns Bitten kam ich hierher, um zu versuchen das Geschehene aufzuklären,« wandte er sich zu Frau Windham. »Mein Verhältnis zu Ihrer Nichte schützt mich wohl hinreichend vor dem unwürdigen Verdacht, den Sie gegen mich äußerten und – –«

»Sparen Sie Ihre Worte!« unterbrach ihn die Dame in verächtlichem Tone. »Ich weiß, was ich von Ihnen zu halten habe, und als Herrin dieses Hauses verbiete ich Ihnen, meine Schwelle wieder zu überschreiten.«

Harding zuckte gleichgültig die Achseln. »Es lohnt sich nicht, mit Ihnen zu streiten. Natürlich werde ich Ihr Haus vorläufig nicht mehr betreten, mir aber erlauben, über das Wohlergehen meiner Braut zu wachen. Sollte dieselbe Ursache haben, sich über Ihre Behandlung zu beklagen, so werde ich sie bis zur Rückkehr Herrn Windhams in geeignetere Obhut tun. Ein wenig mehr Menschenliebe und Duldsamkeit, verehrte Frau,« schloß er spöttisch, »dann würden Sie weit eher dem Vorbild eines christlichen Weibes, dem Sie ja wohl nachstreben, entsprechen.«

Mit einer höflichen Verbeugung gegen die ihn sprachlos anstarrende Dame und den nicht minder verdutzten Reverend verließ Harding das Zimmer.

Evelyn folgte ihm in die Vorhalle. »Ambrose,« sagte sie in bittendem Ton. »Du wirst Dich doch durch die häßlichen Worte der Tante nicht zurückhalten lassen, mir beizustehen. Bis Onkel Percy nicht gefunden ist, können wir nicht mehr zusammenkommen.«

»Ach, Du Närrchen!« lachte Harding. »Die gute Tante Leah wird Dich doch nicht einsperren, wie's in den Märchengeschichten passiert. Triff mich übermorgen an der Ecke des Deseret-Square und der Saharastraße; vielleicht kann ich Dir dann schon etwas berichten.«

Während die Liebenden zärtlich von einander Abschied nahmen, machte Frau Windham, die inzwischen die Sprache wiedergefunden, ihrem Zorn in nachdrücklicher Weise Luft. »Ich werde es dem Menschen nie verzeihen,« rief sie empört aus, »mich, die Witwe eines Bischofs und Gattin eines Finanzmannes – Weib zu nennen! Das soll er bitter bereuen!«


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