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Ein Wunder?

Die Feder hinterm Ohre, ein großes, bis zum Rande gefülltes Tintenfaß vorsichtig an der Hand haltend, schritt Christian Eller, Pfarrer von Taufers in Vintschgau, bedächtig auf sein Pfarrarchiv zu.

Diesen stolzen Namen führte ein winzig kleines Kämmerlein, worin die Pfarrmatriken und andere wichtige Dokumente aufbewahrt wurden. Auch des Pfarrers Bibliothek mußte darin Platz finden. Die Akten lagen übereinander in einer großen Truhe, und es machte dem guten Herrn oft Mühe, das Richtige herauszufinden, die Bücher aber, seine Lieblinge, standen ringsumher auf hohen Stellen und blickten freundlich auf ihn nieder. Freilich waren diese Stellen nur aus weichem Holze, das sich unter dem alten silbergrauen Anstrich überall vordringlich zeigte, die Bücher aber waren gute, gediegene Werke, das einzige Wertvolle, was Christian Eller sein eigen nannte. Weit und breit gab's keine Bibliothek wie die seine.

Zwischen zwei Bücherstellen eingekeilt, stand ein kleines Schreibpult, ebenfalls aus weichem Holze mit grauem Anstrich, und darauf ein Tintenfaß samt Streusand und Feder. Aber die Tinte war längst vertrocknet, die Feder abgebraucht, und mit Streusand allein läßt sich nichts anfangen. Darum nahm der Pfarrer, wenn er in sein Archiv kam, stets Tinte und Feder mit herüber. Das war so eine Eigenheit von ihm. Alte Leute pflegen mit dem Schreibmaterial meist sparsam umzugehen.

Christian Eller saß schon an die dreißig Jahre in seinem Pfarrdorfe. In all der Zeit war er öfters aufgefordert worden, sich um ein Dekanat zu bewerben. Einmal auch hatte ihn der Fürstbischof von Brixen drängen wollen, eine Professur am Seminar zu übernehmen, denn der Pfarrer von Taufers war bei all seiner Schlichtheit eine Autorität in der Dogmatik. Aber so oft etwas wie eine Beförderung an ihn herangetreten war, hatte er mit beiden Händen abgewehrt. So war er denn Pfarrer von Taufers geblieben und nun kam es dazu, daß er die Buben und Mädchen, die er einst getauft hatte, kopulieren mußte. Das tat er gern: ein Seelsorgerherz muß sich ja freuen, wenn brave Leute zusammenkommen. Freilich nur so lange sie in der Heimat blieben! Mit den anderen hatte es schon seine Not. In die Welt hinauswandern, um Geld zu verdienen, ist zwar keine Sünde, aber doch immer ein gefährlich Ding; und die Armut des Bodens und die Nähe der Grenze trieb manchen an, jenseits dieser Grenze sein Heil zu suchen. Dann kamen die Leute oft ganz anders wieder, als sie gegangen waren, oder sie kamen gar nicht wieder, und man hörte später Arges von ihnen. Darum machten diese wanderlustigen Schäflein dem Pfarrer viel Sorge. Seine größte Sorge aber war Klaus Rammberger.

Der Klaus war das erste Kind, das der Pfarrer nach seiner Installierung getauft hatte, und von Kindsbeinen an war er des Pfarrers Liebling gewesen. Und weil er in der Schule sich so aufgeweckt zeigte, hatte der Pfarrer gemeint, es wäre schade um das helle Köpflein und hatte ihn in die Studien gebracht. Aber der Klaus hatte keinen Ernst zum Studieren, und als ihn der Vater wieder nach Hause nahm, hatte er auch keinen Ernst zur Arbeit mehr. So kam es, daß er sich in Taufers nicht mehr heimisch fühlte: nach Ablauf seiner Militärzeit ging er in die weite Welt hinaus.

Jahrelang hatte der Pfarrer nichts mehr von ihm gehört. Da kam eines Tages ein Brief aus Zürich, nicht an den Pfarrer selbst, sondern nur an das »löbliche fürstbischöfliche Pfarramt Taufers in Vintschgau.« Der Brief war von Klausens Hand geschrieben, und schwarz auf weiß stand etwas darin zu lesen, worüber dem Pfarrer Hören und Sehen verging. »Ich habe«, hieß es, »nach reiflicher Überlegung den Entschluß gefaßt, meine Konfession zu ändern und ersuche, daß man meinen Namen aus dem Taufbuche streiche.«

In fester Kurrentschrift, mit tadelloser Orthographie hatte Klaus das geschrieben, kurz und gut, klipp und klar, in trockenem Amtsstil, ohne Bemerkung und Begründung. Dreimal nacheinander hatte der Pfarrer den Brief gelesen und hatte jedesmal gemeint, es müsse etwas anderes darin stehen. Dann hatte der alte Herr das böse Schriftstück zusammengefaltet und war hinüber gegangen in die Kirche, um dem Heiland eins vorzuweinen und ihn um Rat zu fragen. Doch der Heiland war ganz still gewesen, und nun hatte sich der Pfarrer auf den Weg gemacht nach Mals hinüber, wo im Kapuzinerkloster sein Beichtvater wohnte, der alte Pater Lucius, den man wie einen Heiligen verehrte. Der Lucius war aber nicht nur ein heiliger Mann, sondern auch ein pfiffiger. Und nach einigem Nachdenken sagte er: »Schreiben Sie dem armen Sünder, er möge selber kommen und seinen Namen ausstreichen. Vielleicht fehlt ihm doch die Schneid dazu.«

Also schrieb der Pfarrer an den Klaus. Einen langen Brief, der ihm unsäglich viel Mühe machte. Nie im Leben war ihm das Schreiben so schwergefallen, auch nicht im ersten Jahre seiner Studierlaufbahn, wo er kurz vorher noch Hütbube gewesen war und vertrauter mit den Almen als mit dem Schreibpapier. Ja, was wäre ein Majestätsgesuch gewesen gegen einen solchen Brief. Wie oft hatte er ihn überlesen und verbessert, wie oft ihn zerrissen und wieder geschrieben! Bald gar zu mild und lammherzig dünkte ihn das Schreiben – man mußte den Unglücklichen doch ordentlich aufrütteln! – bald gar zu schroff und hart – der Heiland will doch, daß man den glimmenden Docht nicht verlösche! Weil aber auf dieser Welt alles einmal ein Ende nimmt, so wurde auch der Brief des Pfarrers endlich fertig, und der Taufrer Postbote nahm ihn mit zur Station.

Seither waren Wochen vergangen, und Tag für Tag wartete der Pfarrer auf Antwort. Nach vier Tagen hätte die Antwort eintreffen können: Zürich liegt doch nicht in Amerika. Mit Spannung blickte der gute Herr jedem Posteinlauf entgegen, mit zitternder Hand griff er danach, ob nicht etwa der erwartete und ach, gefürchtete Brief darunter wäre. Aber nichts, immer nichts! Und schließlich gab die ängstliche Spannung nach, und der Pfarrer tat ruhig seine tägliche Arbeit, nur daß ihm dabei immer etwas Schweres auf dem Herzen lag.

»Ich bin im Archiv – falls jemand kommen sollt'!« rief er im Vorbeigehen seiner Köchin zu. Und dann trat er in sein kleines Heiligtum.

Es waren köstliche Stunden, die der alte Pfarrer zwischen seinen Büchern verlebte. Köstlich, aber kurz und selten. Und was er gerade jetzt im Archiv zu schaffen hatte, das war keine richtige Arbeit für ihn. Kein Eindringen in die Tiefen der Theologie, sondern Kleinarbeit auf dem kunsthistorischen Gebiete, das dem guten Pfarrer kein sehr bekanntes Land war. Ein Freund hatte ihn um Daten ersucht über das uralte Tauferer Helena-Kirchlein, und nun war der Pfarrer gewissenhaft darangegangen, alles zu sammeln, was er darüber in seinem Archive finden konnte.

Er trat an das Pult zwischen den Bücherstellen. Am weichen Holze der beiden Stellen hatte er mit Reißnägeln zwei kleine Kupfer befestigt, links das Bild des heiligen Fließer Pfarrers, rechts das des ehrwürdigen Bischofs Tschiderer von Trient. Die beiden mußten ihm bei all seinen Arbeiten zusehen, der eine mit seinen strengen, der andere mit seinen milden Augen.

Sein Tintenfaß hatte sich der Pfarrer zurechtgestellt, die Feder darauf gelegt, und nun folgte sein Zeigefinger den vergilbten Zeilen auf rauhem Papier, die ein Unbekannter vor einigen hundert Jahren geschrieben hatte.

»Am Fritage vor Sandt bartlmä A. D. 1545 ist der Tunder auf die Sandt Helena Kirche gefahren, ist das dach verbrant und der messner vmbkommen.«

»Der Fritag vor Sankt Bartlmä!« Das war ein gar zu unbestimmtes Datum. Da mußte man erst erforschen, auf welchen Wochentag das Fest des heiligen Bartholomäus in jenem Jahre fiel.

Der Pfarrer ging seinen Bücherstellen entlang und überlegte, welcher von den Bänden, die da in Reih und Glied standen, am ehesten geeignet sei, diese wichtige Frage zu beantworten. Eben langte er nach einem Folianten, der die Geschichte des Bistums Chur behandelte, da klopfte es. Und er zog die Hand zurück und sagte: »Herein!«

Im nächsten Augenblick stand vor ihm ein hübscher, noch junger Mann mit keck aufgedrehtem Schnurrbärtchen, der einen neuen Strohhut und einen feinen Havelock trug.

»Bitte, mit wem habe ich die Ehre?« fragte der Pfarrer arglos.

Der Mann lüftete den Hut und grüßte steif. »Guten Tag, Herr Pfarrer. Ich komme selbst, wie Sie es gewünscht haben.«

Jetzt freilich ging dem Pfarrer ein Licht auf! Du meiner Seel', der Klaus! Nicht mehr das herzige Bauernbüblein, das mit schelmisch fragenden Blicken zum Pfarrer aufschaute, auch nicht mehr der flotte, lustige Lausbube mit der Huifeder am Hute, dem bei allem Leichtsinn doch noch immer ein bißchen Treuherzigkeit aus den hellblauen Augen strahlte. Nein, ein halber Herr und ein ganzer Städter stand vor dem armen alten Landpfarrer und schaute von der Höhe seiner Welterfahrung und seiner reichen Zeitungsbildung auf ihn herab.

»Sie scheinen mich nicht mehr zu kennen«, sagte der Mann im Havelock mit spöttischem Lächeln und reichte seine Visitenkarte.

Denn er hatte natürlich Visitenkarten, der Rammberger-Klaus, und darauf stand nebst seinem Namen auch sein Beruf: »Agent der Weinfirma Gäßli und Vogt, Zürich.« Nur sein voller Taufname fehlte. Was soll man auch aus dem Namen Nikolaus machen? Ein herrischer Name wird das seiner Lebtag nicht! Deshalb hatte Klaus nur den Anfangsbuchstaben »N« auf die Karte drucken lassen, was freilich zu dem Mißverständnis Anlaß geben konnte, daß der Herr Agent gar keinen Taufnamen habe, sondern sich mit einem wesenlosen »N. N.« begnüge.

Der Pfarrer langte nicht nach der Karte. »Ich kenn' dich ja, Klaus,« murmelte er, »von klein auf kenn' ich dich!«

»Ach ja, mir scheint so was,« erwiderte Rammberger spitz. »Nun, ich nehm' Ihnen das Du just nicht übel. Es ist sicher gut gemeint.«

»Ich kann gerade so gut Sie sagen«, erwiderte der Pfarrer, etwas verletzt.

» O, as you like!« Rammberger zuckte die Achseln. »Verzeihen Sie, wenn mir da und dort ein englisches Wort entschlüpft. Bin eben ein halber Amerikaner!«

»Ich hab gemeint, Sie sind in Zürich,« warf der Pfarrer ein.

»Gegenwärtig schon. Aber früher war ich lange in Amerika. Ich bin ein Selfmademann im vollen Sinne des Wortes. Da drüben muß jeder auf eigenen Füßen stehen und von der Pike auf dienen, aber wer einen hellen Kopf hat –«, ein rasches Drehen des Schnurrbarts, »der bringt's auch zu etwas.«

»Und was haben Sie mir sonst zu sagen?« fragte der Pfarrer. Er hatte jetzt seine Fassung wiedergewonnen. Seine Stimme klang ernst, fast strenge.

»Nun, ich denke, das wissen sie doch«, meinte der andere leichthin. »Darf ich um das Taufbuch bitten?«

Rammberger war bisher auf der Schwelle gestanden. Nun trat er ein und schloß die Türe hinter sich. Der Raum war enge; sie standen Aug' in Auge. Des Pfarrers Hand lag schwer auf dem Pulte; sie zitterte.

»Haben Sie meinen Brief erhalten, Herr Rammberger?«

»Natürlich!«

»Und gelesen?«

»Auch das. Ein Handlungsagent hat nicht den Brauch, Briefe ungelesen bei Seite zu legen. Aber ich mußte erst abwarten, daß mich mein Beruf in diese Gegend führe. Das ist jetzt der Fall. Ich bin auf dem Wege nach Meran. Übrigens hätten Sie mir mit einem Federstrich und ein bißchen Gefälligkeit den weiten Weg von der Station herauf ersparen können. Sie scheinen nicht zu wissen, daß für uns Geschäftsleute Zeit Geld ist. Well, hier bin ich also! Nochmals, ich bitte um das Taufbuch.«

»Sie sind meines Wissens noch immer österreichischer Untertan«, sagte der Pfarrer. »Sie dürfen also nicht aus der katholischen Kirche austreten, ohne vorher bei einem katholischen Priester Unterricht genommen zu haben.«

» I know! Der römisch-katholische Pfarrer von Außersill war so freundlich. Ich kann das Attest vorweisen.« Er griff in die Rocktasche. Der Pfarrer wehrte ab. »Lassen Sie das! Sagen Sie mir lieber, was treibt Sie zu diesem äußersten Schritt? Leute genug kenn' ich, die um ihren Glauben gekommen sind. Aber so weit wie Sie ist noch keiner gegangen. Warum wollen Sie das letzte Band zerreißen, das Sie an die Kirche knüpft? Steht vielleicht eine Heirat dahinter?«

»Ich glaube, das gehört nicht daher«, bemerkte Rammberger von oben herab.

»Freilich gehört's daher!« rief der Pfarrer, der in seiner Herzenswärme nur mehr an die Seele seines einstigen Schäfleins dachte. »Ist es denn nicht etwas Schreckliches, etwas Unbegreifliches, wenn ein Mensch, ein getaufter Christ, Gnade, Glauben und Seligkeit von sich wirft wegen einiger flüchtigen sinnlichen Reize!«

Diesmal lachte Rammberger laut auf. » All right, Herr Pfarrer, das ist aufgelegter Predigtstil. Aber es trifft nicht zu. Denn die Reize meiner Zukünftigen sind nicht nur flüchtig, sondern längst verflüchtigt. Sie ist die Witwe meines verstorbenen Prinzipals, eine Dame von rund fünfzig Jahren.«

»Was, so eine alte Person willst du aufheiraten?« rief der Pfarrer, den seine Herzenswärme wieder ins Duzen hineinriß. »Und alles nur wegen dem leidigen Geld zulieb! O denk doch, was du tust! Schlecht genug, wenn du dich protestantisch trauen lassen willst, aber warum denn aus dem Taufbuch streichen, warum denn das? Ich kann's nicht fassen! Ist's etwa deine Züricherin, die das von dir verlangt? Oh, dann hat sie keinen Funken Liebe zu dir!«

Der alte Mann zitterte am ganzen Leibe; seine Augen schwammen in Tränen. Fast wider Willen kam's wie Ergriffenheit über Rammberger. »Nehmen Sie sich's nicht so zu Herzen, Herr Pfarrer«, tröstete er mit einem Anfluge von Galgenhumor, »wenn der Teufel einmal meine Seele holt, dann können Sie froh sein, daß ich nicht mehr in Ihrem Taufbuche stehe.«

»Nein, nein, Klaus, er soll sie nicht haben, deine Seele!« rief der Pfarrer und griff mit beiden Händen nach Klausens Hand, »Er soll sie nicht haben, und wenn ich mit ihm drum raufen müßt'! O Klaus, wie gestern kommt's mir vor, daß du auf dem Taufkissen gelegen bist, du, das erste Taufererkind, das ich dem bösen Feind entrissen hab'! Vielleicht ist's deswegen gewesen, daß du mir so ins Herz gewachsen bist. In der Schul' bist du mir auch immer der Liebste gewesen! Mein Gott, was warst du für ein patschierigs Bübl!«

Um Klausens Lippen zuckte es. Man wird nicht umsonst an seine Jugend erinnert. Wie gestern, kam's dem alten Pfarrer vor. Ihm aber, dem jungen Mann, schien es, als liege ein Jahrhundert, als liege eine Welt zwischen dem Schulbüblein von Taufers und dem Weinagenten von Zürich. Der Pfarrer hatte, ohne Arg und Berechnung, eine Saite seines Herzens berührt, die in Schwingung geraten war. Klaus lächelte.

»Ich weiß schon, was Sie mit dem patschierigen Bübl meinen«, sagte er. »Sie haben mich einmal in der Schule gefragt, was ein Wunder ist, und darauf hab' ich prompt erwidert: ›Ein Wunder ist etwas, wo die Leut sich wundern‹. Aber vielleicht war das nicht das Dümmste, was ich in meinem Leben gesagt habe.«

»Das Dümmste? Nein, nein! Und überhaupt, du warst ja damals noch ein kleiner Kerl und hast's nicht besser verstanden.«

»Pardon, ich versteh's auch jetzt noch nicht anders«, widersprach Rammberger und hatte auf einmal wieder sein überlegenes Lächeln. »Was ist wohl ein Wunder anders als etwas, worüber die Menschen staunen, weil sie sich's nicht erklären können? Für einen Wilden wird ein Schießgewehr oder eine elektrische Batterie ein Wunder sein. Je höher die Bildung, desto weniger wird man an Wunder glauben. Aber bitte, Sie haben, wie ich sehe, Tinte und Feder hier. Und das Taufbuch ist wohl vielleicht auch bei der Hand.«

Doch der Pfarrer machte wegen dem Taufbuche taube Ohren. »Was du von der elektrischen Batterie gesagt hast, ist ein ganz gewöhnlicher Schlager«, widersprach er lebhaft. »Ein gescheiter Mensch soll sich selber zu gut sein, mit solchen Trugschlüssen zu kommen. Ein Wunder ist und bleibt ein Wunder, ob's nun ein Wilder sieht oder ein Europäer, das ist ganz gleich. Ein Wunder ist etwas Objektives, nicht ein subjektiver Eindruck. Daß ich's kurz sag', ein Wunder ist eine Ausnahme von den Naturgesetzen, und eine solche Ausnahme kann nur der verfügen, der diese Gesetze angeordnet hat, nämlich Gott

Er war in einen dozierenden Ton gefallen, den er vor seinen Bauern auf der Kanzel und in der Schule sonst zu vermeiden wußte. Aber der Rammberger machte ihm doch, für den Augenblick wenigstens, den Eindruck eines Gebildeten. Darum stand er vor ihm wie ein Professor, schlug mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf den Daumen seiner Linken und wollte eben mit vollen Segeln in die hohe See der Theologie hineinsteuern. Da unterbrach ihn Rammberger achselzuckend mit der Frage: »Haben Sie schon einmal ein Wunder gesehen?«

Der Pfarrer verneinte.

»Na also!« rief Rammberger lachend.

»Nur nicht so obenhin urteilen!« rief der Pfarrer. »Wenn auch ich keines gesehen habe, so haben doch andere Leute Wunder gesehen. Leute, die nicht schlechtere Augen gehabt haben als ich und vielleicht einen bessern Verstand.«

»Nun«, meinte Rammberger, »es ist ja recht schön und bescheiden, wenn man dem Verstand und den Augen anderer mehr traut als den eigenen. Aber ich einmal halt's mit dem ungläubigen Thomas.«

»Halt's nur mit ihm!« rief der Pfarrer rasch. »Dann mußt du aber auch sagen: ›Mein Herr und mein Gott‹ und mußt an das Wunder der Auferstehung glauben.«

»Die Auferstehung?« Es entstand eine Pause, die ganz von Rammbergers überlegenem Lächeln ausgefüllt war. »Ja, sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn Sie mich an die Auferstehung glauben machen wollen, da kommen Sie zu spät! Da hab ich einmal etwas sehr Geistvolles gelesen, eine Flugschrift von einem Professor. Darin war von dem Nervensystem des Menschen die Rede und von der Macht der Einbildungskraft, besonders bei ungebildeten Menschen, bei Leuten aus dem Volke. Und das waren doch die Apostel. Also, mit der sogenannten Auferstehung Christi sei's eben auch so gewesen: die Apostel hätten sich's einfach eingebildet.«

Der Pfarrer war jetzt mit einem Male mundtot gemacht. Nicht als ob Rammbergers seichte Phrasen ihn verwirrt hätten. Aber das Seichte war es eben, das ihm die Lippen schloß. Er hätte hundert Argumente, unwiderleglich für die Wissenschaft, ins Feld führen können. Doch damit kommt man gegen einen Zeitungs- und Broschürenleser nicht auf. Wenn ein Dreimaster auf eine Sandbank geraten ist, steckt er und kommt nicht weiter, denn er braucht das offene Meer und das tiefe Gewässer. Das fühlte der Pfarrer, das machte ihn mutlos.

»Herr Rammberger«, sagte er und fiel wieder in das kalte Sie zurück, »wenn Ihnen jeder gedruckte Wisch höher steht als das Evangelium, dann seh' ich's ein: es ist nichts mit Ihnen zu machen.«

Er wandte sich ab und faltete seine Hände über seinem Pulte. Im Zimmerchen war es still. Hilfesuchend wanderten die Augen des alten Mannes zwischen den zwei Bücherstellen hin und her, vom Fließer Pfarrer zum ehrwürdigen Bischof. Die beiden sind große Wundertäter gewesen, der eine im Leben, der andere nach dem Tode. Wenn sie doch ein Wunder vom lieben Gott erbitten möchten, den armen Ungläubigen zu bekehren!

Doch das war nur ein flüchtiger Gedanke, der dem guten Pfarrer durch den Kopf schoß. Wo Demut und guter Wille fehlt, wirkt Gott kein Wunder. Auch für den stolzen Herodes hat der Heiland keines gewirkt, und der hätte doch so gern eins gesehen. Dem Rammberger war's auch gar nicht um ein Wunder, dem war's nur ums Geld. Und der Rammberger war nicht der erste und nicht der letzte, der um Geld seine Seele verkaufte.

»Herr Pfarrer«, klang es jetzt rauh, »ich glaube, wir haben uns lange genug unterhalten. Ich muß nochmals bemerken, daß ich Eile habe.«

Da sagte der Pfarrer kein weiteres Wort, holte das Taufbuch herbei, legte es auf das Pult und schlug es auf. Während er darin blätterte, wurde es ihm ganz elend zu Mute, als solle ihn ein Schlag rühren. Doch das ging vorüber, und endlich hatte er ihn, den Namen des »patschierigen« Bübleins, das ihm das liebste von all seinen Dorfkindern gewesen war.

»Rammberger Nikolaus, ehelicher Sohn des Nikolaus und der Martha Schwarz, geboren am 7ten September 1877.«

Schweigend zeigte der Pfarrer auf den Namen und trat zurück.

Und nun stand Rammberger am Pulte. Während er nach der Feder langte, zitterte seine Hand. Gleichgültig war ihm die Sache also doch nicht, aber die boshafte Züricherin stand hinter ihm und lockte und drängte ihn mit ihrem verführerischen Golde. Der Pfarrer verwandte kein Auge von dem Unglücklichen. »Muttergottes, Zuflucht der Sünder! ... Heiliger Schutzengel, halt ihm die Hand zurück! ... Ist's nicht, wie wenn ein Mensch sein eigenes Todesurteil unterschriebe?«

Rammberger faßt die Feder, taucht sie tief in die Tinte, setzt sie aufs Papier ... Aber dann schaut er weg, schaut nach dem offenen Fenster hin, an dem die weißen Wolken vorüberziehen wie fliegende Tauben. Ihm ist wohl zu Mute wie einem Kranken, der den Kopf abwendet, um den Schnitt nicht zu sehen, der an seinem Fleische gemacht wird.

Er legt die Feder einen Augenblick beiseite, als könne er nicht ... Aber gleich faßt er sie wieder und wieder taucht er sie ein, als fürchte er, sie sei unterdessen vertrocknet. Dann ein rascher Blick auf die Zeile, die seinen Namen enthält; er setzt die Feder an, und dann, dann schaut er weg ...

Und nun ein Strich von fester Hand! Der Pfarrer sieht's! Das rauhe Papier knarrt unter der Feder. Der Pfarrer hört's. Es ist geschehen! Rammberger wirft die Feder von sich wie ein Mordinstrument.

Und dann schaut er auf sein Zerstörungswerk.

Lange schaut er ins Buch, ganz regungslos, ganz still. Und seine Hände klammern sich an das Pult, als suchten sie eine Stütze.

Endlich kommt wieder Bewegung in ihn. Er streckt den Kopf vor und schaut ins Tintenfaß. Er streckt die Hand nach der Feder aus und prüft sie. Das Tintenfaß ist voll, die Feder auch. Er nimmt die Feder zwischen die Finger, drückt sie gegen den Daumen seiner linken Hand. Da fällt ein großer schwarzer Tropfen aufs Pult und auch auf seinem Daumen sieht er einen schwarzen Flecken.

Nein, nein, an der Feder in seinen Händen liegt es nicht ... Und doch, vor ihm im offenen Buche steht sein Name, klar, scharf und makellos, wie ihn vor dreißig Jahren die Hand des damals noch jungen Pfarrers eingetragen hat; jeder Buchstabe ist unberührt, und alle zusammen sehen ihn seltsam an, herausfordernd. »Du tilgst uns nicht, Mensch, du tilgst uns nicht, und magst du hundertmal die mörderische Feder eintauchen und hundertmal über uns wegfahren. Und magst du sie in dein Blut tauchen, wie solche getan haben, die sich dem Bösen verschrieben, du tilgst uns nicht. Denn Gottes Hand ist über uns, und das Merkmal der Taufe bleibt ewig!«

»Jetzt glaub' ich's!« murmelt Klaus Rammberger, als spreche er zu sich selber. Und leiser fügt er hinzu: »Ja, jetzt glaub' ich's, daß es Wunder gibt!«

Und ehe sich's der Pfarrer versieht, ist er weg.

Der Pfarrer ist entsetzt, versteht nicht, eilt ihm nach. Doch vergebens: Klausens Beine sind flinker als die seinen. Als er über die Treppe hinab an seine Haustüre gelangt, ist Klaus nicht mehr zu sehen.

Wohin war er wohl gegangen? Der Heerstraße entlang der Bahnstation zu? Ja, so war's. Eben kamen ein paar Leute des Weges, die hatten ihn gesehen, einen schmucken jungen Herrn mit blondem Schnurrbärtlein und braunem Mantel, der eiligen Schrittes talwärts ging.

Traurig, kopfschüttelnd kehrte der Pfarrer in sein Archiv zurück. Bebend vor innerer Erregung beugte er sich über das aufgeschlagene Buch ... Und nun auf einmal, als er den unberührten Namen darin sah, wurde ihm alles klar. Klaus hatte zuerst die eingetauchte Feder weggelegt, und dann zum zweiten Male in seiner Aufregung eine andere Feder ergriffen und sie ins leere Tintenfaß getaucht. Und das war alles. Und das hatte er für ein Wunder gehalten!

O, wie leid tat es dem Pfarrer, daß Klaus so rasch das Weite gesucht hatte! Und wer weiß, was er nun in seiner Aufregung anfing? Und es wäre jetzt doch so schön und fruchtbringend gewesen, mit ihm einen regelrechten Disput anzufangen. Und vielleicht hätte er jetzt eher gehört. »Schau, mein guter Klaus, die großen Wunder Christi, an die neunzehn Jahrhunderte geglaubt haben, die leugnest du und machst dir dafür ein Wunder zurecht aus einem vertrockneten Tintenfaß und aus einer verbrauchten Feder!« Aber es ließ sich nichts machen! Der Rammberger Klaus war nun einmal weg!

Am folgenden Tage ging der Pfarrer nach Mals und erzählte dem Pater Lucius die ganze Geschichte. Der strich sich schmunzelnd den langen weißen Kapuzinerbart und meinte: »Lassen Sie dem Herrgott Zeit! Vielleicht wird doch noch ein Wunder aus Ihrer verrosteten Feder und Ihrem vertrockneten Tintenfaß!«

Monate vergingen. Oft und oft war der Pfarrer von Taufers daran, an den von Außersill zu schreiben, was es wohl mit Nikolaus Rammberger sei und ob er wirklich die reiche Witwe gefreit habe. Aber er könne an der Sache doch nichts mehr ändern, meinte er, und so verschob er den Brief von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Ein Jahr später schrieb Klaus Rammberger selber und er bat ihn um Ausfolgung der nötigen Papiere. Denn er sei daran zu heiraten, und zwar eine liebe, junge, katholische Luzernerin. Die reiche Witwe aber und ihr Geld habe er fahren lassen und bereue es nicht. »Und Gott sei Dank«, schloß der Brief, »daß ich noch in Ihrem Taufbuch stehe!«

 

Einleitung aus Urheberrechtsgründen nicht aufgenommen. Re


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