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Die Totennadel

»Vater, wie lebst?« fragte des Bartlhofers Luzia, während sie leisen Schrittes die Krankenstube betrat.

Düstere Sorge lag auf dem lieblichen Mädchengesichte. Seit der Vater sich beim Holzfällen im Berge droben so durchnäßt hatte, wollte er sich gar nicht mehr erholen; er fieberte und hüstelte und nun mußte er gar schon seit Tagen zu Bette bleiben. Die Hauswurzenburgel, die am ganzen Berge das Amt einer Heilkünstlerin versah, hatte alle ihre Mittel und Mittelchen an ihm versucht und wohl ein dutzendmal versichert, dieses oder jenes habe geholfen. Aber das sagte sie wohl nur, um zu trösten, denn in den Nachbarhöfen sprach sie die Besorgnis aus, der Bartlhofbauer habe die Klumper. Der Luzia war das zu Ohren gekommen, doch sie mochte es nicht glauben; der Vater hatte eine gute Natur, und das Beten würde wohl auch helfen. War doch eben heute die Mutter auf den Freienbichl gepilgert, durch Schnee und Eis, um von der lieben, mächtigen Himmelmutter des Vaters Genesung zu erflehen.

»Wie lebst denn, Vater?« wiederholte das Mädchen zärtlich, während sie sich über den Kranken beugte. Der schaute mit einem innigen Blicke zu ihr hinauf und seufzte leise: »Luzzele, ich werd' nimmer.«

Sie zuckte zusammen. »Sell derfst nit sagen, Vater!«

»Ich muß es wohl sagen, muß sorgen und denken. Und heunt kann ich einmal allein mit dir reden, Kind. Setz dich her und tu auflosen.«

Gehorsam schob sie einen Stuhl an sein Bett und wartete, was er sagen würde. Ziemlich lange mußte sie warten, er hatte wieder einen seiner schmerzlichen Hustenanfälle. Erst nachdem sie ihm etwas Hollersaft gereicht hatte, wurde ihm leichter. Er faßte ihre Hand und sagte leise, aber feierlich: »Luzza, tu bald heiraten ... du weißt schon ...«

Sie nickte stumm. »Du siehst ihn nit ungern«, fuhr er fort, »gelt Luzza?« Wieder ein Nicken, von unterdrücktem Schluchzen begleitet. »Einen Bessern als wie den Thomas kriegst nit ... Und nachher schaugst mir halt aufs Ursele und auf die Muetter.«

»Die Muetter laßt dich nicht sterben, Vater«, warf das Mädchen ein.

Er hatte ein müdes, trauriges Lächeln. »Wenn's Ursele ein Bübel war', nachher derfet ich schon sterben.«

Luzia senkte die Augen und schwieg. Sie verstand ja, was der Vater meinte, sie verstand es, obwohl sie mit ihren achtzehn Jahren unbefangen war wie ein Kind. Ja, ein rechtes Kind ihres Vaters war sie; und herzensgut und arglos. Ach, wäre er nicht ein so argloser Mensch gewesen, der Martin vom Bartlhofe, er wäre nie an sein zweites Weib geraten.

Hoch droben am Berge hauste er, der Bartlhofer. Da sind die Menschen dem Herrgott näher, aber der Weltklugheit ferner. Ein Großbauer war er nicht, gewiß nicht, denn die Umgebung von Sankt Leonhard gehört zu den Gegenden, wo nur der Stubenboden waagrecht ist. Aber wenn man das Aufwärts- und Abwärtsspringen nicht scheut und die Arbeit nicht flieht, dann gedeiht eben doch etwas, denn die steilen Hänge brauchen nicht Durst zu leiden. Überall blinkt und sprudelt es silberhell zwischen den fetten Gräsern, nach denen die graue Zunge des Weideviehs lüstern langt. Ein schönes Heimatl war er trotz allem, der Bartlhof. Vom Söller lachten die rotblühenden Blumenstöcke und an der Hauswand stieg ein Zwetschkenbaum empor und bot im Herbste seine süßen, blauen Früchte dar. Am Hause angebaut war der Stall und daneben der Getreidekasten, wo man den lieben Gottessegen verwahrte, der auf den steilen Äckern gewachsen war. Überfluß gab es hier nicht, aber immer genug zum Sattessen; und der Martin hauste zufrieden, wäre sogar ein vollkommen glücklicher Mensch gewesen, hätte der Herrgott seinem Töchterle nicht die liebe Mutter allzufrüh genommen. An ihrer Statt waltete Vef im Hause, die große Dirn, ein gestandenes Menschl; die kleine Dirn, das Moidele, war ein williges, geführiges Ding und das kleine Luzzele war des Vaters Freude.

Der Bartlhof war nicht weit vom Leonhardskirchlein entfernt, doch lag dazwischen eine Talschlucht. Ein lustiges Wässerlein hatte sich hier eine Bahn gefurcht; man mußte tief hinab und auf der anderen Seite steil hinauf, wollte man zum Kirchlein kommen. Und dann gab's dort erst keinen Geistlichen. Nur jeden zweiten Sonntag kam einer von der Pfarre Sankt Andrä herüber, um Gottesdienst zu halten. Der Bartlhofer-Martl aber war ein Betender, darum zog's ihn Sonntags hinab in die liebe Bischofsstadt, wo er eine lange, schöne Predigt haben konnte und ein Hochamt mit mächtig lauter Musik. Und darauf freute er sich die ganze, lange Arbeitswoche. Nach dem langen Kirchen tat ihm aber eine Stärkung not und darum kehrte er jeweils beim Guldenen Adler an der Eisackbrucken ein. Das war nun freilich eine gar fürnehme Tavern und Hans Peisser, der Gastgeb, redete gern von den hohen Herrn, die einst hier eingekehrt waren; sogar vom Kaiser Maximilian wollte er es behaupten. Aber für das schlichte Bauernvolk gab's ja doch eine Schwemme, wo man für ein Billiges einen süffigen Schabser haben konnte.

Nun hatte Hans Peisser eine Bruderstochter, namens Gertraud, die ihm in Haus und Wirtschaft wacker beistand. Sie war nicht mehr eine von den Jüngsten, und von den Schönsten schon gar nicht, hatte vielmehr einen kropfigen Hals und auf der Oberlippe ein rotes Bärtl, weshalb keiner von den vielen, die hier einkehrten, bei ihr angebissen hatte. Sie war aber entschlossen, nicht immer eine Jungfrau zu bleiben, vielmehr sich ein eigenes Königreich zu schaffen, und wäre es auch ein kleines. Der alte Peisser, ihr Ohm, pflegte sie zwar das Kind im Hause zu nennen, doch das war es eben! Kinder müssen folgen, sie aber wollte regieren, und wär es auch nur in einem Berghöfl. Und da sie ein Herz im Leibe trug, wenn auch ein vierzigjähriges, und da der Bartlhofer, der allsonntäglich zum Guldenen Adler kam, ein gar schöner, stattlicher Mann war und dazu die gute Stund selber, so faßte sie den Entschluß, ihn zu heiraten. Niemand durfte dem Bartlhofer sein Schabser Weinl und sein saures Süppl bringen, als nur sie allein, und dann blieb sie immer lange Zeit bei ihm stehen, fragte nach seinen Äckern und Wiesen, nach seinen Kühen und Schweinen, und bedauerte ihn, daß er seine brave Bäuerin verloren habe. »Ein Hof ohne Bäuerin ist wie ein Haus ohne Dach«, seufzte sie. Ganz besonders aber jammerte sie über sein Töchterlein, das so früh ohne Mutter dastehe, und redete ein Langes und Breites über die verschiedenen Tugenden, die eine Mutter haben müsse, um ein Mägdlein christlich und gut zu erziehen. Der Martin hörte der Gertraud gelassen zu, löffelte an seiner Suppe, schlürfte an seinem Weinl und dachte nichts Arges. Als sie aber eines Tages offen erklärte, daß sie, Gertraud Peisser, obwohl aus ratsbürgerlichem Geschlechte entsprossen, aus lauter Mitleid mit dem mutterlosen Kinde sich entschließen wolle, das schwere, hausmütterliche Amt am Bartlhofe auf ihre Schultern zu nehmen, war der gute Martin ob solch unerwartetem Heiratsantrag dermaßen vor den Kopf geschlagen, daß er keinen anderen Ausweg fand als eine stotternde, zagende Zustimmung.

Und so wurden der Martin und die Gertraud Mann und Weib.

Die Gertraud brachte ins neue Heim zwar keine klingende Münze mit, wohl aber eine große Truhe von Hausgesponnenem und ein zierliches Trüchlein voll Arbeitssachen. Da drinnen war Nähzwirn, so fein gesponnen, daß man nur staunen mußte; ferner zwei schöne Scheren, eine große zum Zuschneiden und eine zierliche kleine, ein Fingerhut aus reinem Silber und ein fein gedrechseltes Büchslein aus Buchsholz mit zwölf Nähnadeln, einigen gröbern und einigen wunderfeinen, daß man gar nicht wußte, was man damit nähen solle. Wie staunte das Luzzele beim Anblick! Denn ihre verstorbene Mutter hatte ihr nur drei Nadeln hinterlassen und davon fehlte an einer die Spitze und an einer war das Ohr zerbrochen, und so war's eigentlich nur eine, die das Luzzele besaß und als kostbaren Schatz hütete. Ja, die zweite Mutter war freilich eine Fürnehme!

Eine Fürnehme und eine Entschlossene, die den festen Willen mitbrachte, am Bartlhofe als uneingeschränkte Herrin zu walten. Als sie dort einzog, war's Herbst; an den Steilhängen dorrten die Plenthocker. Das mutete sie fremd an. Sie hatte ja die Bergbauernhöfe immer nur vom Tale aus gesehen und konnte sich in diese ganze Wirtschaft nicht finden. An den plentenen Knödeln fand sie keinen Gefallen und meinte, man solle doch irgendwo einen Weizenacker anlegen. Mit den Ehalten aus einer Pfanne essen, das ging ihr schon gar nicht ein und auf einem Strohsack zu schlafen, schien ihr schrecklich: sie mußte durchaus eine gute Roßhaarmatratze haben, wie man sie in der Stadt hatte. Auch sonst begehrte sie allerlei Neues und Unerhörtes, und wenn der Martin zögerte und mit ihren Vorschlägen nicht gleich einverstanden war, dann rieb sie's ihm kräftiglich unter die Nase, welch großes Opfer sie gebracht, sie, eine leibhaftige Guldenadlertochter, ihm auf sein Berghöfl zu folgen.

Der gute Martin, der nichts auf Erden so sehr haßte, wie Zank und Streit, wäre vor seiner Gertraud völlig hilflos dagestanden, hätte nicht Thomas, der Knecht, die stolze Hausfrau zuweilen in ihre Grenzen verwiesen. Wenn sie gebieterisch bestimmen wollte, wie man diesen oder jenen Acker zu besäen habe, oder welche Mast für die Schweine tauge, und welches Tränklein für die Kälberkuh, dann stellte sich der Thomas zwischen sie und ihren Mann und sagte gelassen: »Bäuerin, schaffen tut der Bauer«, und ließ sich nichts dreinreden und ließ sie auch merken, daß sie von diesen Dingen nichts verstehe. Nur die Sorge für die Hennen überließ er ihr widerstandslos, denn Hennen sind eine Sach', die das Weibsvolk angeht. Auch hatte Gertraud, als sie noch beim Guldenadler war, schon den Hühnerhof beim Guldenadler betreut. Man kann sich wohl denken, daß der Thomas bei der neuen Hausfrau nicht in Gnade stand; sie hätte ihn lieber heute als morgen zur Türe hinausgeworfen. Doch in dieser einen und einzigen Sache ließ der Martin nicht mit sich reden, denn der Thomas war ihm ans Herz gewachsen wie ein leiblicher Sohn.

Er war aber auch kein Hergelaufener, der Thomas, wie der nächstbeste Bauernknecht, sondern gutes, echtes Bauernblut war er. Seine Eltern hatten in Lüsen einen schönen Hof besessen, sie waren aber früh gestorben und gewissenlose Verwandte hatten Hab und Gut des armen Buben verschleudert. Da brachte ihn der Lüsener Pfarrer auf den Bartlhof und dort wurde er gehalten wie das Kind im Hause, so daß er darob seine alte Heimat vergaß. Und nun war er ein kräftiger Mann geworden und schaffte nicht wie ein gedungener Knecht, sondern als wäre es sein eigen Hab und Gut.

Ein Jahr nachdem sich Martin unter das Joch seiner zweiten Ehe gebeugt hatte, stand am Bartlhofe ein putziges Dirndlein ein. Martin freute sich des Kindes, Gertraud aber war bitter enttäuscht, denn sie hatte einen Erbprinzen ersehnt. Ihr einziger Trost war, daß noch einer Nachkommen könne und sie hatte für diesen Fall der Liebfraue auf dem Freienbichl eine zweipfündige Wachskerze versprochen. O ja, die Liebfraue würde schon ein Einsehen haben! Freilich ängstigte sich Gertraud nun auch um den Zustand ihres Mannes, mit dem es nicht zum besten stand. Seit einiger Zeit ging Merkwürdiges mit dem guten Martin vor. Es hatte ihm in einer dunkeln Adventnacht von einem trüben Wasser geträumt und das bedeutet bekanntlich baldigen Tod. Und weil ihn der böse Traum so erschreckt hatte, kehrte er immer wieder, nur war es bald eine Lacke am Weg und bald ein Tümpel, wo Frösche quakten, und bald gar die Brixener Wiere, die so schmutzig dahinrann, als habe man alle Kehrtafeln der ganzen Stadt hineingeleert. Und nun war der Mann richtig krank geworden und dachte gar nicht ans Gesundwerden. Nur daran dachte er, was wohl am Bartlhofe sein würde, wenn er einmal auf dem Freithof läge.

Ja freilich, was würde mit seinem Hofe sein und was mit seinem Luzzele? Das Luzzele war wie ein Schäflein, das sich nicht zur Wehr setzt, und wenn sie auch Hoferbin war vor Gott und der Welt, die Stiefmutter würde es schon verstehn, sie zur Magd herabzudrücken. Und da mußte er Vorsorge treffen.

»Luzzele, wo ist denn der Thomas?« fragte er.

»Im Stadel, Vater.«

»Was tut er denn im Stadel?«

»Gsottschneiden.«

»Sell kann er später auch tun. Ruf ihn her – geschwind!«

Ja freilich geschwind! Martin mußte die Stunden nützen, da sie nicht um ihn war.

Nun standen sie vor ihm, das Luzzele und der Thomas. Der Kranke blickte dem treuen Knechte fest ins Auge. »Du weißt schon, Thomas.«

»Ja, Bauer«, erwiderte Thomas ernst.

»Und du weißt's auch, Luzza.«

Sie nickte stumm ergriffen.

Der Kranke richtete sich in den Kissen ein wenig auf. »Aber bald, bald!« drängte er. Dann sich besinnend: »Ja, ja, jetzt fangt die gesperrte Zeit an, in zechen Tag ist Aschermittwoch. Geschwind after Ostern nachher!«

Luzia wollte sich sträuben. »Vater, wenn's wirklich Gottes Willen wär' ... Vater, wenn du wirklich sterben tätest, ich könnt' an keine Hoazet nit denken.« Doch Thomas begriff die Sorge des Schwerkranken. »Wir halten keine Hoazet nit, wir gehn lei nach Trens.«

Dem Kranken war's recht. »Aber versprechen ... «, er streckte die Hand aus. »Geschwind nach Ostern nachher ... nit länger warten ...«, und die zitternde Hand wartete, bis zwei andere Hände einschlugen. Dann erst seufzte der Kranke erleichtert auf.

Inzwischen kniete die Bartlhoferin vor dem Gnadenbilde am Freienbichl. Ganz allein kniete sie da und das war ihr eben recht; dann hätte die Muttergottes nur Ohren für sie, für ihr großes, einziges Anliegen. Hoch erhoben hielt Gertraud die flehenden Hände und wenn sie ihr sinken wollten, dann riß sie sie empor mit verzweifelter Gebärde und lispelte zuerst und sprach es dann laut aus und immer lauter und zuletzt war's ein Schrei: »Himmelmutter, hilf!«

Mehr sagte sie nicht. Die Muttergottes würde schon verstehen. Ein Wunder sollte sie wirken, sollte den Mann gesund machen, den schwerkranken, und ihnen dann den heißersehnten Buben schenken. Und war erst ein strammer Hoferbe da, dann, o dann mochte der Himmel mit dem Bartlhofe anfangen, was er wollte.

Endlich hob sich Gertraud von den Knien. Es war Zeit zum Heimgehn, wollte sie nicht in die Dunkelheit kommen. Hinter ihr verglühten die Bergspitzen des Aferertales, vor ihr tauchten die Wälder der Plose in die Nacht. In ihrem Herzen war fröhliche Zuversicht. Eine Wallfahrt, wie sie sie gemacht hatte, ein so weiter und einsamer Weg über kalte, eisige Pfade, das war etwas Großes, da konnte man sicher sein, Erhörung zu finden. Und vielleicht war sie schon erhört worden, vielleicht war inzwischen das Wunder schon geschehen, vielleicht war der Kranke schon etwas kräftiger geworden, vielleicht etwa gar schon geheilt. – Warum sollte die Muttergottes vom Freienbichl nicht etwas Besonderes tun für eine Guldenadlertochter?

Doch als Gertraud zum Bartlhof hinanstieg, schlug ihr verworrenes Geräusch ans Ohr. Wie Beten und Schluchzen klang es.

Der Martin war eben gestorben.

Als der gute Vater so rasch in die Züge griff, war es für Luzia ein großer Schrecken. Dennoch hielt sie sich tapfer, blieb an der Seite des Sterbenden knien und sprach ihm kurze Gebetlein vor. Unterdessen ging Thomas hinaus, um die Ehalten und das kleine Ursele zu rufen; die Vef mußte es erst aus dem Bettlein holen ... Sie sollten alle beim sterbenden Hausvater beten und taten es auch; sogar das Ursele faltete recht lieb seine Patschhändlein. Luzia bat den Vater um seinen Segen für sich und das Schwesterlein; da hob er langsam die erkaltende Hand, wie um ein Kreuz zu machen, und tat seinen letzten Seufzer.

Nun kniete alles um sein Bett, betend und weinend. Es war eine friedliche Trauer. Da wurde die Tür aufgerissen und wie ein Wirbelwind stürmte es herein – die Bäuerin! »Was, sterben habt's ihn mir lassen!« schrie sie auf, als man ihr den Toten zeigte. Dann warf sie sich über ihn, heulend und schluchzend und bekundete so ihren Witwenschmerz. Luzia suchte zu trösten, brachte aber nicht viel über die Lippen; Thomas aber, der immer wußte, was nottat, zündete eine Laterne an und ging stracks hinüber zum Leonhardskirchlein, denn in dem kleinen Hause, wo der Meßpriester zu nächtigen pflegte, wenn in der Kirche Gottesdienst war, hatte die Hauswurzenburgel ihr Kämmerlein, und die suchte der Thomas auf. Die Burgel sorgte nämlich nicht nur für die Kranken und Bresthaften, sondern auch für die Toten.

Festen Schrittes betrat sie die Stube, wo der Martin lag. Zunächst beugte sie sich über ihn und horchte, ob noch ein Atemzug zu vernehmen sei. Dann zog sie ein Fläumchen aus seinem Kopfpfühl und legte es auf seinen Mund, und als sich das Fläumchen nicht bewegte, war ihre Totenbeschau abgetan. Und nun griff sie mit ihrer wuchtigen Hand in das Weihbrunnkrügel neben der Türe und besprengte die Leiche mit einem lauten: »Herr, gib ihm die ewige Ruh!« worauf die Anwesenden gebührend Antwort gaben.

Jetzt wandte sich Burgel an die Bäuerin, deren lauter Jammer bereits verstummt war, und begehrte Nadel und Faden. Gertraud trat ans Fenster, wo ihr Arbeitskorb stand, und griff zu ihrem Nadelbüchschen. Dann prüfte sie sorgsam den Inhalt. Die beste Nadel wollte sie gerade nicht herlassen, aber sieh, da war ja eine, die hatte einen kleinen Rostflecken oberhalb der Spitze, die würde gerade recht sein. Zugleich schnitt sie ein tüchtiges Trumm Nähzwirn ab. Luzia mit ihren frischen jungen Augen mußte das Einfädeln besorgen und dann machte sich Burgel flugs an ihr trauriges Werk. Sie schlug Federbett und Decke zurück, nahm dem Toten das Pfühl unterm Kopfe weg, und schlug das Leintuch über ihm zusammen. Da schluchzte Luzia laut auf, daß das liebe Gesicht so rasch verdeckt werde, und zog das Leintuch wieder weg, um einen letzten Blick auf den Vater zu tun, wurde aber von der Stiefmutter, die ihre volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, ernst zurechtgewiesen. Da schlich das arme Ding weinend zum Herrgott in die Stubenecke und drückte sich dort an die Wand.

Nun nähte Burgel mit weiten Stichen das Leintuch über dem Toten zusammen, wobei ihr die Bäuerin von Zeit zu Zeit ein neues Stück Faden reichte. Unterdessen zimmerte Thomas mit Hilfe des Stallbuben das Rechbrett zurecht und sobald der Tote eingenäht war, hoben sie ihn hinauf. Darauf zündete Burgel zu Füßen der Leiche ein Lämpchen an und fragte, wer wohl heute nacht die Totenwache übernehme.

Thomas sagte, das übernehme er; Luzia aber, die wohl auch gerne geblieben wäre, mußte im Auftrag der Mutter das Ursele zu Bette bringen. Gehorsam hob sie das schlaftrunkene Kind auf ihren Arm und ging damit hinaus, während die Hausmutter an einen Wandschrank trat, um eine Flasche Kirscheler herauszunehmen, denn sie wollte der Hauswurzenburgel eine Labung reichen.

Da wandte sich Burgel an sie und hob die Nadel, an der noch ein Fadenrestchen hing, mit tiefernster Miene empor. »Gib acht darauf, Bäuerin«, mahnte sie, »es ist itzt eine Totennadel!«

Gertraud sah die Alte fragend an. Sie hatte wohl schon sagen hören, daß es mit den Nadeln, die man zum Einnähen einer Leiche gebraucht habe, eine besondere Bewandtnis habe, doch Näheres wußte sie nicht. Aber schon gab Burgel auf ihre stumme Frage Bescheid. »Mußt recht achtgeben drauf« wiederholte sie. »Weißt, wenn sich eins damit stechen tät, müßt's gach sterben«.

Der Gertraud gab's einen Ruck; sie scheute sich, die Hand nach so einem Mordinstrument zu strecken. »Wo tät ich sie denn mei vergraben?« fragte sie schaudernd. Burgl beruhigte sie. »Sell dauert lei aso lang, bis der Tote faul ist; dann bringt a Totennadel Glück ins Haus.« Das ließ sich hören, – Glück kann man immer brauchen, auch wenn man eine trauernde Wittib ist. Gertraud nahm also die Nadel mit gehöriger Vorsicht zwischen zwei Finger und steckte sie in ihr Nähkissen, steckte sie so tief hinein, daß sie bis übers Öhr darin versank. An ihrem Faden konnte man sie ja herausziehen, sobald der Tote vermodert wäre. Wie lange das wohl dauern würde? Einige Monate lang mußte man sich jedenfalls vor der Nadel hüten ... vor der Totennadel!

Zwei Tage nach seinem friedlichen Hinscheiden wurde Martin, der Bartlhofer, im Schatten des Leonhardskirchleins zur geweihten Erde bestattet.

Es kamen viele Andächtige zur Leichenfeier, manche sogar aus der Stadt herauf, die meisten aber doch vom Berge, darunter die alte Stockerin, Luzias Taufgotl, ein gar frommes, wackeres Weiblein aus Sankt Andrä. Gertraud hielt zwar, während der Geistliche psalmodierte ein großes Schneuztuch vors Gesicht gepreßt, benahm sich aber sonst ruhig und würdig, wie es einer Wittib geziemt, die sich ihre künftige Lage überlegt hat.

Und das hatte sie auch. Und wenn sie's recht bedachte, hatte sich diese Lage durch des Mannes Tod keineswegs verschlechtert, im Gegenteil. Wohl fehlte der männliche Erbe, in dessen Namen sie regieren konnte, doch Luzia, die Hofbesitzerin, war immer ein fügsames Kind gewesen, mit dem sie anfangen konnte, was sie wollte, und mit ihrem ständigen Gegner, dem Thomas, würde sie bald fertig werden.

Bald nach der Beerdigung traf es Lichtmeß. Das schien ihr eine gute Gelegenheit, um zu zeigen, daß sie und sie allein auf dem Hof zu schaffen habe, und daß sie und eben sie den Ehalten den ausbedungenen Lohn zu reichen habe. Dem Stallbuben, dem Kassel, drei Gulden und ein paar Schuhe, dem Moidele ebensoviel, der Vef fünf Gulden und zehn Ellen Hausloden zu einem Wifling, dem Thomas zehn blanke Silbergulden samt einer hirkenen Hose und einem wollenen Leibl. All das wurde den einzelnen Ehalten mit einem würdevollen: »Geh!« überreicht, vor dem Thomas aber pflanzte sie sich feierlich auf und sprach: »Thomas, du weißt schon, wir passen nit zusammen, wirst itzt lei gehn mögen.«

»Hab's dir grad sagen wollen, Bäuerin, daß ich morgen geh«, versetzte Thomas ruhig. »In den Widum von Sankt Andrä geh ich für etliche Wochen, weil sich der Knecht dort getückt hat.«

Gertraud hatte grobe Worte erwartet oder eine demütige Bitte. Jetzt blickte sie den jungen Knecht verdutzt an. Dann murmelte sie, halb verlegen, halb gedankenlos: »Ich wünsch dir einen guten Platz, Thomas.« Im Widum von Sankt Andrä war er ja nur zur Aushilfe.

»Einen Platz?« wiederholte Thomas. »Hat denn die Luzia dir nichts gesagt?«

Gertraud riß die Augen auf. Was meinte er nur? Ach, jetzt erinnerte sie sich, daß ihre Stieftochter vor etlichen Tagen, als sie allein beisammen waren, halb verschämt geflüstert hatte: »Muetter, ich möcht dir eppes sagen.« Aber es hatte sie nicht sonderlich gewundert und in diesem Augenblicke kam gerade das Ursele mit ihrem hellen Lachen in die Stube herein und da hatte sie vergessen, nach Luzias Anliegen zu fragen. Jetzt aber wurde ihr die Sache unheimlich, sie wußte nicht recht, warum. »Was hätt mir die Luzza denn sagen sollen?« fragte sie und ihre Stimme zitterte ein wenig.

Thomas aber erwiderte, als handle es sich um das einfachste Ding von der Welt.

Gertraud begriff nicht, wollte vielleicht auch nicht begreifen, stammelte nur: »Was? ... was? ...« Dann schlug sie plötzlich die Hände überm Kopfe zusammen. »Heiraten? ... heiraten?« und lachte. Doch fröhlich klang dieses Lachen nicht.

Nein, fröhlich nicht! Hatte sie sich doch in den wenigen Tagen seit Martins Tode alles so schön, so friedsam zurechtgelegt und ausgeklügelt. Sie würde auch ferner am Hofe schalten und walten wie bisher, ja, nur noch kräftiger. Denn Luzia mußte ledig bleiben so lang, ja, so lang als sie es haben wollte und Thomas, oh, ganz selbstverständlich, Thomas mußte aus dem Hause.

»Wir haben's dem Vater versprochen, grad eh er gestorben ist«, sagte Thomas ruhig.

»Da ... da ... da ... werd' ich schon auch noch etwas dreinzureden haben«, lallte Gertraud und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Weitere Worte fand sie nicht. Ihr schwindelte, die Stube tanzte um sie her, sie meinte, es habe sie der Schlag gerührt. Wild wie aufgepeitschte Wogen tobten die Gedanken. War das die Frucht ihrer harten, winterlichen Wallfahrt, ihrer heißen Bitten, ihrer Tränen vor dem Gnadenbilde, daß unterdessen der Thomas, ja, ausgerechnet der zum Herrn und Gebieter am Bartlhofe bestellt wurde? Nein, das konnte nicht sein, nein, das würde sie nicht zulassen, nein, dagegen würde sie sich stemmen und sträuben bis zum letzten Atemzuge. Und nun richtete sie sich auf und um sie her wurde es heller und freier. Bis Ostern hatte sie ja noch Zeit, bis Ostern war's ja noch lange, da würde noch viel Wasser die Rienz und den Eisack hinunterfließen und manches, das jetzt klar und sicher schien, konnte zerrinnen wie flüchtiger Dunst.

Sie hatte sich jetzt wieder voll in der Gewalt. »Weiß nit, seid's narret alle beide! So jung wie die Luzza ist! Ein glattes Kind! Und heiraten, eh der Vater noch kalt ist! Schamt's enk nit? Was werden denn die Leut sagen?«

Thomas schwieg und zuckte die Achseln. Das Gerede der Leute war ihm offenbar einerlei. Aber Gertraud glaubte schon zu wissen, was der Stieftochter das Heiraten verleiden würde; sie ließ jetzt das grobe Geschütz auffahren. »Wißt's, was sie sagen werden, die Leut'?« fuhr sie den unerwünschten Stiefschwiegersohn an, »daß ös heiraten müßt's, sell werden sie sagen«, und stolz schaute sie sich in der Stube um, ob wohl die Vef und das Moidele und der Kassel ihre Worte gehört und richtig verstanden hätten und auch bereit wären, sie herumzutragen. Und während Thomas, wortkarg wie immer, stumm sein Zeug zusammenraffte und sich zum Gehen wandte, stand sie auf und sagte, wie zu sich selber sprechend, aber mit lauter Stimme: »Na, sell leid' i nit, daß die Luzza am ganzen Berg schlecht gemacht wird, i leid's nit, i bin die Muetter.«

Im nächsten Augenblick schrie sie den Stallbuben an: »Mach di außi, Kassel!« Dann gebot sie der Vef: »Ruf mir die Luzza, g'schwind!« Doch die Ausführung des Befehles wartete sie nicht ab, sondern stürzte selbst hinaus und erfüllte das ganze Haus mit dem dröhnenden Rufe: »Luzza! Luzza!«

Da kam die Luzza eben vom Stalle herüber, den vollen Milchstoß tragend. Sie bemerkte sogleich die Aufregung der Bäuerin. »Muetter, was ist denn?« fragte sie ängstlich.

»Ja was wird denn sein?« rief Gertraud heiser. »Narret seid's alle beide, du und der Thomas. Fallt enk wirklich nix Gescheiteres ein? Hast du's wirklich aso gnötig, du mit deine achtzehn Jahr'? Hast epper wirklich schon den ledigen Unwillen?« Und dann kam gleich wieder der Haupttrumpf: »Oder wirst wohl epper heiraten müssen

Eine tiefe, unwillige Röte flog über das schöne junge Gesicht ..., während das Mädchen hinter der Stiefmutter her die Küche betrat und den vollen Eimer auf den Anrichtetisch stellte. »Sorg dich nit wegen meiner«, gab sie ernst zurück. »Mit meinem Kranz werd ich kopuliert und nit anders.«

Jetzt kam aber gleich der zweite Trumpf. »Aso g'schwind nach dem Vater seiner Leich! Was werden die Leut sagen?«

»Die Leut sollen lei reden. Ich tu, was der Vater mich geheißen hat«, sagte Luzia mit fester Stimme. Sie wolle keine frohe Hochzeit wie andere Bräute, sie brauche auch keine Aussteuer. »Mein Feiertagsgewand ist noch gut und meine Feiertagsschuh auch. Grad ein Brautpfoad könnt' ich noch brauchen.« Aber da habe sie schon dazu die Leinwand von ihrer seligen Mutter her.

» Ich bin jetzt deine Mutter!« rief Gertraud. »Und was ich sag, danach fragst nit.«

»Meinem Vater muß ich folgen«, gab Luzia zurück. Und dann ging sie hinaus.

Gertraud stand wie versteinert. War das denn noch die Luzia, wie sie immer gewesen war, das stille, zage, willenlose Ding, das immer nur ja gesagt und nie eine Widerrede gekannt hatte? Sie hatte doch ganz sicher darauf gerechnet, Tränen und Drohungen würden sie schnell erschrecken, würden sie dazu bringen, die Verlobung rückgängig zu machen oder wenigstens einen Aufschub zustande bringen – aufgeschoben ist ja auch meist aufgehoben. Aber nein! Der Vater hatte die Heirat gewollt, der leibliche Vater, und Luzia ließ deutlich fühlen, daß sie ihrer Stiefmutter in dieser Sache keinen Gehorsam leisten wolle. Das Herz des stolzen Weibes bäumte sich auf in zornigem Weh. Fluchen hätte sie ihm mögen, dem stillen Toten droben am Freithof beim Leonhardikirchlein. Solange er lebte, hatte er ihr in allem nachgegeben, hatte nie ein unsanftes oder gar herrisches Wort für sie gefunden, hatte sie immer als eine Höhergeborene geachtet – sterbend aber hatte er ihren Feind über sie gesetzt. War das zu ertragen? Nein, sie würde es nie ertragen.

Seit des Vaters Tode hatte Luzia die Schlafkammer mit der Stiefmutter geteilt, weil die es so gewollt hatte – jetzt wollte sie es nicht mehr. Jetzt wollte sie allein sein mit ihrem Kinde, das so harmlos in seinem Bettlein schlief und es nicht hören würde, wenn die Mutter ihren Jammer in die Kissen hineinschluchzte.

Diese Nacht konnte Gertraud kein Auge schließen. Bald wälzte sie sich herum wie eine Fiebernde, bald heulte sie wie ein zorniges Kind. Dazwischen stieg wohl auch eine leise Hoffnung in ihr auf. Thomas würde morgen den Hof verlassen, Luzia würde ihn dann nicht mehr sehen oder nur ganz selten, und vielleicht konnte es ihr gelingen, ihre Macht über das Mädchen wiederzugewinnen. Aber diese Vielleicht waren wie zerplatzende Seifenblasen. Und wenn es ihr nicht gelang? Wenn Luzia blieb, wie sie am Abend gewesen? Wenn es immer wieder hieße: Ich hab's dem Vater versprochen? Und wenn dann endlich die Osterzeit käme und der neue Bauer aufzöge, und wenn man sie, die Gertraud vom Guldenen Adler ins Austragsstübl verwiese, was dann ...?

Dann lieber sterben!

Sterben, wirklich sterben! Gab's keinen andern Ausweg?

Und wenn schon jemand sterben mußte, warum gerade sie? Warum nicht eine andere?

Da fuhr's ihr durch den Kopf wie ein Blitz. Die Totennadel ...!

Die heilige, die ernste Fastenzeit war angebrochen. Die Priester hatten den Gläubigen Asche in die Haare gestreut und »Memento, homo« gesprochen. Und nun hatten unter den Herdhauben Henkel und Hauswürste gute Ruhe. Aus den plentenen Knödeln lachten keine Speckwürfel mehr und keine glänzenden Schwarten bargen sich im alltäglichen Sauerkraute. Eine harte Entbehrung für die Bergbauern, die einer kräftigen Kost bedurften!

Niemand aber hatte eine schwerere Fastenzeit durchzumachen als die Luzia vom Bartlhof. Täglich gabs neue Auftritte, bald kläglich tränenreiche, bald gröblich wüste. »Mein guts Kind, an söllen hergelaufenen Menschen willst nehmen? Du tätest einen brauchen, der etwas hat. Mit dem Bartlhof alleinig kannst nit leben. »Verhungern müssen wir alle!« Und dann ging das Weinen los. Oft beklagte Gertraud laut schluchzend ihr eigenes, unverdient bitteres Los. Man hätte meinen mögen, sie sei von einem Fürstenthrone herabgestiegen aus reinem Mitleid mit dem verwaisten Bartlhofer Luzzele. »Meinst epper, Luzza, ich hätt' deinen Vater genommen, wo ich aus ratsbürgerlichem Stand bin? Ist mir nit leicht g'fallen, auf den Berg da heraufzuziehen, aber ich hab's dechter gewagt, weil du mir soviel derbarmt hast, weil ich gesehen hab, daß du eine Mutter brauchst. Und itzt hab ich den Lohn für meine Gutigkeit und mein Mitleid, jetzt kann ich essen, was ös übrig laßt's und mein Ursele kann einmal für den Thomas Dirn machen ... oh ...! oh ...!« Und dann ging ein krampfhaftes Weinen und Heulen an, das alle Beschwichtigungsversuche Luzias übertönte. Zuweilen auch drohte Gertraud mit dem Unsegen, der allen Übertretern des vierten Gebotes sicher sei. Und wenn Luzia immer wieder beteuerte, daß es eben das vierte Gebot sei, das sie an den Traualtar führe, dann wandte sich Gertraud ab und plärrte nur zu. Und einmal, ach, einmal kam eine furchtbare Drohung. »Wart lei, an dem Tag, wo du mit deinem verfluchten Thomas nach Trens gehst, werd ich dir schon einen Ehesegen geben, daß du deiner Lebtag daran denkst!«

Luzia erschrak zu Tode. Ach hätte sie doch nachgeben, hätte sie ihr bräutliches Versprechen lösen dürfen! Aber das wagte sie nicht und zuweilen kam ihr der Gedanke, es wäre für sie am besten, wenn sie vor dem Hochzeitstage sterben könnte.

Eines Sonntags ging sie, ein Laternchen in der Hand, hinab zur Frühmesse bei den Kapuzinern. Das war ihr ganzes Sonntagskirchen; danach mußte sie eilends nach Hause, um die Mutter abzulösen, denn die wollte ihren feierlichen Gottesdienst im hohen Dome haben, das gehörte zu ihren Standesrechten. Als Luzia nach der Messe, bei der sie sich herzlich ausgeweint hatte, ins Freie trat, stand plötzlich im matten Frühlichte des Märzenmorgens ein stattlicher Mann vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen.

»Thomas!« rief Luzia erfreut. »O bin decht ich froh, daß ich dich einmal wieder siech! Weißt, ich mein' oft, ich halt's nimmer aus daheim.«

Er sagte kein Wort, faßte nur ihre Hand fest, recht fest und drückte sie. Wir gehören zusammen, sagte dieser Druck.

»Ja, Thomas, wir gehören zusammen«, übersetzte sie die stumme Rede, »und weiß Gott, ich hab dich gern. Aber siehst, wenn's nit wegen dem Vater wär' und wegen meinem heiligen Versprechen, ich mein', ich müßt's Heiraten lassen.«

»Kann mir's denken«, sagte Thomas. »Aber siehst, eben deswegen hat's dich der Vater versprechen machen; er hat deine Stiefmutter gekannt. Und jetzt sei lei zufrieden, bald wir einmal beisammen sein, nachher haben wir's fein.«

Sie erwiderte nichts, sie konnte sich's nicht vorstellen, wie es je fein werden sollte, solange sie im Hause war.

Sie waren zum Städtchen hinausgegangen; Luzias Weg führte jetzt aufwärts. »Ich geh ein Blöckel mit dir«, sagte Thomas.

Sie war es wohl zufrieden. Nach einer Weile hub sie an: »Thomas, ich muß dir etwas sagen, etwas Schreckliches.« Und sie berichtete ihm die Drohung der Stiefmutter. »Fluchen will sie uns!«

Im Augenblick schien der starke, schneidige Mann doch betroffen. Dann aber sagte er mit seiner gewöhnlichen Ruhe: »Luzza, dem Vater sein Segen gilt mehr als der Stiefmutter ihr Fluch.«

Ihre Wege trennten sich: »Luzza, nächsten Sonntag sehen wir uns wieder«, sagte Thomas. Und nun hatte sie neuen Mut.

Der Palmsonntag war vor der Tür. Gertraud hatte keine Zeit mehr zu verlieren.

Einst um die Mittagszeit stand Luzia am Herde und rundete die plentenen Knödel, um sie ins brodelnde Wasser zu werfen. Da trat die Stiefmutter unter die Tür. Sie hatte eine ernste Miene.

»Luzza«, sagte sie, »ich red nix mehr gegen deine Heirat, tu, wie du meinst. Grad das eine tu mir zu Gefallen und geh ummi nach Sankt Andrä zu deiner Gotl, der alten Stockerin, und red mit ihr über die Sach. Auf die Stockerin, weißt, halt ich viel, sie ist ein heiligs Mensch.«

Luzia schien froh verwundert. Sie hatte sonst nie bemerkt, daß die Stockerin bei der Mutter so viel gelte. Doch war sie es wohl zufrieden, sich mit der Gotl zu beraten, und wenn die, wie Luzia nicht zweifelte, mit der Heirat einverstanden war, vielleicht war es dann die Stiefmutter auch, vielleicht ging alles besser aus, als es den Anschein hatte.

»Geschwind aftern Essen geh ich, Muetter, wenn's dir recht ist«, sagte sie. Sie hatte jetzt ein frohes Lächeln.

Als es vom Turm des Leonhardskirchleins zum Englischen Gruße läutete, machte sich Luzia auf den Weg.

Am Erkerfenster der Wohnstube stand Gertraud und folgte der Stieftochter mit starren Blicken. Eben verschwand die Mädchengestalt hinter einer fichtenbewachsenen Erdwelle. Jetzt hatte Gertraud was sie wollte, jetzt bliebe die Tochter für einige Stunden von daheim weg, jetzt galt's!

Da fühlte sich Gertraud an den Rockfalten gezogen. Das Ursele war's, das an ihrem Wifling hing. Groß blickten die blauen Kinderaugen sie an. War's nicht eines Engels Blick, der sie in seinen Bann zog; nicht vielleicht eines Engels Hand, der sie hielt, der sie zurückhielt? Nein, nein, sie mußte das Kind jetzt beiseite schieben. Schnell nahm sie aus einer Lade einige Holzklötzchen, die dort als Spielzeug für die Kleine bereitlagen, und verstreute sie auf dem Stubenboden. »Seh, Ursele, tu ein bisserl schimpfelen.« Und sie setzte das Kind auf den Boden.

Dann trat sie zu ihrem Arbeitskorb, nahm Schere und Fingerhut und dann – ihr Herz klopfte – ja, dann griff sie nach dem Faden, der noch in der unsichtbaren Totennadel steckte – ein leiser Ruck und die Nadel sprang aus dem Nähkissen und funkelte in der Sonne. Und jetzt hatte sie alles, was sie brauchte.

Sie eilte hinaus. Drinnen saß das Ursele und spielte mit den Klötzchen, wie die Mutter sie geheißen hatte. Das waren ihre Schäflein und sie die Hirtin und sie rückte sie dahin und dorthin und hatte ein frohes, helles Kinderlachen.

Droben in Luzias Schlafkammer stand Gertraud. Sie schob den hölzernen Riegel vor die Tür; dann tat sie einen schweren Atemzug. Hatte der Gang über die zwei Holztreppen sie so ermüdet?

Die Schere in der einen, die Totennadel in der andern Hand, schaute sie sich im Kämmerlein um.

Wie nett und sauber hier alles aussah, wie alles so schön an seinem Platze stand! Auf dem mit blauen und roten Blumen bemalten Wäscheschrank stand ein Glassturz und darunter schlief ein wächsernes Kindlein, wie es die Brixener Klarissen so lieblich gestalteten. Zu des Kindleins Füßen lag ein Brautkranz mit Knospen von weißem Wachse und silbernem Flitter, der Kranz, den Luzias frühverstorbene Mutter an ihrem Ehrentag getragen hatte, den auch Luzia nun bald tragen wollte vor dem Gnadenaltare zu Trens. Auf dem Kasten lag ein Haufen Leinwand und dazwischen kräftige Grödener Spitzen. Ah, das Brautpfoad, von dem Luzia gesagt hatte, es sei das einzige Stück, dessen sie zu ihrer Ausstattung bedürfe. Heimlich hatte sie daran genäht, um die Stiefmutter nicht zu ärgern, in ihren spärlichen freien Augenblicken, im kärglichen Lichte, das durch das winzige Dachfensterchen fiel, in der winterlichen Kälte, die den kleinen Raum durchdrang, hatte sie Stich an Stich gereiht und dabei an ihre Heirat gedacht. Der Gertraud stieg das Blut zu Kopfe. »Das Pfoad machst du nit fertig«, murmelte sie böse und zog die Nadel aus dem Leinen, um sie in ihr eigenes Halstuch zu stecken. Nein, Luzia würde die Nadel fürder nicht mehr brauchen. Und nun konnte Gertraud ohne Sorge an ihr Werk gehen.

Ohne Sorge? Zitterten ihre Finger nicht, mit denen sie die Totennadel samt dem herabhängenden Faden, festhielt? Dieser Rest des Fadens, womit man ihres Mannes Leiche eingenäht hatte, würde ihr genügen. Es wäre bald geschehen. Wenn ihr Herz nur nicht so hämmerte, wenn nur nicht jeder dieser lauten Hammerschläge ihr zuriefe: »Mörderin!« Aber nun war es einmal so weit gekommen, sie konnte nicht mehr zurück. Seit ihr zum ersten Male der Gedanke aufgeblitzt war, der Gedanke an die Totennadel, hatte sie ihn immer festgehalten, immer darüber gegrübelt, immer sich hineinvertieft. Wenn sie auf dem Bartlhofe bleiben wollte wie bisher, nicht als altes Weib im Austrag, sondern als gebietende Frau, gab's keinen anderen Ausweg. Nur das kleine Ding zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten, nur nicht zittern, nur nicht am Ende gar sich selber stechen, das wäre furchtbar. Mut, Mut! niemand würde etwas von der Sache erfahren, keine Hand würde sich anklagend gegen sie strecken und nicht nur dem Thomas und der Luzia, auch dem Teufel wäre das Spiel verdorben. Denn gleich jetzt zu Ostern würde sie zur Beichte gehen – etwa zu einem alten Pater in der Stadt und würde ihm alles aufrichtig sagen und ihm alles erklären und er mußte reinen Mund halten und ihr das Kreuz geben und dann konnte sie wieder ruhigen Gemütes auf dem Hofe walten und einen christlichen Haushalt führen wie bisher.

Während diese Gedanken ihr durch den Kopf wirbelten, hatte sie an Luzias Pfühl bereits einige Stiche aufgeschnitten und schob mit fiebrigen Fingern die sich herausdrängenden Flaumen zurück. Vorsichtig führte sie dann die Nadel ein bis hinein in die Mitte des Pfühls, wo Luzias Kopf zu ruhen käme, die rostige Nadelspitze kehrte sie nach oben, daß sie beim leisesten Druck hervortreten mußte, befestigte den Faden am Überzüge des Kissens und ... ja, so mußte es gehn, so mußte es gelingen, so konnte die Totennadel ihr Ziel nicht mehr verfehlen. Jäher Tod, hatte die alte Burgel gesagt.

Niemand hatte etwas gesehen, niemand würde etwas ahnen. Noch besaß die Totennadel ihre ganze furchtbare Macht. Den Jungfrauenkranz, der zu Füßen des wächsernen Jesuleins lag, Luzia würde ihn mit ins Grab nehmen.

Am selben Abende kehrte Luzia zurück. Froh und friedlich sah sie aus, als sie in die Stube trat, wo man schon beim Abendessen saß. »Gelobt sei Jesus Christus!« grüßte sie.

»In Ewigkeit Amen«, antworteten die Ehalten. Die Bäuerin aber brachte kein Wort über die Lippen. Als die anderen nach genossener Mahlzeit und verrichtetem Tischgebete hinausgingen, wollte auch sie weg, wollte nicht allein zurückbleiben mit der Todgeweihten. Aber Luzia hielt sie freundlich fest.

»Muetter, mir ist's lieb, daß du mich zur Gotl geschickt hast, ich hätt' mich nit einmal darauf besonnen. Und jetzt bin ich froh, daß ich bei ihr gewesen bin und alles mit ihr abgeredet hab'.«

»Was hat sie denn gemeint, deine Gotl?« fragte Gertraud tonlos.

»Sie hat gemeint, ich soll dem Vater lei folgen; der Thomas, hat sie gemeint, sei ein christlicher Mensch.«

»Ja, nachher tust halt, wie die Gotl sagt«, versetzte Gertraud trocken und wieder wollte sie gehen.

Aber wieder hielt sie Luzia zurück. Sie war ja so glücklich, daß ihr das Weib, das sie Mutter nannte, nicht mehr grollte.

»Bleib grad noch einen Augenblick, Muetter, grad eppes muß ich dir noch sagen. Zwei Stuck, weißt, hat mir der Vater aufgetragen, eh er gestorben ist. Nit lei wegen meiner Heirat ist's ihm gewesen, er hat mir auch aufgetragen, ich sollt recht auf die Muetter schauegen und aufs Schwesterle. Und sell magst mir schon glauben, Muetter, daß ich dir alleweil eine gute, gehorsame Tochter bleiben will und für dich sorgen will in gesunde und in kranke Tag'.«

Weich und lieb klang die Stimme des Mädchens; der Gertraud wurde es ganz eigen zu Mute. Sie mußte sich's doch gestehen, daß keine Mutter sich ein sanfteres, freundlicheres Kind wünschen konnte, als es Luzia war. Und doch hatte sie ihr den unerbittlichen Tod ins Lager versteckt, den jähen, geheimnisvollen. Wie war das nur möglich?

Freilich, möglich war's und sogar notwendig! Gegen Luzia hatte sie ja nichts, aber sollte sie es dulden, daß der Thomas Bartlhofer werde und im Hause befehle als Herr? Nein, da mußte es eher zum Äußersten kommen und zum Äußersten war es nun auch gekommen, sie konnte es nicht ändern.«

»Ist schon recht, geht schon gut«, beantwortete sie mit hohler Stimme Luzias freundliche Rede. Und dann kam noch – und sie wußte kaum, was sie sagte – »Gute Nacht, Luzza, und schlaf gesund.«

Luzia ging. Ging hinauf in ihre Schlafkammer, wo der Tod auf sie lauerte. Gertraud blieb allein in der Stube zurück. Das Ursele war schon früher ins Bettlein gebracht worden, da brauchte sie nicht nachzusehen. Wie eine Todmüde saß sie jetzt allein auf der Ofenbank. Auf den Berghöfen ringsum verlöschte Licht um Licht, nur am Bartlhofe glimmte noch das Döchtlein in der schmalzgefüllten Schale; die Stube matt erleuchtend. Gertraud drückte sich an den Ofen, wo man eben noch vor dem Nachtmahl ein lustig Feuerlein hatte abbrennen lassen. Sie wollte sich wärmen; ihr war so kalt.

Doch auch der Ofen wurde allmählich kalt. War es da nicht besser, ihre Liegestatt aufzusuchen und sich die dicke, wollene Decke über den Kopf zu ziehen? Dann könnte man für eine Zeit alles vergessen. Vielleicht sogar einschlafen.

Langsam schlich sie hinauf in ihre Schlafkammer. Sie beugte sich über ihr schlummerndes Kind und horchte auf die sanften, regelmäßigen Atemzüge. Die glückliche Kleine, die wußte nichts von innerer Qual und Seelenmarter! O die herzigen Patschhändchen, die auf der Decke lagen; wie hatten sie heute die Mutter am Rocke gefaßt, ehe sie ... Ja freilich, aber sie hatte sich nicht halten und hindern lassen und nun war vielleicht schon alles vorbei, vielleicht Luzia schon tot ...!

Gertraud warf sich angekleidet aufs Bett, wickelte sich in die Decke und zog sich das Federbett über den Kopf. Jetzt brauchte sie doch nicht mehr zu frieren, aber einschlafen konnte sie darum doch nicht, ei, keine Rede! Jeden Augenblick gab's ein anderes Geräusch. Bald krachte der Fußboden, als schreite jemand langsam darüber hin. Bald klirrten die Butzenscheiben am Fensterchen wie unter der Berührung einer geheimnisvollen Hand. War's eine Geisterhand? War's der Geist der Toten, der sich meldete? Und nun war ihr, als fasse diese Hand sie an der Kehle, daß sie mit einem gurgelnden Laut emporschnellte. Doch dann war nichts mehr zu fühlen und war auch nichts mehr zu hören, als die friedsamen Atemzüge des schlafenden Kindes.

Wieder legte sich die Schlaflose aufs Pfühl. Wenn sie schon keine Ruhe finden konnte, so wollte sie doch versuchen, die quälenden Gedanken abzuschütteln, ruhig die Sache zu überlegen. Was hatte sie denn so Arges getan, das andere in ihrer Lage nicht getan hätten? Es gab doch viel schlimmere Leute als sie und in die Hölle kamen diese Leute doch nicht. Und sie erinnerte sich eines Raubmörders, von dem sie in ihren jungen Jahren gehört hatte, daß man ihn auf der Kachlerau gehenkt habe und dann habe ihn die gottselige Jungfrau Maria Hueberin aus dem Fegefeuer herausgebetet. Dann fielen ihr auch die vielen Milizen ein, die im vergangenen Sommer durchs Eisacktal gezogen waren, bald südwärts, bald nordwärts, denn es war Krieg im Reiche draußen und drin im Welschland. Krieg, Krieg! Wer hatte den wohl angestiftet? Einer mußte doch anfangen und der eine trug dann die Schuld, wenn Hunderte, Tausende auf den Schlachtfeldern fielen. Was war gegen solches Gemetzel ihr Tun? Nein. Wahrhaftig, was sie getan, hatte sie tun müssen: es war ja schlechthin Notwehr, und Notwehr ist immer erlaubt.

Wieder richtete sie sich im Bette auf, warf das Federbett weit zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Denn ihr war plötzlich heiß geworden und die Hitze wurde mit jedem Augenblick drückender. War das vielleicht schon die Hölle? Nein, die Hölle war es nicht und in die Hölle wollte sie auch nicht. Sie würde es schon einmal gütlich ausmachen mit dem großen Richter da drüben, sie würde zu ihm sprechen: »Ich hab allweil ein ehrbar Leben geführt und kein Mensch kann mir etwas nachsagen.«

Kein Mensch, das ist wahr. Aber der große Richter da drüben ist mehr als ein Mensch. Wird er sie denn wirklich verurteilen, die Gertraud vom Guldenadler, obwohl sie an keinem Völkerschlachten schuld ist? Sei's, wie's will, hier in der Kammer hält sie's nicht mehr aus. Leise stöhnend hebt sie sich vom zerwühlten Bette. Ist doch das eine Nacht! Kein Ende will sie nehmen. Aber leichter wird es ihr werden, wenn sie nur einmal draußen ist. Vorsichtig schließt sie die Kammertüre hinter sich und steigt hinab in die Kuchel. Dort glimmen noch Kohlen auf dem Herde; eine Unschlittkerze, die in einem eisernen Leuchter steckt, zündet sie an der Glut an und hat nun Licht und ist froh. Aber nicht lange währt dieses Frohsein. Seltsame Schatten wirft das dürftige Kerzenlicht; gespensterhaft tanzen Gestalten an den Wänden. Himmel, und wer sitzt dort auf dem Herde? Ist's nicht ihr Mann, der Martin? Gerade dort saß er fröstelnd und fiebernd, als er an jenem Novemberabend heimkam aus dem Walde. Nun sitzt er wieder an derselben Stelle und glotzt sie an mit hohlen Augen und murmelt: »Weib, als Mutter hast du dich angeboten für mein Kind, als Mutter, weißt du's noch?«

Schnell löscht sie die Kerze aus. Jetzt ist sie weg, die Gestalt auf dem Herde. Das Dunkel ist freilich schrecklich und die Hitze hier noch ärger als droben. »O wenn's nur endlich Tag werden möchte, wenn's nur betläuten möchte!« »Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft –« Ob sie das je wieder sprechen könnte, ob sie je wieder beten, je wieder den Fuß in eine Kirche setzen könnte? Und das müßte sie doch. Sonst würden die Leute ja reden! Aber nein, in der Hölle betet man ja nicht mehr! Droben in der Kammer ist die Hölle und hier unten in der Kuchel ist sie auch. Oder nein! In ihr selber ist sie. Sie selber trägt die Hölle in sich.

Halt, nun schimmert es grau durch das Kuchelfensterle. Der Tag bricht an, der liebe, liebe Tag mit all seinen kleinen Sorgen und frohen Arbeiten. Nun hätte sie nicht mehr Zeit, ihren Höllenängsten nachzuhängen.

Horch, flinke Schritte kommen die Holzstiege herab! Das ist nicht der schwere, wuchtige Schritt der Vef, nicht das kindische Hüpfen der kleinen Dirn, das ist ... Gertraud stürzt hinaus. »Wer bist denn du?« schreit sie der Nahenden entgegen.

»Ja, wer werd' ich denn sein?« kommt es freundlich und fröhlich zurück. Und Luzia steht vor ihr.

Trotz des unsicheren Dämmerlichtes merkt das Mädchen gleich, daß etwas nicht stimmt. »Ist dir nit gut, Muetter?«

»Nein, nit gut ist mir. Hab kein Aug zutun können, die ganze Nacht.« Doch während Gertraud das sagt, kommt eine Erleichterung über sie. Luzia lebt. Sie ist doch keine Mörderin.

»Leg dich noch ein bissel nieder«, rät die Stieftochter. »Ich koch derweil das Fürmus für die Leut und für dich stell ich ein Hafele Milch auf.«

Aber Gertraud will nicht. Sie geht vors Haus hinaus: im Freien, hofft sie, wird ihr leichter werden. Langsam wandelt sie vor dem Hause auf und nieder und grübelt nach, wie es denn möglich ist, daß Luzia noch lebt. Sie weiß es ja, hat ihr vormals oft zugesehen, wie das Mädchen den Kopf immer so schwer auf das Kissen warf; die Totennadel muß ihr eingedrungen sein und doch ... und doch ... Und während sie so denkt und sinnt, weicht die frohe Regung, die sie bei Luzias Anblick eben empfunden hat, und wieder fährt der schlimme Geist in sie. »Die Sünd hab ich itzt decht und hab nit einmal einen Nutzen davon.« Und ein schweres, schwarzes Gefühl der Enttäuschung steigt in ihr auf. Vielleicht hat sich das Mädchen nicht so aufs Pfühl geworfen wie sonst, vielleicht gelingt es nächste Nacht.

Nächste Nacht. Und dann müßte sie wieder eine solche Marternacht zubringen wie die vergangene und ins Dunkel starren und hinaushorchen in die tiefe und doch so lebendige Stille und sich ängstigen und quälen? Nein, eine zweite solche Nacht hielte sie nicht mehr aus!

Die Vef tritt aus dem Hause hervor und schließt den Hühnerstall auf. Da flattert's und gackert's und drängt sich heraus und kommt auf die Bäuerin zu, denn die hat ja sonst immer alle Hände voll Futter. Heut aber sind ihre Hände leer. Die Hühner stehen und staunen und schauen und können's nicht glauben. Endlich wenden sie sich um, ganz enttäuscht, und zerstreuen sich. Die einen zieht es zum Düngerhaufen hin, die andern hinaus auf die kleine Wiese, die ihnen zum Auslauf überlassen ist. Die Vef hat inzwischen den Milchstoß erfaßt und verschwindet im Stalle. Aus dem Hause hört man das Knacken dürrer Äste. Luzia ist am Feuermachen. Der Bäuerin gibt's einen Ruck bei jedem Geräusche, das an ihr Ohr dringt; allein möchte sie sein, ganz allein in tiefster Einsamkeit. Sie wandert den Hügel hinab, worauf der Bartlhof steht, und steigt auf der andern Seite hinan am kleinen Waldköpfl, das den Ausblick gen Süden abschließt.

Hinter diesen Bäumen hat sie gestern die Stieftochter verschwinden sehen und hat sich dann gleich ans Werk gemacht. Und jetzt muß sie erst warten, ob das Werk auch gelingt. Ist es nicht schrecklich, dieses Warten? Wird sie darüber nicht den Verstand verlieren? Sollte sie nicht lieber Luzia wieder über Land schicken und inzwischen das zerstören, was sie gestern so klüglich ausgeführt hat?

Aber dann kommt wieder der Gedanke und krallt sich fest an ihrer Seele: Die Sünde ist geschehen, jetzt will ich auch den Nutzen davon haben!

Hinter der Plose sprüht jetzt die Sonne hervor und blitzt der Einsamen ins Auge, daß sie zusammenzuckt. Auf der anderen Talseite glühen die Berge im Morgenlichte. Ein schöner Frühlingstag ist angebrochen. Freilich, hier oben am Berge ist's noch winterlich; an schattigen Stellen liegt noch, verstaubt und beschmutzt, der alte Schnee. Aber sieh da, aus dem welken Laube des Waldbodens lugt schon ein herziges Leberblümchen, blau mit weißen Staubfäden. Bring mich doch deinem Kinde zum Morgengruße, bittet es. Mein Gott, das Kind! Ob es nicht schon wach ist und verwundert um sich blickt, weil keine Mutter da ist, es aus dem Bettlein zu heben? Soll sie nicht umkehren und nach ihm sehen und ihm ein Blümlein mitbringen? Aber nein, sie schaudert beim Gedanken. Nie mehr wird sie mit der Kleinen scherzen und kosen können, wie sie sonst getan hat, nie mehr in die hellen Äuglein schauen. Gerade so, wie sie nie mehr beten kann.

Trotz allem macht sie sich auf den Heimweg. Der Gang durch den einsamen Wald verleidet sie, das Gezwitscher der Vögel tut ihr weh. Menschenscheu hat sie von daheim weggetrieben, jetzt möchte sie wieder unter Menschen sein. Nur der Luzia möchte sie fernebleiben. Doch die ist nun wohl schon wieder in ihrem Dachkämmerlein, schafft dort Ordnung und setzt sich an ihre Arbeit. Halt, mit der Arbeit ist's aus! Im Brautpfoad steckt ja keine Nadel mehr und sie wird ihrer Lebtag mehr keine Nadel zwischen die Finger nehmen. Die Totennadel würde schon endlich ihr Werk tun.

Gertraud steigt den Abhang zum Hofe hinauf, aber langsam, denn sie hat keine Eile. Was soll sie daheim auch anfangen? Es ist keine Arbeitslust in ihr, keine Freude, keine Ruhe, es ist, als ziehe und zerre eine grausame Hand an ihrem Herzen und wolle es zerreißen wie einen morschen Faden. Vor Stunden, da es noch finster über der Erde lag, hat sie sich auf die Tageshelle gefreut und nun, da der frohe, frische Märzentag über ihr lacht, fragt sie sich bange, was sie denn beginnen soll mit all den vielen langen Stunden, die sich endlos vor ihr dehnen.

Jetzt ist sie am Hause. Sie nähert sich, tritt her ans Stubenfenster, lugt verstohlen hinein, ob jemand in der Stube ist. Ei freilich, die Luzia! Seelenruhig sitzt sie im Erker, hält ihre Arbeit auf den Knien und stichelt daran herum. Nie hat sie sonst das Brauthemd in die Stube genommen, hat sich wohl immer vor der Stiefmutter gescheut, hat auch recht gehabt, sich zu scheuen.

In Gertraud regt sich der Unwille. Und auch der Fürwitz. Welche Nadel hält das Mädchen wohl zwischen den Fingern? Hat sie sich etwa gar an Gertrauds Nadelbüchschen herangewagt? Ei, das muß Gertraud doch wissen.

Rasch, mit dröhnenden Schritten tritt sie in die Stube. Luzia fährt auf, errötet, legt die Arbeit beiseite. Will die Mutter fragen, wie es mit ihr stehe und ob sie ihr nicht eine Labung reichen dürfe. Aber sie kommt nicht zu Worte.

»Weißt du dir keine andere Arbeit?« fährt Gertraud sie an und reißt das Brauthemd an sich.

Im nächsten Augenblick entfährt ihr ein Schrei. In ihrer achtlosen Hast hat sie sich die Nadel, die in dem Linnen steckte, tief in den Finger gebohrt. Jetzt streckt sie die Hand aus, an der ein großer Blutstropfen hängt. Luzia springt vom Sitze. »Hast du dir weh getan, Muetter?«

Gertraud hat die Nadel aus dem Finger gezogen, betrachtet sie einen Augenblick, verfärbt sich jäh. An der Nadelspitze erscheint ein winziger Rostflecken. Sie reißt die Augen weit auf. »Die Totennadel ...!« lallt sie. Und dann: »Wer ... wer hat ...?« Wie Röcheln ringt sich's aus ihrer Brust. Weit offen stehn die Lippen. Das Auge verglast sich. Sie bricht in die Knie.

Luzia will sie in den Armen auffangen. »Muetter, Muetter, was ist dir denn?«

Keine Antwort. Sie liegt hingestreckt auf dem Stubenboden. Die Totennadel hat ihr Werk getan.

Heftig klopft es an die Kammertür der Hauswurzenburgel. Wie sie auftut, steht draußen das Moidele vom Bartlhof. »Die Bäuerin ist gach gestorben«, keucht sie.

Der Burgel gibts einen Ruck. Die Totennadel! Gewiß ist die Bäuerin damit unvorsichtig umgegangen. Aber Moidele weiß nicht Bescheid. »Es ist lei die Luza bei ihr gewesen.«

Die Burgel eilt hinüber. Die Tote liegt noch in derselben Stellung, wie der Tod sie überraschte. Luzia kniet neben ihr, die Hände fest verschlungen, den Blick starr auf das Gesicht der Stiefmutter geheftet, ein aschgraues, von jähem Schreck entstelltes Gesicht. Heftig faßt Burgel sie am Arme. »Wie ist denn mei denn dös gangen?« will sie wissen. Und wie Luzia keine rechte Antwort findet, raunt die Alte geheimnisvoll: »Ist epper die Totennadel schuld?«

Da fährt Luzia auf. »Die Totennadel? Ja, so hat sie gesagt, ja, das ist das letzte gewesen.«

»Hab mir's gedenkt, hab mir's gedenkt«, murmelt Burgel mit traurigem Kopfnicken. Und wie sich nun Luzia von den Knien hebt und sie verständnislos anstarrt, erklärt ihr die Hauswurzenburgel, wie sie es schon vielen erklärt hat, die geheimnisvolle Kraft dieser Nadel, deren Stich unfehlbar jähen Tod herbeiführe. Aber fassungslos blickt Luzia vor sich hin und möchte etwas sagen und findet keine Worte. Jähen Tod soll die Nadel bringen, wirklich? Sie selber hat sich doch gestern abend, als sie den müden Kopf auf das Kisten warf, heftig gestochen, daß sie mit leisem Schrei emporfuhr, und doch, sie lebt, sie lebt ...! Sie hat am Morgen, als sie die eigene Nadel nicht mehr fand, die aus dem Kissen gezogene zu ihrer Arbeit verwendet und dann, ja, dann war das Unglück mit der Stiefmutter geschehen. Dem Mädchen wirbelt es im Kopfe. Wer hat, wer hat ihr die Nadel ins Kopfkissen gesteckt, so sorgsam gesteckt und befestigt, daß sie sich daran stechen mußte, wer anders als ... War das letzte Wort der Stiefmutter nicht ein Geständnis gewesen? Ein Wunder war geschehen. Ein Wunder für sie, die arme, kleine Luzia vom Bartlhofe! Sterben hätte sie sollen und nun hat es eine andere getroffen. Aber ein solcher Tod ... es war schrecklich! Burgel wollte noch forschen und fragen, aber Luzia brachte kein Wort mehr hervor.

Als die Nachricht vom jähen Tod der Bartlhoferin bekannt wurde, da war's ein Wundern und Staunen am ganzen Berge und nicht minder drunten in der Stadt. Die frommen Brixner Seelen, die sie am Schwarzen Sonntag noch im Dome gesehen und sich an ihrer Andacht erbaut hatten, meinten, es sei die Trauer um ihren Seligen, die ihr das Herz abgedrückt habe. »Mei, so gut geschaffen haben sie miteinand.« Beim Guldenadler wieder dachte man nüchterner und Gertrauds Ohm, der alte Hans Peisser, war der Ansicht, der rasche Tod sei für sie ein Glück gewesen. »Die Gedel ist nit eine, die ins Austragstübele gepaßt hätte.«

Vielleicht dachte auch Thomas dasselbe; jedenfalls eilte er jetzt ohne weiteres dem Bartlhofe zu. Er hätte der Stiefschwiegermutter ja das Leben von Herzen vergönnt, doch war ihm das Herz nicht gerade schwer und er verhehlte sich nicht, daß es eine heikle Sache gewesen wäre, an ihrer Seite zu leben.

Leichten Sinnes stieg er zu dem Hause empor, das ihm von Jugend an wie eine Heimat gewesen war und das ihm nun bald zur bleibenden Heimat werden sollte. Da bemerkte er, auf der Hausbank sitzend, eine Frauengestalt in gebeugter Haltung, die Hände auf den Knien verschlungen, die Haare vom Märzenwind durchflattert. Es war ein Bild tiefster Ergriffenheit. Als er näher kam, erkannte er Luzia. Er rief sie beim Namen. Da richtete sie sich auf, doch ohne Wort, ohne Gruß. Er stutzte. Er griff nach ihrer Hand. »Luzza, tut's dich so ansehen?«

Leise, verängstigt klang ihre Antwort. »Sie ist halt decht meinem Vater sein Weib gewesen – und itzt a söller Tod!«

»Wohl, wohl, a gacher Tod ist alleweil eppes Unguts«, gab er zurück. Er begriff nicht, was sie meine.

Da stand sie auf und faßte seinen Arm, wie um sich daran festzuklammern. »Thomas, ich muß dir eppes sagen. Aber lei dir und du derfst es durchaus nit weitersagen, weißt, ich leid's nit, daß die Leut schlecht von ihr reden.« Sie holte tief Atem, und dann kam's heraus: »Umbringen hat sie mich wollen.«

Er schrak zusammen, wollte ihr nicht glauben. Da berichtete sie ihm alles. »Thomas, a Wunder ist geschehen, sonst stünd ich nit lebend vor dir.«

Thomas schüttelte nachdenklich den Kopf. »A Wunder, meinst? Na, sell tät ich nit glauben. Ich hab wohl öfter von die Totennadeln reden hören, aber daß man davon gach sterben muß, sell ist wohl ein Gerede von der Hauswurzenburgel. Nit wegen der Nadel ist deine Stiefmuetter gestorben, lei vom bloßen Schrecken. Luzza, es ist ein Gottesurteil.«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und es wurde ihr allmählich leichter. Es war doch ein schönes, friedliches Leben, das jetzt vor ihr lag, ein Leben an der Seite eines treuen Mannes, der ihr Stütze und Helfer sein würde. Sie seufzte nur noch leise, wie in Gedanken: »Herr, gib ihr die ewige Ruh!«


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