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Die seidene Schürze

»Was tu ich mit dem blitzblaben Fürtuch? Was tu ich mei damit?« So hatte die Müllerin vom Gärberbache schon mehrmals ausgerufen, während sie in ihrer Kleidertruhe kramte.

Die Müllerin hatte den Brauch, mit sich selber zu reden, wie es alte Leute pflegen. Sie war aber durchaus kein altes Leut, sondern eine stattliche Vierzigerin; sie hätte die schöne, blaue Seidenschürze noch ganz gut selber tragen können.

Doch das fiel ihr im Traume nicht ein. Einmal nur, an ihrem Hochzeitstage, hatte sie sich die Schürze umgebunden. Das war nun mehr als zwanzig Jahre her, und seitdem lag das schöne Stück säuberlich zusammengefaltet zwischen dunklen Tuch- und Halbwollkleidern und wurde als unnützer Gegenstand betrachtet.

»Barbele, sag, was tu ich mei mit dem blitzblaben Fürtuch?« wandte sich die Müllerin jetzt an ihre achtzehnjährige Tochter, die eben eintrat.

Das junge Ding wurde feuerrot ob der Frage. Sie hätte schon gewußt, was anfangen mit der blauseidenen Schürze, die ihr seit ihren ersten Jugendtagen der Inbegriff alles Schönen war. O hätte sie die Schürze doch anziehen dürfen, ein einziges Mal! Doch das wagte sie nicht zu sagen, wagte kaum, es zu denken, aus Angst, die strenge Mutter werde ihr den eitlen Gedanken aus den Augen ablesen. Daher hielt sie sich mäuschenstille und hütete sich, die Frage zu beantworten. Wußte sie ja doch, daß die Mutter nur so leichthin gefragt hatte und daß es ihr gar nicht einfiel, von der Tochter Rat und Antwort zu begehren.

Und so war es auch. Bald war der guten Frau die richtige Erleuchtung gekommen. Sie hielt die seidene Schürze hoch, betrachtete sie dann von allen Seiten und dann rief sie triumphierend: »Jetzt weiß ich, was ich mit dem Fürtuch tu! Der Muttergottes tu ich's schenken! Der schönen, weißt, Barbele, mit ›die wirklichen Haar‹, die sie in Wilten bei die Prozessionen umtragen. Wirst sehen, was das für einen Muttergottesmantel abgibt!«

In Barbels Herz zog bitterer Gram. Und als die Mutter erst noch fragte: »Gelt?« worauf rechtens keine andere Antwort folgen durfte als eine bejahende, da fluteten dem Dirnlein die hellen Tränen in die Augen und sie wandte sich nur rasch ab, damit die Mutter nichts merke.

Ans Fenster floh sie und machte sich dort irgend etwas an den Blumenstöcken zu schaffen. Aber diesmal wollte die Mutter wirklich Antwort. Und sie fragte so lange: »Gelt, Barbele?« bis das Mädchen den Kopf wandte und »Wohl, wohl!« flüsterte.

Jetzt merkte die Müllerin aber, daß die Tochter weine. »Wirst nicht etwa ums Fürtuch leidig sein, Madel?« sagte sie mit rauher Stimme. »Sell wär decht zum Lachen, wenn du mit so einem blitzblaben Fürtuch ummerlaufen wolltest. Müßtest dich ja vor die Leut' schamen, so schiech, wie du bist!«

Tiefbeschämt, ihre Gedanken erraten zu sehen, beugte sich Barbel über die Blumentöpfe. Und nachdem sie den kleinen Zimmergarten reichlich mit ihren Tränen begossen hatte, floh sie hinaus in die Küche, um ungesehen und ungestört ihr Weinen fortzusetzen.

Zwar war sie es schon gewöhnt, daß die Mutter ihr immerfort ihre Häßlichkeit vorwerfe, aber weh tat's ihr doch. Warum es die Mutter tat, das ahnte sie in ihrer Einfalt freilich nicht.

Barbels Eltern wußten ja nur zu gut, daß ihr Kind nicht häßlich sei. Bildschön war sie ja! Augen wie Sterne und ein Gesichtchen wie eine Maienrose und ein Wuchs wie die zarten Birken im Bergwald droben! Ei ja, das wußten die Eltern genau und sie bewachten das Kind wie ein Kleinod. Aber das Kleinod war ihnen nicht des Kindes Schönheit: im Gegenteil, diese auffallende Schönheit machte ihnen bange. So bange, daß sie sich's gegenseitig gar nicht gestehen mochten, was jedes von ihnen dachte. Jedes aber betete in seines Herzens Stille: »Hergott im Himmel, erhalte uns das Barbele unschuldig!«

Der Vater hätte es am liebsten gemacht wie weiland Sankt Barbaras Vater und das Mägdlein in einen Turm gesperrt. Doch das ging nun einmal nicht, und im übrigen sprach er nicht viel von seinen Vatersorgen; denn der Müller war ein Mann, der um einen Gulden nicht zehn Worte feil hatte. Die Müllerin gab's mit dem Reden billiger; sie war der Ansicht, eine gewissenhafte Mutter könne ihrer Tochter nie zu viele Warnungen erteilen. Darum stellte sie dem Mädchen die Torheit, Schlechtigkeit und Verderblichkeit der Eitelkeit täglich mit kräftigen Worten vor Augen. Weil ihr das aber noch nicht genug schien, griff sie zu einem, wie sie meinte, noch wirksameren Mittel und beteuerte dem Barbele immer und immer wieder, sie habe an Häßlichkeit nicht ihresgleichen. Wenn das Barbele sich nur für recht häßlich hielt, dann schien ihr die Tugend des Mädchens gesichert.

Barbel glaubte aufs Wort, was man ihr sagte. Um so leichter, als auch ihr Bruder, der Ander, zwar nicht aus erzieherischen Gründen, sondern aus lauterer Spitzbüberei, die Äußerungen der Mutter unterstützte. »Zotteln hast wie ein Besen und Sprotzer als wie ein Schnegg und einen Grind als wie ein Kabeskopf!« Und auch das glaubte Bärbel aufs Wort und es tat ihr furchtbar weh.

Hätte sich das Müller-Barbele nur einmal in einem richtigen Spiegel beschaut, der hätte ihr freilich ganz andere Komplimente gemacht. Aber dafür war schon gesorgt! In der Mühle am Gärberbache gab's nur einen einzigen Spiegel, und der war schon im Hause gewesen, als der Müller es kaufte. Dieser Spiegel, der für die Bedürfnisse der Familie vollauf genügte, war winzig klein und halb blind; zudem zeigte er alles schief. Und überdies hing dieser Jugendverführer so hoch droben in der Stube, daß man schon auf einen Stuhl steigen mußte, wollte man seine Nasenspitze darin besehen.

Vor hundert Jahren gab's also wirklich noch Mädchen, die schön waren, ohne es zu wissen, und die Müller-Barbel vom Gärberbache gehörte dazu. Aber eine Heilige war die Barbel darum noch lange nicht, o nein, bewahre! Wohl kam ihr nie der Gedanke: »Ich bin schön!« Aber hundertmal des Tages dachte sie: »Ach, wär ich doch schön!« und das ist schließlich um nichts besser. Und je fester sie von ihrer beweinenswerten Häßlichkeit überzeugt war, desto heftiger begehrte ihr junges Herz nach Schmuck und Tand, damit doch irgend etwas an ihr sei, das den Leuten gefalle und die Blicke anziehe.

Und darum weinte sie so bittere Tränen um die seidene Schürze, die nun aus dem Hause sollte, ehe sie sich auch nur ein einziges Mal damit geschmückt hatte.

Eine harte Zeit war es damals. Das Land stand unter Bayern und Bayern stand unter Napoleon, und Kaiser Napoleon brauchte Soldaten über Soldaten und wollte die freien Tiroler Burschen in den Soldatenrock zwängen. Die aber flohen in die Berge und verbargen sich in einsamen Sennhütten oder in entlegenen Weilern, wo niemand sie suchte und niemand sie verriet. Auch der Ander vom Gärberbache hielt sich bei einem Vetter in der Sterzinger Gegend versteckt. Die Eltern kannten sein Versteck; dem Barbele aber sagten sie nichts davon, damit sie es nicht etwa gedankenlos ausplaudere. Sie war ja noch gar kindisch und unverständig für ihre Jahre.

Das Barbele trauerte dem Bruder nicht nach; sie war froh, den Plaggeist los zu sein. Und als nun zum einen Unglück noch ein zweites kam und die Nandl auf dem Stangerhofe oder Fulpmes schwer erkrankte, da ging dem Barbele auch das nicht so zu Herzen, wie es recht und billig gewesen wäre. Weinend schied die Mutter aus dem Hause, um nach der lieben Kranken zu sehen; Barbele aber freute sich, daß sie unterdessen die Hauswirtschaft allein besorgen dürfe und daß ihr niemand dreinreden werde und niemand sie schelten dürfe.

Der Vater war ja auch streng; aber der sprach nicht viel und blieb ruhig in seiner Mühle.

Am Morgen, nachdem die Mutter weg war, fuhr der Vater mit seinem Müllereselein nach Innsbruck hinab. Das hatte sonst immer der Ander getan; nun aber mußte es eben der Alte tun.

Als er die breite Straße talwärts zog, wandte er sich bei der ersten Biegung nochmals um und gebot dem Töchterlein, das auf der Türschwelle stand, mit erhobenem Finger: »Daheim bleiben!« Sie nickte lächelnd. Zehnmal hatte er's ihr eingeschärft, und neunmal hatte sie's ihm versprochen. Nun aber war er schon so weit weg, daß ihn ihr Stimmchen nicht mehr erreichte.

Natürlich würde sie daheim bleiben! Sie wußte doch auch, was ihre Pflicht war. Und sie blieb gerne. Noch nie war sie so ganz mutterseelenallein in der Mühle gewesen; das schien ihr etwas Neues, Köstliches. Sie war auch lange nicht so dumm, wie ihre Eltern meinten, o nein, sie wußte mit der Mühle umzugehen wie ein Müllerbursche. Und kochen konnte sie auch. Topfennudeln sollte es heute geben; die aß der Vater gern und sie nicht minder, nur die Mutter klagte immer, sie seien für ihren Magen zu schwer. Und während sie nun im Hause schaffte und sorgte, fühlte sie sich froh und stolz wie eine kleine Königin.

Plötzlich stieg in ihrem jungen Herzen eine schwere Versuchung auf. Und mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie hin zur großen Truhe, wo verborgen unter den dunkeln Kleidern der Mutter die hellblaue Seidenschürze lag.

Eine Zeitlang kämpfte sie an gegen den schlimmen Gedanken, endlich warf sie sich neben der Truhe auf die Knie, hob den Deckel auf, schob die Kleider beiseite und besah das herrliche Ding. Der Muttergottes hatte es die fromme Mutter bestimmt, daran ließ sich nichts ändern. Aber wann würde es die Mutter weggeben? Das war die Frage, die jetzt in Bärbels Seele aufstieg! O könnte sie vorher doch die Schürze tragen, nur ein einziges Mal!

Ja, ein einziges Mal! Was wäre denn dabei? Es wäre doch keine Sünde! Der Herrgott hatte es nicht verboten. In keinem seiner zehn Gebote.

Sie besann sich ... Ja, wenn's vielleicht gegen das vierte Gebot wäre? ... Wenn's die Mutter ihr untersagt hätte! Aber nein, die Mutter hatte das nie getan, hätte freilich auch nie gedacht, daß Barbel es wagen würde ...

Barbels Gesichtchen glühte vor Scham zugleich und vor Begierde. Sie schämte sich vor sich selbst, schämte sich vor der fernen Mutter und doch, und doch ... Mit einem Male griffen die Mädchenhände hinein in die Truhe, faßten die Schürze, zogen sie heraus, schlangen die blauen Bänder um den schlanken Leib!

Und nun erhob sich Barbel von den Knien, ließ die weichen Falten an sich herabgleiten, strich liebkosend darüber hin und staunte über so viel Schönheit. Ach freilich, schön war die Schürze auch in der Truhe, aber hundertmal schöner doch, wenn man sie trug. Wie schön mochte die Mutter an ihrem Hochzeitstage gewesen sein!

Langsam wanderte Barbel in der Stube auf und nieder, immer sich selbst besehend. Aber sie fand nun schon nicht mehr jene Befriedigung, die sie erhofft hatte. Wenn doch jemand käme und sie sähe! Nur eine Person, eine einzige! Freilich, eine gute Freundin müßte es sein, die sie bei den Eltern nicht verklagte. Barbel zitterte beim bloßen Gedanken, daß die Eltern etwas erfahren könnten. Sie fand es nicht rätlich, zu lange in ihrem seidenen Staate zu bleiben. Aber gesehen wollte sie doch werden, ehe sie die seidene Schürze der dunkeln Truhe zurückgab. Wie wär's, wenn etwa die Zenz vom Schupfenwirte herab zur Mühle käme! Von der Schupfen waren sie doch lange schon nicht mehr hier gewesen, um Mehl zu bestellen. Ach, wenn sie doch käme, die Zenz!

Barbel trat ans Fenster und spähte hinauf gegen das Schupfenwirtshaus, aber niemand kam. Die Straße war menschenleer. So viele Wanderer und so viel Fuhrwerk zog sonst hier vorbei, nur gerade heute niemand.

Sollte nicht sie hinaufgehen zum Wirte? Unter irgend einem Vorwande? Sie konnte etwa fragen, ob droben noch Rüben zu bekommen seien; ihnen seien die Rüben schon ausgegangen. Oder so etwas dergleichen!

So dachte Barbel. Und plötzlich stand sie in ihrer vollen seidenen Pracht an der Haustüre.

Da fiel ihr das Wort des Vaters ein, das so oft wiederholte »Daheim bleiben!« Mit raschem Rucke hielt sie auf der Schwelle an, denn sie war doch gewohnt zu gehorchen, ohne viel nach dem Warum zu fragen.

Jetzt kam endlich jemand. Aber freilich nur ein altes Weiblein, gebückt unter einer Holzlast, die es im Bergwalde aufgelesen hatte. Es war ein häßliches, runzeliges Ding und seine Kleider abgetragen und zerfetzt. Zum Holztragen zieht ja niemand sein Feiertagsgewand an. Aber Barbel schämte sich, daß sie so schön geputzt war; sie mochte sich von der Alten nicht sehen lassen, sie trat hinter die Haustüre.

Nun war das Weiblein vorbei, die Straße wieder einsam. Aber nicht lange. Hufschlag erscholl aus der Ferne. Näher, näher kam es. Barbels Neugier wurde wach. Pferde und Reiter waren zwar auf der Schönbergstraße kein seltener Anblick, aber die Müllermutter sorgte schon, daß ihr Kind nicht nach solchen Passanten ausluge.

Nun aber war Barbel allein und wollte sehen, wer käme. Sie schlüpfte hinter der Tür hervor, nicht ganz, nur halb, gerade so viel, daß man ein Stück ihrer seidenen Schürze leuchten sah und eines ihrer sternenhellen Äuglein und eine ihrer vollen rosigen Wangen. Hinter der nächsten Wegbiegung kamen Reiter hervor. Sie ritten schmucke Pferde und auch sie selber sahen recht schmuck aus; waren sie doch Soldaten. Offiziere sogar, Rheinbündler und Napolitaner. Das Müller-Barbele verstand von derlei Dingen freilich nicht mehr als ein neugeborenes Kind; nur das bunte Tuch, das die Militärischen trugen, das hatte ihr immer gar wohl gefallen.

Und auch jetzt gefiel es ihr. Deshalb verkroch sie sich nicht hinter die Haustüre wie vor dem alten Weiblein und schämte sich nicht ihrer grellblauen Schürze. Waren doch die fremden Soldaten auch gar bunt gekleidet.

Der mit den roten Beinkleidern ließ jetzt seinen Braunen langsamer gehen; dann warf er ihn gegen die rechte Wegseite und hielt gerade vor der Mühle. Schmunzelnd neigte er sich vor und spähte hinter die Haustüre, wo er das halbversteckte Mädchen erspäht hatte.

» Qui vive?« rief er und lachte laut. Dann aber begann er deutsch zu sprechen und bat, das Fräulein möge doch nur ja keine Angst haben und sich nicht vor ihm verstecken.

Er sprach fließend deutsch, aber es klang doch eigenartig fremd und seltsam. Dem Mädchen gefiel seine Sprache. Sie trat nun wirklich vor und stand in ihrer vollen seidenen Pracht auf der Schwelle des Hauses.

Da begann der Reiter mancherlei Fragen zu stellen. Wie weit es wohl bis Innsbruck wäre und ob das Wetter heute schön bleiben würde und derlei Dinge mehr, die er sich wohl ebensogut selber hätte beantworten können. Und dabei blinzelte er immer wieder hinüber zu seinen Begleitern, die auch vor der Mühle gehalten hatten.

Barbel beantwortete seine Fragen gewissenhaft und fühlte sich dabei ganz wichtig. Bis Innsbruck seien es anderthalb Stunden Weges, aber ein Reiter werde das wohl viel schneller machen, und das Wetter würde sicher schön bleiben, denn hinter der Frau Hitt sei der Himmel glasklar. »Und der Vater sagt, das ist ein gutes Zeichen.«

Als der Reiter etwas von einem Vater hörte, fragte er gleich, ob der zu Hause wäre. Und Barbele verneinte das und fügte recht treuherzig hinzu, sie sei heute einmal ganz allein daheim und müsse Mühle und Haus betreuen, bis der Vater wiederkäme.

Da schlug der Reiter ein wieherndes Lachen auf und sprang aus dem Sattel. Und dann meinte er, das Fräulein müsse wohl eine sehr gute Tochter sein, daß sie sich für die Rückkehr des Vaters so festlich geziert habe.

Das Mädchen wurde glutrot und fand keine Antwort. Der Reiter aber faßte ihre Hand und redete auf sie ein. »Kleide dich, wie du willst, mein Kind, kleide dich so schön du nur kannst. Du selber bist ja so schön, wie ich kaum je ein Weib gesehen habe!« Und dabei blickte er sie so heiß und begehrend an, daß das Mädchen wohl fühlte, es sei ihm Ernst, voller Ernst mit dem, was er sagte. Da lohte es auf in ihr und ihr Herz hüpfte empor in heller, wilder Wonne. »Nicht häßlich bin ich, nein, schön, schön, schön!« so jubelte es in ihr. Ihr war, als habe ihr dieser Fremde einen Schatz enthüllt, den man ihr bis heute verborgen hatte, und unsagbare Wonne stieg in ihrer jungen Seele auf. Doch das war nur ein flüchtiger Augenblick. Dann kam jäher Schrecken über sie und ihr Herz erbebte vor diesem fremden Manne, der ihr das Geheimnis ihrer Schönheit enthüllt hatte.

Sie wollte sich losmachen. Er aber hielt ihre Hand umfaßt, fest, o so fest! Und so heiß war dieser Druck, als sei es nicht eine Menschenhand, die ihre Hand umklammert hielt. Sie wußte kaum, wie ihr geschah, da hatte er sie hineingezerrt ins Haus, in die Stube, wo der Mutter Truhe noch weit offen stand. Dann schob er den Riegel an der Türe vor und redete, redete glühende Worte. Und immer nur von ihrer Schönheit und von seiner heißen Leidenschaft ... Nicht alles, was er sagte, verstand sie, aber was sie verstand, füllte sie mit Schauder. Es klang wie aus weiter Ferne her, wie Worte, die man im Traume vernimmt. Und das Mädchen meinte, aus dem Traume erwachen zu müssen und meinte, es müsse dann alles so werden wie früher, ehe sie noch gewußt hatte, daß es auf Erden Menschen gibt, die Teufel sind.

»Lassen, lassen Sie mich!« flehte sie. Aber sie hörte ihre eigenen Worte nicht mehr. Sie wußte nicht, ob diese Bitte ein lauter Aufschrei sei oder ein ersticktes, hilfloses Stöhnen. Sie fühlte, wie sich sein Arm um sie schlang, sie sah in sein Gesicht, das von Leidenschaft glühte, in seine Augen, die wie die Augen einer Bestie funkelten. O Gott, sie stand vor einem Abgrund, den die rauhe und doch zärtliche Hand der Eltern ihr verborgen hatte! Bis an den Rand des Abgrundes hatte sie der Feind gezerrt: noch ein Schritt und sie war verloren.

Aber in ihr war, ohne daß sie es wußte, etwas Starkes: Die ungetrübte Reinheit eines jungfräulichen Herzens und in diesem Herzen die Kraft Gottes.

Und in dieser Kraft riß sie sich jählings aus den Armen des Schrecklichen und wandte sich zur Flucht.

In die anstoßende Küche floh sie und warf die Türe hinter sich ins Schloß.

Aber das war noch keine Rettung. Die Türe hatte keinen Riegel. Einen Augenblick stand Barbel ratlos; dann fiel ihr Blick von ungefähr auf den eisernen Ring am Boden, der die Falltür zum Keller öffnete.

Die Falltür war von schwerem Eichenholze; Barbel hatte es sonst immer vergebens versucht, sie aufzuziehen. Nun aber riß sie mit Riesenkraft den Ring an sich, sprang in die Versenkung, ließ die Tür über sich zufallen. Dann atmete sie auf.

Nun war sie drunten in der dunkeln, feuchten Tiefe. Aber die Sicherheit war auch hier noch nicht. Schon hörte sie Schritte über sich, schon war der furchtbare Fremde in die Küche gedrungen, vielleicht auch seine Begleiter. Und der Eisenring an der Falltüre mußte ihnen in die Augen springen, wenn sie nicht blind waren ...

Blind? ... Sie warf sich auf die Knie und streckte die Arme empor in wortlosem Flehen. Ja, Gott konnte die Feinde blind machen oder ihr Herz wenden! Und Gott würde auf das Gebet einer Jungfrau hören! Um jener einen Jungfrau willen, die das schönste und liebste all seiner Geschöpfe ist!

Mit stummen Lippen betete Barbel, aber sie betete wie nie zuvor in ihrem Leben. Aus todbangem und zugleich todtraurigem Herzen kam ihr Gebet. Sonst hatte sie gebetet wie ein sorgloses, gedankenloses Kind; jetzt aber war aus dem Kinde ein Weib geworden, das um sein Höchstes zitterte und rang. Und in ihrem Innern wogte gleich einer bewegten Flut ein seltsames Gemisch von Todesbangigkeit und Felsenzuversicht und das junge Herz wurde weit und stark in diesem Kampfe.

Da, mit einem Male sah sie – denn ihre Augen hatten sich rasch an die Dunkelheit gewöhnt – daß sie noch immer die blaue Seidenschürze trug. Sie sprang auf. O dieser elende Fetzen, der war schuld gewesen, daß sie die Blicke der Schändlichen anzog! Und in flammender Entrüstung über die eigene Torheit, griff sie mit beiden Händen in die weichen Seidenfalten, um die Schürze zu zerreißen.

Doch plötzlich hielt sie inne. Warum zürnte sie der Schürze? Die trug doch keine Schuld! Nein, es sollte damit geschehen, was die Mutter bestimmt hatte: die Muttergottes sollte sie haben.

Sorgsam zog nun Barbel die Schürze aus, faltete sie zusammen und hob sie empor wie ein Weihegeschenk. Die hellen Augen der Himmelskönigin dringen ja überall hin, auch in ein finsteres Kellergewölbe.

Und Barbel flüsterte ein frommes Gelübde, langsam, überlegend, Wort für Wort: »Muttergottes, wenn du mir jetzt hilfst, ich versprech' dir's, zeitlebens trag' ich keine Seide mehr!«

Als sie dieses Gelübde getan hatte, da schwand alle Angst und nichts blieb zurück als Ruhe, felsenfeste Ruhe. Die Königin der Engel hatte ihn ja gehört, den Notschrei des bebenden Mädchenherzens!

Kurze Zeit noch dröhnten über ihr die Fußtritte und die Stimmen der fremden Männer. Kein Zweifel, man suchte nach ihr. Aber man würde sie nicht finden. Gott war ja ihr Schützer und Maria hatte ihren Mantel über sie gebreitet. Endlich verstummten die Stimmen, die Schritte verhallten; sie hörte nur mehr das Rauschen des Mühlbachs, der an dem Hause vorbeitobte. Aber noch wagte sie sich nicht ans Licht, noch blieb sie in ihrem Verstecke, betend und dankend.

Da, mit einem Male ... o nein, sie täuschte sich nicht! An ihr Ohr drang eine Stimme, die ihr ganzes Herz aufjubeln ließ. Der Vater! ... Sie richtete sich hoch auf und lauschte. Unwirsch war seine Rede, scheltend. Waren vielleicht die argen Gäste noch da? Wie würde es ihm da ergehen, einem gegen vier?

Nein, er war allein. Man hörte keine andere Stimme als die seine. Niemand redete als nur er, niemand widersprach. Seine Worte faßte sie nicht, nur daß er laut vor sich hin brummte. Und er hatte auch allen Grund dazu! Kein Mensch im Hause! Keine Suppe auf dem Tische! Kein Feuer am Herde!

O wie hatte sie sonst immer gezittert, wenn der Vater schalt! Und jetzt klang ihr sein Schelten wie Musik!

Sie sprang die Treppe hinan, klopfte an die Falltür. »Vater, Vater, da bin ich!« Dann wurde die Tür aufgezogen und der Vater stand vor ihr, halb verdutzt, halb mürrisch. Sie sprach nur wenige Worte; sie sprach von Soldaten, vor denen sie sich versteckt habe. Für einen Augenblick zog fahle Blässe über sein wetterhartes Gesicht; dann schaute er ihr in die Augen, tief, tief ...

Und dann geschah, was ihr noch nie geschehen war, er warf seine Arme um sie und küßte sie auf Mund und Wangen.

*

Einige Tage später läutete es am Pförtnerstüblein des Stiftes Wilten, und als der Pförtner aufschloß, stand ein Mädchen draußen, schön und züchtig wie ein Heiligenbild. Sie hielt ein Päckchen in Händen und murmelte halb verschämt: »Für die Muttergottes, die die Jungfrauen umtragen!«

Dann ging sie eilig weg. Und als der Pförtner das Päckchen auftat, fand er darin einen prächtigen Mantel aus blauer Seide mit goldenen Borten verziert. Da freute er sich sehr und mehr noch freute sich der Pfarrmesner. Das sei wohl eine Gabe zur rechten Zeit, denn der Mantel der Prozessionsmuttergottes sei ganz abgetragen und rissig, und der Herr Prälat vergesse immer darauf, einen neuen zu spendieren.

Was es aber mit diesem Muttergottesmantel für eine Bewandtnis habe, das ahnte weder der Pförtner noch der Mesner. Ja selbst Barbels Eltern wußten nicht, warum die Tochter so sehr dränge, daß die seidene Schürze ihrer Bestimmung zugeführt werde und warum die paar Güldelein, die sie von ihrer verstorbenen Patin hatte, durchaus zu Borten für den Mantel werden mußten. Barbel hatte ihnen eben nur gesagt, sie sei vor einigen fremden Soldaten erschrocken; mehr zu sagen, sträubte sich ihre Zunge. Und die guten Eltern waren herzlich froh, daß dem Mädchen nichts Schlimmes zugestoßen sei und meinten immer noch, ihr Barbele sei nur ein Kind.

Sechs Jahre gingen vorbei. Die Eltern im Müllerhäuschen waren alt geworden und Barbara war jetzt eine schöne verständige Jungfrau voll Lebensernst und Klugheit, wie sich's die guten Müllerleute von ihr nie hätten träumen lassen. Da kam einst ein Freier des Weges, ein reicher, angesehener Mann, ein Schmiedemeister aus Fulpmes, der oft, wenn er mit seiner Ware stadtwärts fuhr, einen verstohlenen Blick auf die schöne, züchtige Müllerstochter am Gärberbache geworfen hatte. Und nun wollte er sich mit ihr ein trautes Hausglück gründen.

Die bescheidenen Müllersleute waren vor Freude außer sich und versicherten, ihre Tochter werde die Ehre einer solchen Verbindung zu schätzen wissen und ihm eine unterwürfige Gattin sein. Darauf meinte der Schmiedemeister, das sei ihm ja alles recht und schön, aber er wolle auch das Mädchen selbst befragen, und so wurde Barbara herbeigerufen.

Barbara war über die Werbung nicht so verdutzt wie die alten Leutchen. Ein Mädchen von vierundzwanzig Jahren, das zwei Augen und etwas Verstand hat, weiß gewöhnlich schon, wenn ein Mann in Ehren an sie denkt. Darum verlor sie jetzt auch keinen Augenblick ihre Seelenruhe und versicherte, sie sei herzlich gerne bereit, dem Herrn Schmiedemeister eine getreue und fleißige Meisterin zu werden. Aber eine Bedingung müsse sie zuvor stellen und wenn er nein dazu sage, dann könne aus der Sache nichts werden.

Die Eltern schauten einander verwundert an, der Schmiedemeister aber erwiderte kurz und gut, die Jungfrau möge nur immer sagen, was sie auf dem Herzen habe: etwas Unrechtes werde es sicher nicht sein.

Und nun bekannte Barbara schlicht und offen das Gelöbnis, das sie in jener angstvollen Stunde getan hatte. Und dann blickte sie den Mann, der sie liebte, mit ihren schönen, klaren Augen freundlich an und sagte: »Lieber Meister, wenn ich heute mit dem Kranze zum Altare gehen darf, dann verdank' ich's nur der Muttergottes und ihrer Hilfe. Und darum will ich halten, was ich ihr verlobt habe und will zeitlebens nichts Seidenes mehr tragen, weder Schürze noch Halstüchlein.«

Da wurden dem Manne die Augen naß; er streckte dem Mädchen die Hand entgegen und sagte: »Wenn's weiter nichts ist als das, dann sind wir handelseins, Jungfrau Braut!«

So wurde das arme Müllerstöchterlein vom Gärberbache eine wohlbestallte und angesehene Frau. Ihr frommes Gelübde aber hat sie gehalten ihr Leben lang, obwohl sich die Leute oft wunderten, daß die stattliche Schmiedemeisterin von Fulpmes nie einen Faden Seide an sich habe, nicht einmal an den höchsten Feiertagen.

Doch der Leute Gerede focht Frau Barbara nicht an und warum sie es so halte, brauchte niemand zu wissen. Erst im hohen Alter brach sie das Schweigen und erzählte einer Enkeltochter, die ihr die liebste von allen war, die Geschichte von der seidenen Schürze, aus der ein Muttergottesmantel geworden war.


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