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Früchte der Heimat

»Herr Doktor, wie steht's mit dem Gruber?« fragte Schwester Rosa, als der Spitalarzt sich anschickte, die Treppe hinabzusteigen.

Er besann sich nicht gleich. »Gruber ...? Wie ...?«

»Aus Nummer zehn. Bett gleich links neben der Türe«, kam die Pflegerin dem Gedächtnisse des Arztes zu Hilfe.

»Ach der ...! Dem geben Sie nur, was er haben will, dem ist nicht mehr zu helfen. Miliartuberkulose ... Seien Sie ein bißchen vorsichtig, Schwester.«

»Gewiß. Aber wie lange meinen Sie ...?«

»Ja, das kann man nicht sagen«, unterbrach sie der Arzt achselzuckend. »Der Kranke dürfte erblich belastet sein, und solche halten länger aus als andere. Andererseits ist etwas Herzschwäche vorhanden. Da kann's oft plötzlich aus sein.« Und er ging.

Unter den weltlichen Pflegerinnen des großen städtischen Spitals war Schwester Rosa die einzige, die Religion hatte. Dafür war sie aber auch tiefreligiös. Ihr Wunsch wäre es gewesen, Barmherzige Schwester zu werden, aber die Eltern verweigerten ihr die Zustimmung. Nun, vielleicht war sie gerade hier am Platze, wo niemand sonst neben dem Leibe auch der Seele achtete.

Leonhard Gruber hatte von Anfang an ihr Interesse erregt. Ein kluger Kopf, wohl ziemlich verworren, aber du meine Güte, wie sollte ein Wiener Schustergeselle anders sein? Und er hatte ein gutes und bis zu einem gewissen Grade auch gerechtes Urteil, hatte Interessen, die man sonst bei Ungebildeten nicht trifft. Wie es wohl gekommen war, daß er's in der Welt nicht weiter brachte als zum Lohnarbeiter? Sie hatte nie Näheres über sein Vorleben erfahren. Leicht begreiflich: im großen Krankensaale lag man Bett an Bett; das ist kein Ort, wo man sein Herz erschließt.

Heute aber war das Bett neben dem Gruber leer geworden: vielleicht wäre er heute zugänglicher.

Es war eben Zeit, das Süpplein zu bringen. Schwester Rosa ging mit den Tassen von Bett zu Bett. Zuletzt erst, so hatte sie's eigens eingerichtet, kam sie zum Gruber.

Der schüttelte den Kopf in schweigender Abwehr.

»Nein, nein, ein paar Löffel müssen Sie schon nehmen«, drängte die Pflegerin. »Gleich müssen Sie's nehmen, sonst glaub ich, daß Sie mir böse sind, weil ich Sie zuletzt bedient habe.«

Er lächelte wehmütig. »Nein, Schwester Rosa, Ihnen könnt' ich nichts übelnehmen. Sie sind immer so lieb und gut zu mir.«

Die Pflegerin freute sich, das zu hören: es gab ihr Mut. Sie reichte ihm die Suppe löffelweise, wie einem kleinen Kinde, und plauderte dabei von dem und jenem. Ganz munter, ganz unbefangen. »Mir scheint, Sie haben heute weniger Schmerzen«, sagte sie endlich.

»Ja wirklich«, bestätigte er. »Ich meine, es geht langsam aufwärts mit mir.«

Sie konnte nicht Ja sagen und wollte nicht Nein sagen. »Sie stehen ja in den kräftigsten Jahren«, erwiderte sie ausweichend. »Aber der arme Wildner im Saale nebenan – Sie kennen ihn ja ...«

»Gewiß, wir haben in derselben Gasse gehaust.«

»Er leidet sehr«, fuhr Schwester Rosa fort. Und dann ihren ganzen Mut zusammennehmend: »Er hat heute nach einem Pater verlangt.«

Über Grubers Gesicht glitt ein hämischer Zug. »Und meint er, der Pater wird ihm seinen Krebs wegblasen?«

»Ach, spotten Sie doch nicht, lieber Gruber, es ist Ihnen ja nicht ernst damit«, schalt die Pflegerin.

»Meinen Sie ...« Er schaute mit seinen großen, dunkeln Augen traurig zu ihr auf.

»Ei freilich ist's Ihnen nicht ernst«, wiederholte sie und lächelte dazu. »Denken Sie nur, ich wollte Sie fragen, ob ich den Pater – es ist ein so lieber alter Kapuziner – nicht zu Ihnen führen dürfe?«

»Zu mir ...? Und wozu?«

»Nun, ich dächte, ein freundliches Wort täte Ihnen vielleicht wohl.«

Wieder blickte sie der Kranke an, aber anders als vorher. Mit einem starren, stechenden Blicke. »Sagen Sie mir's aufrichtig, es steht schlecht um mich.«

Sie überlegte. Sollte sie ihm die Wahrheit gestehen? Würde ihn das nicht aufregen? Nicht vielleicht sein Ende beschleunigen?

Kranke sind feinfühlig. Ihr Zögern war ihm aufgefallen. »Jetzt weiß ich genug, ich muß sterben«, sagte er dumpf.

»Sterben müssen wir alle«, erwiderte sie.

»Na ja, aber wenn man von einem Geistlichen spricht, dann ist's Matthäus am letzten«, erwiderte er bitter.

»O, wegen dem Beichten ist noch niemand gestorben«, sagte sie rasch und versuchte zu lächeln.

Er machte eine abwehrende Bewegung. Sie wollte nicht zu heftig drängen. »Ich hab's Ihnen gut gemeint«, sagte sie wie entschuldigend. »Aber nun leben Sie wohl, ich muß in den anderen Saal.«

»Und sind wohl froh, vom Verstockten abzukommen«, meinte er mit seinem wehmütigen Lächeln.

Es klang nicht unfreundlich. »Ich komme schon wieder zurück zum Verstockten«, erwiderte sie und drohte scherzend mit dem Finger.

Und richtig, es währte nicht lange, so stand sie aufs neue an Grubers Bett. Ihre Finger suchten nach seinem Pulse; Himmel, wie ging der schwach und stoßweise. Das Herz, das Herz, wie lange würde es noch aushalten? Und im Innersten ihrer Seele rief sie zum Schutzengel, daß er in diesem Herzen ein Pförtlein auftue für Gottes Gnade.

Dann, um nur etwas zu sagen, begann sie. »Sagen Sie mir einmal, Herr Gruber, wo sind Sie denn her? Der Sprache nach möcht' ich Sie nicht für einen richtigen Wiener halten.«

»Ich bin auch weder ein richtiger noch ein unrichtiger. Seine Stimme klang jetzt mit einem Male munterer. »Aus der Meraner Gegend bin ich, aus Südtirol.« Und nun nahm sein Gesicht einen ganz eigenen Ausdruck an. Fast wie Verklärung kam's über die verhärmten Züge. »O, schön ist's dort, nicht zum Sagen! Schöneres, glaub ich, gibt's auf der Welt nicht, als wenn man vom Schloß Tirol hinabschaut aufs weite Etschtal und die Rebenhügel und die Obstwiesen zu Füßen hat und in der Ferne der Gantkofel die ganze Landschaft so wunderbar abschließt. O, ich kann's halt gar nicht aussprechen, wie schön es dort ist. Und wissen Sie, ich bin immer stolz gewesen, ein Tiroler zu sein.«

»Ja, das ist schon recht« meinte die Pflegerin nachdenklich. »Aber sehen Sie, ich bin erstaunt. Das hätte ich nie gemeint, daß Sie ein Tiroler wären.«

Er lachte. »Ach so. Sie wundern sich, daß ein Tiroler von einem Geistlichen nichts hören will. Nicht einmal vor dem Abkratzen, was? Ja, sehen Sie, ich hab mir von den Geistlichen halt ganz genug gekriegt. In der Schule schon. Sie dürfen etwa nicht glauben, daß ich religiös unwissend bin wie so manche Leute da in Wien, o nein, ich hab ein gutes Gedächtnis und manche Katechismusfragen kann ich noch hersagen wie's Wasser. Zum Beispiel, weil Sie gerade vom Beichten geredet haben, passen Sie auf«: Und mit leiernder Stimme, ein aufsagendes Schulkind nachäffend, plapperte er: »Die Beichte ist jenes Sakrament, in welchem der dazu verordnete Priester an Gottes Statt dem Sünder die nach der Taufe begangenen Sünden nachläßt, wenn er sie wahrhaft bereut, aufrichtig beichtet und dafür genugtut.«

Er hielt inne. »Na also?«

»Bravo! Bravo!« lobte Schwester Rosa, als habe sie den Spott nicht verstanden.

»O, ich könnte Ihnen noch vieles dergleichen aufsagen, wenn's mir nicht selber zu langweilig würde«, sagte Gruber.

»Aber sehen Sie, als ich aus der Schule entlassen war, da hatte ich von der Religion genug. Meine Mutter, die Witwe war, heiratete bald darauf einen Schustermeister, der später nach Wien verzog. Und kaum saß ich mit einigen lustigen Wiener Früchteln in meines Stiefvaters Werkstätte, so hatte ich meinen Glauben verschwitzt. Das Wiener Klima hat übrigens dem Tiroler Buben nicht gut getan; es scheint, daß ich daran sterben muß. Meinetwegen, aber da wär's mir das liebste, man möchte mir ein starkes Schlafpulver geben, das mich in den ewigen Schlaf hinüberschafft. Mit einem Geistlichen dürfen Sie mich nicht plagen, Schwester. Sonst ist's aus zwischen uns.«

Sie ging. Traurig, entmutigt. Sie sah kein Mittel, um diesen armen Menschen zu retten. Und er war ja nicht einmal böse, er hatte vielleicht nur nicht den richtigen Unterricht genossen, hatte zu wenig gehört von Gottes Liebe und Güte. Ach, der Arme, Verlassene, der den zurückstieß, der allein ihn liebte und ihm helfen wollte! Wer doch den Weg zu diesem Herzen fände!

Schwester Rosa mußte heute über Mittag nach Hause. Denn morgen war ihres Vaters Geburtstag und da gab's allerlei zu tun. Sie hatte sich gefreut auf diesen Ausgang, nun aber war all ihre Freude dahin: sie konnte an nichts denken, als an den armen Kranken im großen Spitale, der seinen Katechismus so gut auswendig wußte und doch von Gott und seiner Seele nichts hören wollte.

»Schön, Rosa, daß du Wort gehalten hast und kommst«, begrüßte sie die Mutter. »Sieh, was die Post für dich gebracht hat! Ein Obstkistchen und eine Karte.«

»Ach, von Mimi!« rief Rosa erfreut, kaum sie einen Blick auf die Karte geworfen hatte. Mimi Groß war eine Jugendfreundin, die sich gerade auf der Hochzeitsreise befand. Auf der Karte sah man eine hübsche Ansicht von Meran mit dem feinen hohen Turme der Sankt Nikolauskirche. Und als Rosa das Kistchen öffnete, lagen darin große blaue Trauben mit saftigen Kernen.

»O, die schönen Weintrauben!« freute sich die Mutter. »Die werden uns morgen gute Dienste leisten, wenn wir Einladung haben.«

Rosa sagte nichts. Ihr war ein Einfall gekommen. War das nicht ein Wink der Vorsehung, daß sie just heute Meraner Trauben erhielt! Jetzt stand ihr der Weg zum Herzen des Kranken offen.

»Herr Gruber, eine Überraschung!« rief Schwester Rosa, als sie an das arme Spitalbett ihres Schützlings trat. Und sie stellte das Kistchen vor ihn hin und hob den Deckel weg. »Ja, ja, sehen Sie nur her, Südtiroler Trauben, Meraner Trauben! Es ist schon wahr! Machen Sie nur kein so ungläubiges Gesicht.« Und sie wies ihm die Karte ihrer Freundin: »Das Bild da werden Sie wohl kennen?«

Die Augen des Kranken weiteten sich; über seine Züge glitt ein frohes, ganz seliges Lächeln. Ein paar Augenblicke blieb er sprachlos, dann murmelte er ergriffen: »Oh, Schwester, da haben Sie mir wohl eine Freude gemacht, eine große Freude!«

»Aber woher denn? Nicht ich, ein anderer.«

»Ein anderer? Es ist doch niemand, der an mich denkt.«

»So, wirklich niemand? Und denken Sie nicht an den lieben Herrgott? Der hat doch eigens diese, ja gerade diese Trauben wachsen lassen, damit Sie auf Ihrem Krankenbette einen Gruß aus Ihrer lieben, schönen Heimat hätten. Aber nun frisch zugegriffen!«

Die wachsbleichen Finger nestelten an den Trauben herum, trennten ein Ästchen weg, schoben die schwellenden Beeren langsam, bedächtig in den Mund. »Oh, das ist gut, das ist gut!« murmelte er wie ein zufriedenes Kind. Doch als er mit einer Traube fertig war, mußten auch die anderen im Saale davon haben. Schwester Rosa mußte austeilen. In seinem Namen. Er war froh, andern eine Freude machen zu können.

Dann schloß er die Augen, und lächelte stillvergnügt ... An was dachte er wohl? Vielleicht an sein schönes, fernes Heimatland, wo unter der südlichen Sonne solche Traubenbeeren schwellen, vielleicht doch auch an den lieben Herrgott, an den er sonst nie mehr gedacht hatte, an Ihn, von dem alles Gute und Süße und Reife kommt.

Leise huschte Schwester Rosa hinaus. Als am folgenden Tag der alte Kapuziner ins Krankenhaus kam, bat sie ihn, langsam durch den Saal zu wandern, worin Leonhard Gruber lag. »Vielleicht begehrt ein Kranker nach Ihnen, wenn er Sie sieht«, hoffte sie. Und dann stand sie vor der Türe des Saales mit klopfendem Herzen und gefalteten Händen und wartete.

Als der Pater hervortrat, hielt er eine Traube in der Hand.

»Das hat mir ein Kranker drin gegeben, er wollte es durchaus nicht anders haben«, sagte er und schmunzelte in seinen weißen Bart hinein.

Schwester Rosas Herz hämmerte heftiger. »Und ... und hat er bei Ihnen gebeichtet, Pater Lorenz?«

»Freilich, und es ist ganz leicht gegangen und er war recht zufrieden danach.«

Da traten Tränen in Schwester Rosas Augen, und sie erzählte dem Pater, wie alles gekommen sei.

Er lächelte. Er war ein erfahrener, alter Seelenvater und kannte die oft so wunderbaren, so feinen Kunstgriffe der Gnade.

»Danken wir Gott«, sagte er, »ein kleines Liebeswerk und ein großes Gotteswerk! Früchte der Heimat und Früchte des Himmels!«

In der folgenden Nacht verlöschte das Leben des Kranken.


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