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Das Kind des Verbrechers

In Kirchbichl sollte zu Lätare ein neuer Pfarrer aufziehen, denn der alte war an rascher Krankheit gestorben und die Kirchbichler mochten Karwoche und Ostern nicht ohne Seelsorger begehen. Mesner, Organist und Schullehrer hatten sich zusammengetan, um für einen würdigen Empfang zu sorgen. Als der Wichtigste in diesem Kleeblatt aber fühlte sich der Lehrer und er war es auch, denn abgesehen davon, daß er als Generalissimus den Aufmarsch der Schuljugend zu ordnen hatte, oblag ihm auch die Pflicht, das Begrüßungsgedicht zu verfertigen. Und er war ein feuriger Jüngling und brachte das glänzend zustande. In zehn Strophen zu je acht Zeilen war alles enthalten, was eine Gemeinde ihrem Seelenhirten zu sagen hat. »Willkommen« und »frommen«, »Luft« und »Brust«, »Pfade« und »Gnade«, kurz, das Gedicht war tadellos. Kein Wunder, daß der Poet auch den Wunsch hegte, es schön vorgetragen zu hören. Und da flößte ihm unter allen Kirchbichler Schulkindern keines solches Vertrauen ein wie das Steiner-Christele: darum wurde das Christele gewählt, obwohl die Schwester, die der Mädchenschule vorstand, darüber den Kopf schüttelte.

Eine Stunde weit von Kirche und Schule auf einem Einödhöfl am Waldessaume hauste das Christele ganz allein mit seinem Vater, dem Jäger-Nazl. Der Nazl war nie ein Tugendmuster gewesen und nun, seit er sein braves Weib, die Müller-Gredl, verloren hatte, setzte er keinen Fuß mehr in die Kirche. Dafür streifte er mit seiner Büchse durch Feld und Wald und hielt seinen Gottesdienst auf der Gemsenpasse. Ein schneidiger Kerl war er, der Nazl, ein wetterharter, einer, der weder Tod noch Teufel fürchtete und über sein Gewissen eine dicke Haut gezogen hatte. Und nur eine weiche Seite gab es in seinem Herzen, die Liebe zu seinem Kinde. Das kleine Mädchen mit den dunkeln Locken und den nachtschwarzen Wunderaugen war sein Alles auf Erden.

Das Christele war ein eigenes Ding. Die fromme, zu früh gestorbene Mutter und der wilde Waldmensch von einem Vater schienen in seinem Herzen zu ringen. Wachsweich war des Mädchens Gemüt und es konnte bitter weinen, wenn es leiden sah, sei es Mensch oder Tier. Dann aber konnte es wieder trotzen und stampfen wie ein böser Bube und wettern und fluchen wie ein Türke, denn das hatte es vom Vater gehört, der den Namen des Unterländers häufiger im Munde führte als den Namen Gottes. Wenn das Christele wollte, dann lernte es im Fluge, wollte es aber nicht, dann war kein anderes Kind so vernagelt. Kein Kind konnte so fließend lesen, so schön aufsagen, aber keines war so faul und störrisch. Das Ruhigsitzen war dem Christele ein Greuel. Im Winter flog es auf seiner Rodel die vereisten Hänge hinab und im Sommer lief es hinauf in den Wald in unbändigem Freiheitsdrange.

»Was wird wohl aus dem Steiner-Christele werden?« fragte sich oft besorgt die wackere Kuglerbäuerin. Sie war nämlich eine Verwandte von Christeles Mutter und des Kindes Gotl. Und sie nahm ihre Pflichten als Gotl ernst und tat für das Christele an Leib und Seele, was sie konnte. Droben am Steinerhöfl lebte man flott in den Tag hinein. Hatte man etwas zum Essen, dann ließ man einen lustigen Rauch durch den Kamin steigen, und hatte man nichts oder blieb der Jäger-Nazl einmal ein paar Tag aus, dann lief das Christele zur Gotl hinab, deren schönes Anwesen breit und behäbig im Tale lag und bat um ein Stücklein Brot. Das wurde mit Freuden gegeben und wohl auch Speck oder Käse dazu, und dann kam die wohlwollende Frage: »Hast wohl keine Läus?«, wobei man freundlich durch Christeles dichte Locken strich. Darauf wurde gekämmt und gestriegelt, gewaschen und geputzt, bis das Christele so christlich aussah, wie sein Name es heischte, und zu guter Letzt kam noch die Hauptsache, der Katechismus, verbunden mit allerlei guten Lehren.

So war also die Kuglerin treumütterlich um das Dirnlein bemüht. Sie selber hatte nur Buben und beklagte es, kein Töchterlein zu haben »Hätt' gehn der Herrgott nit am Kuglerhof so ein Gitschele einlegen können anstatt droben beim Steiner?« sagte sie oft. Weil sie aber dem Steiner-Kinde so herzlich gut war, so schüttelte sie nicht wie die Schulschwester den Kopf, daß dem Christele beim Pfarrereinstand solch ehrenvolle Aufgabe zugedacht war, sondern freute sich ernstlich darüber und ließ sich den langen Vers immer wieder aufsagen, wobei sie stets aufs neue sich über Christeles »gutes Talent« verwunderte.

Wenige Tage aber, ehe Christele ihren Willkommengruß sprechen sollte, brach etwas Furchtbares herein.

Seit einiger Zeit schon war in Kirchbichl bald da, bald dort ein Stück Vieh abhanden gekommen. Der Verdacht lenkte sich auf wildes Zigeunergesindel, das die Gegend kreuz und quer durchstreifte und dessen Lagerfeuer bald am Talbache, bald auf den Höhen flackerten. Weil nun die Landplage gar nicht aufhören wollte, und man der Täter doch nie habhaft werden konnte, taten sich einige Bauern zu gemeinsamer Abhilfe zusammen. Eines Abends, da die unheimliche Gesellschaft nicht weit vom Kuglerhof ihre Wagenburg aufgeschlagen hatte, meinte der Kuglervater nach dem Rechten sehen zu müssen und legte sich mit seinen großen Buben und einigen handfesten Nachbarn im Stalle auf die Lauer. Alle waren wohlbewaffnet, die einen mit Prügeln, die anderen mit Gewehren; der älteste Kuglerbub hatte auch ein elektrisches Taschenlämpchen. Man verkroch sich in die Streu, die in einer Ecke des Stalles aufgeschichtet lag, und wartete.

Mitternacht war vorbei, als sich außen am Stallfenster etwas Dunkles zeigte. Eine schwarze Gestalt, die sich langsam, vorsichtig an den Gitterstäben des Fensters emporarbeitete. Man hielt den Atem an und ließ den Mann gewähren. Und sieh, er mußte wohl schon mit einer Feile vorgearbeitet haben, denn er bog zwei Stäbe mit Leichtigkeit auseinander und schlüpfte durchs Fenster. Und er mußte im Stall des Kuglers wohl gut Bescheid wissen, denn er ging mit größter Sicherheit auf die schönste Kuh, auf die Scheckete zu, die frisch vom Kalb war und ihre achtzehn Liter gab.

Die Faust des Kuglers umklammerte das Handgelenk seines Buben, daß er nicht zu früh losgehe. Erst als der nächtliche Gast der leise murrenden Kuh einen Sack über den Kopf gestülpt und sie vom Barren losgemacht hatte, erst als er sich mit seiner Beute der Stalltür näherte, ließ der Kugler die Hand des Buben fahren. Und wie eine Katze sprang der Bursche auf den Einbrecher zu und leuchtete ihm mit seinem aufblitzenden Lämpchen voll ins Gesicht.

Sapperlott, der Jäger-Nazl war es!

Die andern hatten ihn bereits im Nu dingfest gemacht. Aber man war mehr verblüfft, als erfreut über die Entdeckung. Niemand hatte den Nazl im Verdachte gehabt, ja, man hatte den wilden Kerl gar nicht ungern. Mit Ausnahme des Wilderns, das für ein Bauerngewissen zu den allerläßlichsten Sünden gehört, hatte man ihm nie etwas Schlimmes nachsagen können. Dem alten Kugler tat es leid um ihn, aber es ließ sich nichts machen. Zu viele Zeugen hatten den Einbruch gesehen, die Sache ließ sich nicht vertuschen: Der Jäger-Nazl mußte dem Gerichte eingeliefert werden.

Als der Naz in der Keuche saß, war sein erster Gedanke an sein Kind. Er bat, mit seiner Schwester, der Kräutervef, reden zu dürfen, die zuinnerst im Tale in einem verfallenen Hüttlein hauste und ebenso ein Waldmensch war wie er. Und als sie kam, beschwor er sie, für das Kind zu sorgen und es zu sich zu nehmen, denn zu den Kuglerleuten, die an seinem Unglück schuld seien, dürfe es auf keinen Fall, es würde dort über den Vater nur schimpfen hören und überhaupt, was die Kuglerischen betrifft, so werde er weder vergessen noch verzeihen. Die Vef heulte wie ein Schloßhund vor Mitleid mit dem Bruder und versprach alles, was er wollte. Doch als sie wieder draußen war, nahm sie ihr Versprechen leicht; sie war ihr einsames Waldleben gewohnt und mochte sich nicht mit einem Kinde belasten.

Rasch war die Sache mit dem Jäger-Nazl auf den Kirchbichler Höfen herumgesprochen und auch dem verlassenen Kinde am Steinerhöfl kam sie zu Ohren. Also nicht auf der Gamsjagd war der Vater, eingesperrt hatten ihn die bösen Leute! Wie und wo man ihn aufgegriffen habe, wußte das Christele nicht, aber daß er nicht wieder kommen würde, wußte sie und laut schluchzend floh sie in den Bergwald hinauf. Dann aber kam der Hunger und das unfaßbare Weh der Einsamkeit und da lief sie hinab zum Kuglerhofe und bat um ein Stück Brot.

Der Kuglermutter ging das Herz sperrangelweit auf vor Mitleid. »Ja freilich, ein Brot sollst haben und ein Bettl dazu!« rief sie. Und so blieb das Christele eben am Kuglerhofe.

Nun war es aber eine bare Unmöglichkeit, daß das Kind eines eben festgenommenen Verbrechers dem neuen Pfarrer den Willkommengruß biete, und so mußte knapp drei Tage vor des Pfarrers Einstand Mesners Trinele ein kurzes Verslein einlernen und das Prachtgedicht des Lehrers war vergebens ersonnen.

Als Christele erfuhr, daß es mit dem Aufsagen nichts sei, kam sie völlig außer sich. Jetzt erst wurde es ihr klar, wie tief ihr unglücklicher Vater und auch sie in den Augen der Leute gesunken sei, und all ihr Zorn und Trotz brach hervor wie ein Wildbach. Ganz gottlose Reden führte das Christele: erschrecken hätte man mögen! Nicht mehr in die Schule wollte sie und wenn man sie dazu mit Gewalt zwinge, werde sie der Schwester ins Gesicht spucken. Und in die Kirche wolle sie schon gar nicht mehr und kein Vaterunser wolle sie mehr beten und vom Herrgott wollte sie nichts mehr wissen und am Himmelkommen sei ihr gar nichts gelegen, und sie wolle hinaus in den Wald und immer dort bleiben und wenn ein Bär käme und sie mit Haut und Haar auffräße, das wär ihr eben recht und vor der Hölle fürchte sie sich kein bißchen und die Teufelen seien ihr viel lieber als die christlichen Leute, denn die könne sie nicht ausstehen.

So tobte sie lange weiter, doch als sie sich ausgetobt hatte, wurde sie ganz schweigsam und versank in stumpfes, dumpfes Weh. So vergingen ein paar Tage. Da sagte die Kuglermutter: »Schau, Christele, geh doch wieder in die Schule und sei brav: es trifft dich ja jetzt bald zur ersten Kommunion. Da trotzte Christele nicht mehr, sondern blickte die Kuglermutter nur groß an, schnallte sich schweigend ihr Schulränzlein um und ging.

Vom Fenster aus sah ihr die Kuglermutter nach, sah, wie sie den Kopf hängen ließ und wie langsam sie ging, als habe sie mehr, viel mehr zu tragen als ihr Schulränzlein. Ach, die Kuglerin wußte schon, was das Christele zu tragen habe.

»Soviel erbarmen tut mir das Christele!« wandte sie sich an ihren Mann, der am Erkertische saß und sich mit seinem Tabakbeutel zu schaffen machte.

Der ließ sich nicht aus seinem Gleichmut bringen. »Ich mein', das Kind versteht's noch nicht«, sagte er und zog die Schnüre seines Tabakbeutels enger.

Seit Wochen schon war Christele auf dem Kuglerhofe und noch nie hatte sie von ihrem Vater gesprochen. Auch die Kuglerleute nicht: es war wie eine Übereinkunft des Schweigens. Aber ob das Kind nicht an ihn dachte und den Schmerz nur in sich hineinwürgte? Sie war jetzt mit einem Male so anders, so eigentümlich still und sanft und brav. Am Kuglerhofe tat sie alles, was man sie tun hieß, und in der Schule hielt sie sich ruhig wie früher nie. Die Schulschwester verwunderte sich und konnte sie nicht genug loben, denn die Klosterfrauen haben stille Kinder gern. Aber der Kuglerin war's des Guten fast zu viel. So könne es nicht weitergehen, fürchtete sie: entweder werde dem Kinde das Herz brechen vor verhaltenem Weh oder es werde ein böser Rückschlag und mit der kleinen Wilden werde es dann ärger werden als je. Noch war das Christele rein und unschuldig wie ein Waldblümlein, später aber, wenn alle Leidenschaften in der jungen Seele aufwachen und fordern und toben, wie würde es da mit dem mutterlosen Mädchen sein? Der Kuglermutter ihr Sorgenkind war das Christele: um ihre drei Buben hatte sie nie so gebangt. Die würden ihren geraden vorgezeichneten Weg gehen als wackere, aufrechte Bauernburschen, die ihre väterliche Scholle pflegen und pflügen. Die wären wie Wanderer, die, wenn sie an eine gefährliche Stelle kommen, ein schützendes Geländer finden, daran sie sich halten können. Aber woran sollte sich das Christele einmal halten?

Nun, einstweilen konnte die Kuglermutter zu ihrem Troste gewahren, daß sich das Christele recht eifrig auf ihre Erstkommunion bereitete. Ganz klug und reif schien die Kleine: es war, als habe sie mit dem Herrgott etwas Besonderes auszumachen. Die Gotl sorgte für ein schmuckes Kleidchen und ein weißes Brautkränzchen, und freute sich selber wie ein Kind auf den Weißen Sonntag. Dreimal schon hatte sie das schöne Fest der Erstkommunion an ihren eigenen Kindern miterlebt, nie aber hatte sie sich so tief bewegt gefühlt wie diesmal. War es der Gedanke an die unheimlich dunkle Zukunft des Kindes oder war es einfach die rührende Andacht, die engelgleiche Lieblichkeit, womit das einstige Waldteufelchen sich jetzt dem heiligen Tische nahte? O ja, die Kuglermutter durfte ruhig sein: das Christele hatte seine Sache gut gemacht.

Nach der Feier ging man ins Gasthaus und genoß einen redlichen Imbiß. Kaffee mit Schlagrahm und Biskottenbrot, eine saure Suppe und Würstel drin und dann noch kalten Aufschnitt bestellte die Kuglerin: die konnte sich's schon leisten. Doch verdroß es sie fast, daß das Kind nicht recht zugreifen, wenigstens nicht reichlicher frühstücken wollte als an gewöhnlichen Tagen und ganz versonnen vor sich hinblickte. Die Kuglerin nötigte vergebens; sonst sprach sie nicht viel, das Christele noch weniger. Erst daheim, als sie allein Aug' in Auge waren und die sorglich mütterliche Hand dem Kinde das weiße Kränzlein aus den dunklen Locken löste, kam die leise Frage: »Hast heut' wohl recht gebetet, Christele?«

Christele schlug die Sternenäuglein zur Gotl auf und nickte stumm. Nach einigen Augenblicken fügte sie flüsternd bei, als wage sie gar nicht laut zu sprechen: »Für den Vater.«

Nun war es heraußen, das Wort, das dem armen Kinde wohl schon lange auf der Seele gebrannt hatte. Der Kuglermutter schossen Tränen in die Augen. »Recht, Kind, recht!« lobte sie, »bet nur für den Vater, er ist recht zu erbarmen. Aber weißt, Kind, für dich selber solltest du auch beten.«

Sie hielt den Kranz empor, daß seine weißen Blüten in der Frühlingssonne, die hell durchs Fenster schien, fröhlich flimmerten. »Kind«, murmelte sie mit bebender Stimme, »schau's an, das Kranzl da! Das solltest dir halt nie, gar nie verscherzen.«

Mehr brachte sie nicht hervor. Dann schwiegen beide.

*

Die Verhandlung gegen den Jäger-Nazl gestaltete sich schwieriger, als man erwartet hatte. Der Naz war ein Gehauter. Den Einbruch im Kuglerhof konnte er freilich nicht in Abrede stellen, aber, versicherte er, das sei auch das erste und einzige, was man ihm zur Last legen könne; alle andern Diebstähle die in letzter Zeit vorgekommen waren, schob er seelenruhig auf das Schuldkonto der umherdörchernden Zigeuner. Das mochte aber der Untersuchungsrichter nicht glauben, war vielmehr überzeugt, daß Nazl in der Gegend auch Hehler haben müsse, die ihm geholfen hätten, das gestohlene Vieh zu verkaufen. Und da gab es nun viele Umfragen und lange Nachforschungen, Gendarmen hatten viele Laufereien und die Sache zog sich in die Länge.

Hochunserfrauentag war's, wo man zu Kirchbichl das Patrozinium feierte. Feierlicher als sonst läuteten schon frühmorgens die Glocken zum Englischen Gruße; dann gab's eine lange Festpredigt und ein noch längeres Hochamt mit Pauken und Trompeten und am Nachmittag die Blumenweihe, an die sich die Vesper und ein großer Umzug anschloß, an der alle Kirchbichler Jungfrauen, gleichviel ob jung oder alt, teilnehmen mußten. Vom Kuglerhofe zog ein gar ungleiches Jungfrauenpärchen aus: die alte Melkdirn Mena, ein flimmerndes Kränzlein fest um die schmalen, grauen Zöpfe geschlungen, und das Steiner-Christele mit ihrem Kommunionkränzlein, einen großen Strauß Weihkräuter, Astern und Basligon, mit beiden Händen umfangend. Das Christele hatte gebeten, mit der Mena gehen zu dürfen, denn es scheute sich, vor den Schulgefährtinnen auszurücken. Das sagte es zwar nicht ausdrücklich, aber die Bäuerin merkte es doch gar wohl und gestattete es ihm gern und meinte, die Schulschwester werde schon ein Auge zudrücken, wenn das Christele nicht mit den Schulmaidlein gehe. Denn das Christele war schon ganz anders als alle andern Kinder und auch seine Lage war anders. Das Kind des Verbrechers!

Die Bäuerin blieb diesen Nachmittag allein zu Hause, denn auch die Männer waren zum Umzug gegangen. Die Haustüre war mit einem schweren Riegel versperrt, das Hoftor fest verrammelt und drunten im Hofe kauerte der getreue Donau und ließ, wenn er irgend ein Geräusch auffing, gleich ein drohendes Knurren hören. Sie brauchte sich also wahrlich nicht zu fürchten.

Dennoch war der sonst so entschlossenen Frau seltsam bange ums Herz, als lauere ein düsteres Verhängnis über ihr, als brüte heimliches Unheil über dem Hofe. Und doch war das unheimliche Zigeunervolk längst aus der Gegend verschwunden und der Jäger-Nazl, der einzige Feind, den die Kuglerleute etwa haben mochten, saß fest hinter Schloß und Riegel. Freilich, wenn der einmal wieder frei wäre ... Ach, daran mochte die Kuglerin gar nicht denken! Und doch, wer weiß, vielleicht war's gar nicht so lange mehr hin. Denn aufs Lügen verstand er sich ja, wie man hörte, und so würde es wohl bei dem einen mißlungenen Einbruche bleiben und dann würde ihm erst noch, wie man hörte, die Untersuchungshaft angerechnet werden, ach, und dann konnte er vielleicht schon im Frühling wieder da sein und sein Kind zurückfordern und, wenn ihm der Boden in der Heimat zu heiß geworden war, vielleicht mit Christele davonziehen, weiß Gott wohin!

»Daß mir heute gar so schwer ums Herz ist!« verwunderte sich die Kuglerin. Sie war solche Stimmungen sonst nicht gewohnt. War's das völlige Alleinsein auf dem einsamen Hofe oder die tiefe Feiertagsstille um sie her? Endlich riß sie sich gewaltsam aus der trüben Laune, schlang den Rosenkranz um die Hände und kniete sich in den Herrgottswinkel, um zu beten. Und ehe sie mit ihrer Andacht zu Ende war, hörte sie auch schon das Hoftor knarren. Die Mander waren vom Kirchen heimgekehrt.

Gleich nachher erschienen auch die beiden Jungfrauen, die alte und die kleine. Und wie damals nach der Erstkommunion löste die Kuglermutter schier ehrfürchtig das weiße Kränzlein aus Christeles dunklen Haaren und verschloß es in ihren Wäscheschrank. Diesmal aber sprach sie kein Wort dabei und knüpfte keine Mahnrede an diese Handlung: ihr war das Herz noch immer so eigentümlich schwer. Frauenherzen, Mutterherzen haben oft seltsame Ahnungen.

Der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen; glutrot sank die Sonne hinter den Waldbergen. »Heut' die Nacht könnt' ein Wetter kommen«, weissagte Jaggel, der alte Knecht, der solche Naturereignisse meist in seinen Knochen vorausfühlte. Und richtig, nach dem Abendessen, während die Hausmutter und Mena in der Küche Ordnung schafften und der Vater mit den Buben auf der Hausbank saß, begann es in der Ferne leise zu rollen und zu grollen. Das Christele aber hörte nichts mehr davon: es lag schon in festem Schlafe. Es hatte sein eigenes Kämmerlein, ein nettes, winziges, worin nicht viel anderes Raum hatte als ein Stuhl und ein Bettlein. Am Kopfende des Bettes hing ein Bild der Immerwährenden Hilfe und an der Breitwand über dem Weihbrunnkrüglein ein Bildchen der heiligen Christina, die auch ein kleines Mädchen gewesen war und doch mutig ausgehalten hatte in harter Pein um Jesu Namen willen.

Leises Pfeifen mischte sich in das Rollen des Donners; näher schoben sich die schwarzen Wolken. »Vor Blitz und Ungewitter bewahre uns, o Herr!« betete die Bäuerin. Der Bauer aber meinte, recht bös werde es nicht ausfallen und vor einem Hagelschlage brauche man sich nicht zu fürchten. Und schließlich begaben sich alle Kuglerleute, eines nach dem andern, zur Ruhe und ließen sich vom Sturmwind in Schlummer orgeln.

*

Da ... nach Mitternacht gab's einen Krach ... Dann einen Schlag, einen furchtbaren, daß alle Schläfer jäh aus den Kissen fuhren.

»Eingeschlagen hat's!« war der erste Gedanke.

Aber wo? Etwa im Kirchdorfe droben? Oder auf der andern Bergseite, wo das verlassene Steinerhöfl am Waldsaume stand?

Die Bäuerin war aus dem Bett gesprungen und hatte sich rasch Leibl und Wilfling angetan. Dann langte sie nach dem Palmzweig über ihrem Bette; den wollte sie anzünden und glimmen lassen, bis das Wetter vorüber wäre.

Doch in diesem Augenblick schlug ein hellroter Schein an ihre Augen. »Himmlischer Vater, es brennt!« rief sie.

Auf ihren Schreckensruf antwortete ein anderer vom Hofe herauf; der aber klang hundertmal furchtbarer. Sie eilte ans Fenster; da sah sie das Entsetzliche. Quer durch den Hof sauste schreiend eine kleine Feuersäule dem Brunnen zu.

»Christele!« schrie die Kuglerin. Und schon war sie drunten.

Das Kind hatte sich in den Brunnentrog gestürzt und wälzte sich darin, das brennende Pfaitlein zu löschen.

Die Kuglermutter riß es an sich und schloß es in die Arme. Was weiter um sie vorging, sah sie nicht mehr, achtete nicht darauf.

In der Scheune war das Feuer ausgebrochen. Und da Christeles Kämmerlein an die Scheunenmauer stieß, mochten die Flammen durch das Fensterlein gedrungen sein und die Kleine im Schlafe erfaßt haben. Und dann war das unglückliche Kind in seiner Angst und seinen Schmerzen durchs Fenster gesprungen.

Der Kuglervater hatte sich, von seinen Söhnen unterstützt, daran gemacht, das brüllende Vieh aus dem Stalle zu treiben. Die alte Mena bemühte sich, einigen Hausrat zu retten, mußte aber bald davon lassen, denn von einem schneidigen Winde gepeitscht, griff das Feuer mit Riesengeschwindigkeit um sich. Der Kuglerhof war verloren. Wohl mußte man im Dorfe den Feuerschein sehen und sich zur Hilfe rüsten, aber es war ein weiter Weg von dort herüber. Und als endlich die Feuerspritzen heranrasselten, hatte die Lohe schon ihr grauses Werk getan: Scheune und Wohnhaus waren nur mehr ein flammender Trümmerhaufen.

»Der Blitz ist's gewesen«, sagte der Bauer. Und dasselbe sagte auch der alte Jaggel. Nur seltsam, daß zugleich mit dem Krache auch schon das Feuer emporschlug! Doch der Feuerwehrhauptmann meinte, das komme wohl vor.

Bald nach den Feuerwehrleuten war aber noch ein anderer am Platze erschienen ... der Pfarrer. Löschen konnte der freilich nicht helfen, wohl aber trösten und den Abbrändlern einige Hilfe anbieten. Ach, und noch etwas anderes, woran er bei seinem eiligen Kommen wohl kaum gedacht hatte, einem jungen Menschenkinde beistehen in seinen letzten Augenblicken!

Fernab vom Hasten und Treiben der Männer lag im Obstanger des Kugleranwesens das Steiner-Christele in den Armen seiner Gotl. Ein Leilach, eins von den wenigen die man am Kuglerhofe gerettet hatte, lag über das zuckende Körperchen gebreitet. Und sooft die Kuglermutter ins schmerzverzerrte entstellte Gesichtlein blickte, brach sie in den Ruf aus: »Ich kann's nimmer ansehen!« Aber sie hielt doch mutig aus, wenn's ihr auch war, als litte sie die Feuerpein am eigenen Leib.

Dem Pfarrer, der neben dem Kinde auf den Knien lag und die Sterbegebete murmelte, ging das Mutterleid der Kuglerin zu Herzen. »Das Kind ist nicht mehr bei sich«, meinte er sie trösten zu müssen.

Im gleichen Augenblicke aber hoben sich die geschlossenen Lider, deren schöne lange Wimpern so elend versengt und vernichtet waren, und es strahlte ein Blick hervor, ein großer, schmerzlicher, der für eine Sekunde das furchtbar zugerichtete Märtyrergesichtlein verklärte. Da verstand der Pfarrer, daß er sich getäuscht hatte, daß das Kind wisse und empfinde und leide: er beugte sich tief zu ihm und flüsterte ihm die heiligen Namen zu, denn eine andere Wegzehrung konnte er ihm nicht reichen.

»Jesus, Maria!« kam's über die verbrannten Lippen, leise, schmerzlich. Es folgte ein stöhnender Seufzer, daß man glauben konnte, es sei alles vorbei. Dann aber kam's noch einmal leise, so leise, daß nur das scharfe Mutterohr der Kuglerin es auffing: »Für den Vater ...!«

Und das war das Letzte ...!

*

Am niedergebrannten Kuglerhofe gab's kein Plätzchen mehr, wo man das Christele leichweise legen konnte; ins Ortsspital mußte man sie bringen und ihr dort das letzte Bett zurechtrichten. Und seltsam! Unter den wenigen Bettüchern, die man gerettet hatte, war auch das weiße Kränzlein verborgen gelegen, das Christele an ihrem Kommuniontage getragen hatte und gestern wieder beim großen Umzuge. Und weinend drückte es die Kuglermutter auf das arme Köpflein, dessen dunkler Lockenschmuck so grausam zerstört war.

In diesem mild-feierlichen Augenblicke stürzte jemand geräuschvoll in die Totenkammer.

Hilf Himmel, der Jäger-Nazl!

Die Kuglerin stand wie versteinert. Sie gab sich gar nicht Rechenschaft, wie denn der Nazl hieher komme und ob er vielleicht – unwahrscheinlich genug! – auf die Nachricht vom Tode seines Kindes für kurze Zeit von der Haft entlassen worden sei. Nein, sie stand ganz betäubt, ganz verwirrt neben ihm und hatte ein dumpfes Gefühl, als habe sie einen Frevel wider ihn begangen und müsse ihn um Vergebung bitten.

»Ist sie's?« stöhnte er.

Kein Wunder, daß er sein schönes Kind nicht mehr erkannte!

Die Bäuerin fand nicht gleich eine Antwort. Erst als er zermalmt in die Knie brach, faßte sie sich ein Herz. »Naz, siehst wohl, ich hab's ihr gut gemeint. Ich hab' mir gedenkt, ich bin die Gotl. Ja freilich, Naz, ich hab' sie ins Haus genommen und jetzt siehst wohl ...«

Weiter kam sie nicht. Sie fürchtete, er werde wüten und ihr die Schuld aufbürden am Tode seines Lieblings. Warum hast du das getan? Warum sie zu dir genommen? Erst habt ihr mich ins Loch gebracht, ihr Kuglerleute, und nun habt ihr mich auch ums Kind gebracht!

Er aber sagte nichts dergleichen. Eine Zeit lang wand er sich am Boden wie ein Gemarterter, der seine Qual von sich abwälzen will; dann richtete er sich gach auf und stierte nach der kleinen Toten. Und dann kam's heiser, kreischend, furchtbar: »Ich bin schuld! Ich bin der Mörder! Ich, ich ...!«

Wie er es hervorstieß, dieses schaudervolle Wort! Die Frau meinte, einen Wahnsinnigen vor sich zu sehen. »Nein, nein, Naz«, wollte sie ihn beruhigen, »kein Mensch gibt dir die Schuld. Der Blitz hat eingeschlagen ...«

Da sprang er auf; seine Zähne schlugen aufeinander, seine Augen flackerten wild. »Was Blitz! Ich bin's gewesen. Ich hab' dem Kugler einen Denkzettel geben wollen und hab' mir selber ins Fleisch geschnitten, mitten durchs Herz hab' ich mir geschnitten. O Kind, o mein einziges, ich hab' dich umbracht!«

Nun endlich hatte die Kuglerin begriffen. Sie faßte den Elenden am Arme, hieß ihn aufrecht stehen neben der Leiche des Kindes und sagte mit einer Stimme, die mild und mahnend klang: »Hör' auf zu wüten, Naz! Dein Kind hat für dich sterben müssen, für deine Seel'. Ihr letztes Wort – o ich hab's gut gehört: – ihr letztes Wort ist gewesen: Für den Vater!«

Von der Leiche seines Kindes weg stellte sich der Naz dem Gerichte. Tags vorher war er, eine günstige Gelegenheit nützend, aus der Haft entwischt, um am Kugler Rache zu nehmen, und nun war die Rache tausendmal zurückgefallen auf sein eigenes Haupt. Gern bekannte er jetzt alles und schob seine Schuld nicht mehr auf andere. Und der Kaplan der Fronfeste, ein ehrwürdiger Kapuziner, hatte leichte Arbeit mit ihm. Als Brandstifter, durch dessen Schuld ein Menschenleben zu beklagen war, wurde er zum Tode verurteilt. Sein Verteidiger wollte sich um Begnadigung bemühen, aber der Naz wollte davon nichts hören: ihm schien der Tod, und wenn's auch der schmachvolle am Galgen war, eine gerechte Sühne, vielleicht auch eine Erlösung. Und Gott war dem Reuigen gnädig. Gleich nach Verkündung des Urteils fiel er in ein heftiges Fieber, das sich bis zur Todeskrankheit steigerte. Sein letzter Trost war ein Besuch der Kuglerin im Häftlingsspitale. Mit der herzlichen Beteuerung, sie und ihr Mann hätten ihm verziehen, reichte sie ihm die Hand. Und er hielt ihre Hand fest und blickte sie lange an mit seinen roten, fieberflackernden Augen. Und dann bat er: »Kuglerin, sag's mir noch einmal, wie sie gesagt hat, mein Christele, eh sie gestorben ist!«

Und leise weinend wiederholte die Kuglermutter Christeles geflüstertes Wort: »Für den Vater!«


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