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Viertes Kapitel.

Das Mädchen von Mecheln.

Es war Mittag in der Stadt Mecheln; die Sonntagsglocke hatte die Bewohner zum Gottesdienst gerufen und die Menge, die um die St. Remboldi-Kirche geschlendert, war allmälig in den geräumigen Hallen des großen Gebäudes verschwunden.

In der Straße stand ein junger Mensch, die Augen an den Boden geheftet und offenbar nach irgend einem Ton hinhorchend; denn ohne die Blicke vom rauhen Pflaster zu erheben, wandte er sich mit gespanntem, ängstlichem Ausdruck der Miene nach allen Seiten hin. In der einen Hand hielt er einen Stock, in der andern eine lange, dünne Schnur, deren Ende auf der Erde nachschleppte, und hie und da rief er mit kläglicher Stimme: »Fido, Fido, daher! Warum hast du mich verlassen?« – Fido stellte sich nicht ein; seiner Fessel müde war der Hund aus der Schlinge geschlüpft, und unterhielt sich jetzt mit seines Gleichen in einem entfernten Stadttheil, es dem Blinden überlassend, wie er den Weg zu seinem einsamen Gasthaus zurückfinden wollte.

Nach einiger Zeit kam ein leichter Schritt die Straße daher, und das Gesicht des jungen Fremdlings heiterte sich auf.

»Verzeihen Sie,« hob er nach dem Ort gewandt an, wo sein leises Gehör den Ton vernommen hatte, – »möchten Sie mich, wenn Sie nicht etwa zu sehr beeilt seyn sollten, um einen Augenblick verlieren zu wollen, nicht nach dem Gasthof le mortier d'or weisen?«

Die also Angeredete war ein junges Mädchen, deren Kleidung zu erkennen gab, daß sie dem Mittelstand angehöre.

»Er ist nicht weit von hier entfernt, mein Herr,« sprach sie.

35 »Verfolgen Sie Ihren Weg noch etwa vierzig Schritte weit grad' aus, und wenden sich dann um die zweite Ecke rechts« . . . .

»Ach!« unterbrach sie der Fremde mit trübem Lächeln: »Ihre Weisung wird mir wenig helfen; mein Hund ist mir entlaufen – und ich bin blind.«

In diesen Worten und in der Stimme des Fremdlings lag Etwas, das dem jungen Mädchen unwiderstehlich ins Herz griff. »Ach vergeben Sie mir,« erwiederte sie fast mit Thränen in den Augen, »ich hatte nicht bemerkt« – daß Sie ein solches Unglück haben, wollte sie sagen, hielt aber mit instinktartiger Zartheit an. »Fassen Sie mich an, ich will Sie an das Haus bringen; wirklich mein Herr« – sehend, daß er zögerte – »ich habe Zeit genug, ich versichere Sie.«

Der Fremde legte seine Hand auf den Arm des Mädchens, und obwohl Lucilie von Natur so schüchtern war, daß selbst ihre Mutter ihr das Uebermaß weiblicher Zurückgezogenheit lachend vorwarf, fühlte sie nicht das geringste Zucken der Schaam, als sie sich so plötzlich allein mit einem jungen Mann, dessen Kleidung und Benehmen einen höheren Rang als den ihrigen andeuteten, in die Straßen von Mecheln versetzt sah.

»Ihre Stimme lautet sehr sanft,« sprach er nach einigem Stillschweigen; »und daran allein,« fügte er mit einem leichten Seufzer hinzu, »erkenn' ich was jung und schön ist.«

Jetzt erröthete Lucilie, und dem Erröthen gesellte sich ein leichter Schmerz bei, denn sie wußte wohl, daß sie keine Ansprüche auf Schönheit habe.

»Sind Sie in dieser Stadt zu Haus?« fuhr er fort.

»Ja, Herr, mein Vater hat ein kleines Amt beim Zollwesen, und meine Mutter und ich helfen seinem Einkommen durch Spitzenmachen nach. Man nennt uns arm, aber wir selbst empfinden nichts davon.«

»Sie sind glücklich; kein Reichthum geht über den Reichthum des Herzens – die Zufriedenheit,« erwiederte der Blinde wehmüthig.

36 »Und ist Monsieur,« fragte Lucilie, auf sich selbst böse, im Herzen des Fremden das Gefühl seines Unglücks aufgeregt zu haben, und sich bestrebend, den Gegenstand des Gesprächs abzuändern: »und ist Monsieur schon lang in Mecheln?«

»Erst seit gestern. Ich bin auf einer Reise durch die Niederlande begriffen. Vielleicht lächeln Sie über die Reise eines Blinden, aber selbst der Blinde wird es überdrüssig, ewig an einerlei Ort zu bleiben. Ich dachte während der Kirchzeit, wo die Straßen leer sind, mit Hülfe meines Hunds wenigstens die Luft der Stadt, deren Anblick mir versagt ist, mit Sicherheit genießen zu können; aber es gibt, glaub' ich, Menschen, denen es nicht einmal so gut wird, einen Hund zum Freund zu haben!«

Der Blinde sprach bitter – die Treulosigkeit seines Hundes war ihm durchs Herz gegangen. Lucilie wischte die Augen. »Reist Monsieur denn allein?« fragte sie. Dabei sah sie ihn aufmerksamer an, als sie es bisher gewagt, und bemerkte, daß er kaum über zwei und zwanzig Jahre zähle. »Ist sein Vater oder seine Mutter« fügte sie, mit Nachdruck auf dem letzten Wort hinzu – »nicht bei ihm?«

»Ich bin verwaist,« antwortete der Fremde, »und Bruder oder Schwester hab' ich nicht.«

Der verlassene Zustand des Blinden rührte Lucilien tief; nie war sie so seltsam ergriffen gewesen. Sie fühlte eine wunderbare Unruhe im Herzen– eine geheime, tiefe Sympathie, die sie mit einem Mal zu ihm hinzog. Sie wünschte, der Himmel hätte sie seine Schwester werden lassen.

Der Gegensatz der Jugend und Gestalt des Fremden mit dem Gram, welcher aus jener die Hoffnung, aus dieser die Regsamkeit weggenommen, vermehrte ihr Mitleid. Seine auffallend regelmäßigen Züge trugen in ihren Umrissen einen gewissen Adel; sein Körperbau war anmuthig und fest, obwohl er vorsichtig und nicht mit heiterem Tritt einherging.

37 Sie hatten jetzt in eine enge Straße eingebeugt, die auf den Gasthof zuführte, als sie hinter sich Hufschlag vernahmen. Lucilie wandte sich hastig um, und sah, daß ein Trupp belgischer Reiterei durch die Stadt zog.

Sie drängte ihren Schützling fest an die Mauer, und stellte sich, vor Angst zitternd, neben ihn. In vollem Trab ritt die Schaar durch die Straße, und hätte Lucilie dem Blinden ins Gesicht geschaut, so würde sie bemerkt haben, daß beim Laut der klirrenden Waffen und tönenden Hufe Begeisterung die gramvollen Züge überflog und das Haupt sich stolz von der gewohnten, wehmüthigen Beugung erhob. »Gott sey Dank!« rief sie, als der Trupp beinah vorüber war, »die Gefahr ist zu Ende!« – Nicht so! einer der beiden letzten Soldaten, die neben einander ritten, hatte zum Unglück ein junges, schwer zu bändigendes Pferd. Die Flüche und der einbohrende Sporn des Reiters vermehrten nur das Feuer und die Ungeduld des Thiers; es schlug nach beiden Seiten des engen Gäßchens aus.

» Gardez-Vous!« rief Jener, als er an die Stelle kam, wo Lucilie und der Fremde sich an die Mauer drückten. »Seyd Ihr toll? warum geht Ihr nicht aus dem Weg?«

»Ums Himmels willen, um des Erbarmers willen, er ist blind!« rief Lucilie und schmiegte sich fest an den Fremden.

»Retten nur Sie sich, meine gütige Führerin!« sagte der Fremde. Aber ihn so zu verlassen, kam ihr nicht zu Sinn. Der Reiter zwängte den Kopf des Pferdes von der Stelle, wo das Paar stand, weg; schnaubend schlug das wüthende Thier, als es den Sporn fühlte, mit den Hinterbeinen aus, und Lucilie, unfähig sich selbst und den Blinden zu sichern, stellte sich vor Diesen und empfing den Schlag, der gegen Jenen gerichtet gewesen; zerschmettert sank ihr zarter, dünner Arm an ihr nieder – der Reiter aber gelangte von der Stelle.

»Gott sey Dank! Sie sind in Sicherheit!« war der Ausruf der Getroffenen; und überwältigt vor Schrecken und Schmerz sank sie in die Arme, die der Fremde mechanisch zu ihrem Empfang öffnete.

38 »Meine Führerin, meine Freundin!« rief er, »Sie sind verletzt, Sie . . . . .«

»Nein, mein Herr,« unterbrach ihn Lucilie mit schwacher Stimme, »mir ist besser, mir ist wohl. Fassen Sie gefälligst diesen Arm; wir sind jetzt nicht mehr weit von Ihrem Gasthof.«

Aber des Fremden Ohr, für jede Beugung der Stimme eingeschult, unterrichtete ihn sogleich von den Schmerzen, die sie duldete; stufenweis entlockte er ihr das Geständniß des Schadens, den sie genommen; daß sie derselbe aber blos in Folge seiner Beschützung getroffen, sagte ihm das großmüthige Mädchen nicht. Er bestand jetzt darauf, daß sie Dienst gegen Dienst austauschten und er sie nach ihrer Wohnung begleiten dürfe; und seine Führerin, die vor Schmerz fast ohnmächtig wurde und kaum gehen konnte, sah sich zur Einwilligung genöthigt. Indessen stand das kleine Haus ihres Vaters nur wenige Schritte um die nächste Ecke; sie erreichten es, und kaum hatte Lucilie die Schwelle hinter sich, als sie niedersank und mehrere Minuten unempfindlich für ihr Leiden war. Dem Fremden verblieb es, den Auftritt zu erklären und zu bitten, daß man gleich nach einem Wundarzt schicke. »Nach dem geschicktesten, dem angesehensten in der Stadt!« rief er. »Seht, ich bin reich und Das ist das Geringste, was ich thun kann, Eure edelmüthige Tochter dafür zu belohnen, daß sie einen fremden Mann in der Gefahr nicht verlassen hat.«

Mit diesen Worten hielt er seine Börse hin; der Vater aber schlug das Dargebotene aus, und dem Blinden ward einige Beschämung erspart, sofern er das Erröthen des ehrlichen Unwillens, womit man eine so dürftige Belohnung abwies, nicht sehen konnte.

Der junge Mann blieb, bis der Wundarzt ankam und der Arm wieder eingerichtet war. Auch schied er nur, als er von der Mutter das Versprechen erhalten hatte, daß man ihn am nächsten Morgen benachrichtigen wolle, wie die Leidende die Nacht zugebracht.

Zwar hatte er beabsichtigt, am folgenden Morgen eine Stadt zu 39 verlassen, die dem Reisenden nur geringen Reiz darbietet; aber er zögerte Tag für Tag, bis Lucilie selbst ihre Mutter begleitete, um ihn von ihrer Wiederherstellung zu versichern.

Du weißt, oder wenigstens ich weiß, theuerste Gertrud, daß es eine Liebe beim ersten Blick, ein Geheimniß, eine nicht weiter zu erklärende Verwandtschaft zwischen sich vorher fremden Menschen gibt, die Beide unwiderstehlich an einander zieht. Wäre Wahrheit in Platos schöner Dichtung, wonach unsere Seelen ein Theil der Sterne sind, so könnte es seyn, daß Geister, die so an einander hängen, ihr Urlicht aus demselben Stern gezogen haben, und jetzt nach Erneuung des alten Bundes schmachten. Ohne jedoch unsere Zuflucht zu einer so metaphysischen Lösung eines alltäglichen Mysteriums zu nehmen, war es nicht mehr als natürlich, daß ein Mensch in der verlassenen, unerquicklichen Lage Eugen St. Amands eine gewisse Zärtlichkeit für eine Person fühlen mußte, die so großmüthig für ihn gelitten hatte.

Die Finsterniß, zu welcher er verdammt war, verschloß sein geistiges Aug nicht gegen vorüberhuschende Bilder frei erschaffener Schönheit; im Gegentheil, in seiner fortwährenden, unbeschäftigten Einsamkeit empfand er mächtig die Träume einer von Natur warmen Phantasie und eines nach Mitgefühl und Mittheilung schmachtenden Herzens.

Mit Recht hatte er geäußert, daß das einzige Probezeichen der Schönheit für ihn in der Melodie der Stimme liege, und nie hatte ein sanfterer, oder sein Innerstes mehr ergreifender Ton sein Ohr berührt als der des jungen Mädchens. Ihr das eigene Selbst so schön verläugnender, frommer Liebesruf: »Gott sey Dank, Sie sind in Sicherheit!« im Augenblick, wo der Schmerz sie selbst erfaßt hatte, klang fortwährend vor seiner Seele. Er gab sich unbestimmten, köstlichen Empfindungen, die bis jetzt in seiner jungen Brust noch nicht erwacht waren, hin, ohne sich die Natur derselben zum klaren Bewußtseyn zu bringen. Und Lucilie? – eben der Unfall, der ihr um seinetwillen zugestoßen, vermehrte nur die Theilnahme, die sie schon vorher für 40 einen Menschen empfunden, der in der ersten Jugendblüthe von den hellen Bildern des Lebens so ausgeschlossen, so einsam und trostlos einer ewigen Nacht zugewiesen war. Dein schönes und freundliches Geschlecht hat immer den liebevollen Drang, für Andere zu sorgen. Vermöge desselben ist es der Schutzengel der Kranken, der Trost des Alters, die Pflege der Kindheit; diese in Lucilien besonders entwickelte Empfindung hatte ihre mitleidige Natur bereits mehr, als ich auszudrücken im Stand bin, an das Loos des unglücklichen Reisenden gefesselt. Bei einem glühenden Herzen und bei einer Denkweise, die über ihren Stand und ihre Jahre hinausging, war sie nicht ohne jene bescheidene Eitelkeit, die ihr den Mangel an eigener Schönheit auf eine empfindliche Weise fühlbar machte. Sich instinktmäßig bewußt, mit welcher Leidenschaft sie selbst lieben könnte, hielt sie es für unmöglich, von einem Andern je in gleichem Grad geliebt zu werden. Dieser Fremde, der in ihren Augen so hoch über Allem stand, was sie je gesehen, hatte sie zum ersten Mal mit der Stimme angeredet, die durch Töne, nicht durch Worte, jede Bewunderung ausdrückt, die dem weiblichen Herzen so theuer ist. Für ihn war sie schön, und zu ihm sprach ihr liebevolles Gemüth, ohne durch die Unvollkommenheit ihrer Züge Eintrag zu erleiden. Wirklich fehlte Lucilie nicht jeder körperliche Reiz; ihr leichter Schritt und ihre anmuthige Gestalt bewegten sich mit der Elasticität der ersten Jugend; in ihrem Mund, ihrem Lächeln lag ein so milder, zarter Ausdruck, daß es Augenblicke gab, wo nicht nur ein Blinder sie für schön gehalten haben würde. In frühester Kindheit hatte sie wirklich hübsch zu werden versprochen, aber von den Pocken, einer damals noch furchtbaren Seuche, waren diese Keime unerbittlich zerstört worden. Nicht nur die glatte Haut und die glänzenden Farben wurden versengt, sondern auch der Charakter des Gesichts gänzlich abgeändert. Zufälligerweise stand ihre Familie im Ruf der Schönheit und that sich auf diesen Ruf etwas zu gut, und so bitterlich hatten ihre Eltern die Wirkungen der grausamen Krankheit beklagt, daß sich das 41 arme Mädchen schon früh gewöhnte, dieselben weit höher anzuschlagen, als sie es in der That verdienten, und die Vorzüge der Reize zu überschätzen, deren Verlust ihren Eltern ein so schweres Unglück dünkte. Zudem hatte Lucilie eine Verwandte Namens Julie, die ihren körperlichen Vollkommenheiten wegen für das Wunder von ganz Mecheln galt. Da beide Bäschen viel zusammen kamen, sprach sich der Gegensatz zu schneidend aus, um nicht bei der Ersten manches peinliche Gefühl zu veranlassen; aber jedes Unglück hat eine Art Gegengewicht: das Bewußtseyn der äußerlichen Unzulänglichkeit hatte ihr Gemüth mild gestimmt, ohne ihr Bitterkeit zu geben, hatte einem Geist, der unter andern Verhältnissen vielleicht zu hochfahrend geworden seyn dürfte, Sanftheit, einem Herzen, das von Natur fest, leidenschaftlich und energisch war, Demuth eingebracht.

Uebrigens war derjenige Nachtheil, der ihr als furchtbarste Folge des Schönheitsmangels vorschwebte, längst von ihr beseitigt. Wer Lucilien kannte, der liebte sie auch. Wohin sie kam, verbreitete ihr lieblicher, sanfter Geist einen unausdrückbaren Zauber, und wo sie fehlte, vermißte man Etwas, das selbst Juliens Schönheit nicht ersetzen konnte.

»Ich habe mir vorgenommen,« sagte St. Amand zu Madame Le Tisseur, Luciliens Mutter, als er in ihrem kleinen Salon saß – denn schon war er auf jenen Grad der Vertraulichkeit mit der Familie gekommen, die ihm erlaubte, sich nach ihrer Wohnung führen zu lassen und die Besuche zurückzugeben, die Madame ihm gemacht; und der Hund, der sich als bußfertiger Sünder bei seinem Herrn wieder eingefunden hatte, leitete seine Schritte stets sicher nach dem bescheidenen Häuschen und hielt instinktmäßig vor der Thür still; – »ich habe mir vorgenommen,« sagte St. Amand nach einer Pause mit einiger Verlegenheit, – »etwas länger in Mecheln zu bleiben. Die Luft schlägt mir zu und die Stille des Ortes gefällt mir, aber Sie fühlen wohl, Madame, daß in einem Gasthof unter lauter Fremden meine Lage nicht 42 ganz behaglich ist. Ich dächte« – St. Amand hielt wieder inn – »ich dächte, wenn ich eine freundliche Familie bereden könnte, mich als Miethmann aufzunehmen, so möcht' ich wohl noch einige Wochen hier verweilen. Ich bin leicht befriedigt.«

»Ohne Zweifel gibt es viele Leute in Mecheln, die sichs zum höchsten Glück schätzen würden, einen solchen Miethmann zu bekommen.«

»Wollten Sie mich aufnehmen?« fragte St. Amand plötzlich. »Eben an Ihre Familie hatte ich gedacht.«

»An uns? Monsieur ist sehr schmeichelhaft, aber kaum haben wir ein Zimmer, das gut genug für Sie wäre.«

»Was für einen Unterschied zwischen einem Zimmer und einem andern kann es für mich geben? Für mein Bedürfniß ist dasjenige das beste Gemach, worin die Menschenstimme am freundlichsten erklingt.« – Die gewünschte Einrichtung wurde getroffen und St. Amand kam unter Ein Dach mit Lucilien zu wohnen. Und war sie nicht glücklich, daß er einer so fortwährenden Aufmerksamkeit bedurfte? war sie nicht glücklich, daß sie ihm stets einen Dienst leisten konnte? St. Amand liebte die Musik leidenschaftlich; er selbst spielte die Flöte mit einer Fertigkeit, die nur noch von der Melodie seiner eigenen Stimme übertroffen ward: und war Lucilie nicht glücklich, wenn sie stumm dasaß und auf Töne hörte, wie sie in Mecheln noch nie vernommen worden? War sie nicht glücklich, wenn sie auf ein Gesicht blickte, dessen schwermüthigem Ausdruck ihre Stimme augenblicklich ein Lächeln abgewann? War sie nicht glücklich, wenn die Musik endigte und St. Amand rief: »Lucilie!« Dünkte ihr, ihr Name von diesem Mund ausgesprochen, nicht süßer als selbst die Musik? War sie nicht glücklich, wenn sie an stillen Sommerabenden ausgingen, und ihr Arm unter der leichten Berührung des Menschen, der sie so wenig entbehren konnte, bebte? War sie nicht stolz in ihrem Glück, und lag in der Dankbarkeit, daß er ihren demuthsvollen Geist zum Triumph sich geliebt zu fühlen, erhoben hatte, nicht etwas wie Verehrung für ein höheres Wesen?

43 St. Amand stammte von französischen Eltern. Sie hatten in der Gegend von Amiens gewohnt, wo ihnen ein einträgliches Gut durch Erbschaft zugefallen war. Zwei Jahre vor dem Beginn meiner Geschichte folgte er ihnen in dem Besitzthum nach.

Seit seinem dritten Lebensjahr war er blind. »Ich weiß nicht,« sprach er, als er sich eines Abends mit Lucilien allein befand und ihr die eben berichteten Einzelheiten erzählt hatte – »ich weiß nicht, wie die Erde, oder der Himmel, oder die Ströme, deren Laut ich wenigstens vernehme, aussehen mögen, denn ich habe keine Erinnerung, außer an einen wirren aber herrlichen Zusammenfluß von tausend strahlenden Farben – an eine glänzende, mich durchblitzende Empfindung des Jubels – eine sichtbare Musik. Aber erst am Schluß meiner Kindheit trauerte ich um das Tageslicht und traure seitdem unabläßig. Meine Knabenzeit verstrich in ruhiger Heiterkeit; die unbedeutendste Kleinigkeit vermochte damals der Leere meines Gemüths Lust, Beschäftigung zu geben. Als ich jedoch Geschmack daran gewann, wenn man mir vorlas, als ich auf die lebendigen Gemälde der Dichter horchte, als ich beim Vernehmen großer Thaten erglühte, als ich durch Bücher mit der Kraft der Thätigkeit, der Wärme, der Pracht, der Begeisterung des Lebens bekannt ward, öffnete sich mir allmälig der Sinn für all das, was mir auf immer abging. Ich fühlte, daß ich nur da war, aber nicht lebte, und mitten in der allgemeinen Freiheit zu einem Kerker verdammt blieb, aus dessen kahlen Mauern es keine Flucht gab. So lang jedoch meine Eltern noch lebten, hatte ich stets noch eine Art Trost; mindestens stand ich nicht allein. Sie starben und eine plötzliche, furchtbare Einsamkeit, eine ungeheure, öde Nacht legte sich auf mein Gefängniß. Nur ein alter Diener, der mich von Kindheit an gepflegt, mich während meines kurzen Lichtbesitzes gekannt hatte, an dessen Erinnerungen meine Seele ihren Weg durch die dunkeln, engen Schachte des Gedächtnisses zu einem schwachen Sonnenschimmer zurücktasten konnte, war Alles, was mir von Anklängen unter 44 der Menschheit übrig blieb. Indessen reichte es nicht hin, mir Frieden in einem Haus zu schaffen, wo meines Vaters und meiner Mutter freundliche Stimmen nicht mehr tönten. Eine rastlose Ungeduld, ein Trieb ins Weite faßte mich; ich zog aus meiner Heimath aus, ohne mich um das Ziel meiner Reise zu kümmern; konnte ich doch mindestens die Luft ändern, die wie eine körperliche Bürde auf mir lastete. Blos jenen alten Bedienten nahm ich zum Begleiter mit; auch er starb vor drei Monaten in Brüssel an Altersschwäche. Ach! ich hatte vergessen, daß er alt war, denn ich sah die Zunahme seines Verfalls nicht; und jetzt stand ich bis auf meinen treulosen Hund ganz allein, bis ich hieher kam und – Dich fand.«

Lucilie bückte sich, den Hund zu liebkosen; sie segnete seine Flucht, die ihr einen Freund zugeführt, der nie entfliehen konnte.

Aber so innig, so dankbar St. Amand Lucilien liebte, so reichte ihre Macht doch nicht hin, die Schwermuth von seiner Stirn zu verjagen und ihn mit seinem hoffnungslosen Zustand zu versöhnen.

»Ach, daß ich Dich sehen könnte, daß ich auf ein Gesicht blicken könnte, dessen Umrisse sich zu entwerfen mein Herz vergebens strebt!«

»Wenn Du es könntest,« seufzte Jene, »so würdest Du mich nicht mehr lieben.« – »Unmöglich!« rief St. Amand leidenschaftlich. »Wie Du auch der Welt erscheinen magst, mir würdest Du der Maßstab der Schönheit seyn, und ich würde Dich nicht nach Andern, sondern Andere nach Dir beurtheilen.«

Gern hörte er, wenn Lucilie ihm vorlas, und vor Allem liebte er die Beschreibungen von Krieg, Reisen, wilden Abenteuern, und doch erregten ihm gerad solche Gegenstände den meisten Schmerz. Oft hielt sie in dem Buch an, wenn sie ihn seufzen hörte, und empfand, daß sie fähig wäre, selbst der Wonne, von ihm geliebt zu werden, zu entsagen, wenn sie ihm das Glück, dessen Vorstellung ihn wie ein Gespenst verfolgte, zurückgeben könnte.

Luciliens sämmtliche Familienglieder waren katholisch und hatten, 45 wie viele Menschen ihres Standes, eben so wohl den Aberglauben als die Frömmigkeit dieses kirchlichen Bekenntnisses. Zuweilen unterhielten sie sich Abends von den verschiedenen Legenden und Mirakeln ihres Kirchenkalenders, und als man einmal mit ein paar Nachbarn in einem solchen Gespräch begriffen war, wurde das Grab der heiligen drei Könige in Köln Hauptgegenstand der Unterredung. Bei aller Schärfe des Verstandes entging Lucilie, wie Du leicht begreifen wirst, doch den Ansichten derer nicht, die mit ihr von der Wiege an aufgezogen worden, und so horchte sie auf die Wundergeschichten von dem heiligen Grab so ernsthaft und zweifellos wie die Uebrigen.

Auch gehörten die Könige aus Morgenland nicht zu den gewöhnlichen Fürbittern. Ueberresten der drei Weisen, welche dem Stern von Bethlehem gefolgt und die ersten Machthaber auf der Erde gewesen, die ihren Erlöser angebetet, mochte ein frommer Katholik wohl eine besondere Kraft und Heilfähigkeit zuschreiben. Jeder aus der Gesellschaft – (St. Amand, der den Tag ungewöhnlich schweigsam und selbst traurig zugebracht, hatte sich nach seinem Zimmer zurückgezogen, denn es gab Augenblicke, wo er in der Verdüsterung seiner Gedanken die Einsamkeit suchte, die er zu andern Zeiten so ungeduldig floh,) – Jeder von der Gesellschaft hatte irgend einen gleich wahren und unbestreitbaren Bericht zu liefern von einer am heiligen Grab geheilten Krankheit oder erhörten Bitte oder vergebenen Sünde. Auf Lucilien machte besonders Eine Geschichte tiefen Eindruck: der Erzähler, ein ehrwürdiger, alter Mann mit grauem Haar erklärte feierlich, er selbst könne die Wahrheit alles dessen, was er sage, bezeugen.

Eine Frau in Antwerpen hatte als Frucht einer unerlaubten Verbindung einen taubstummen Knaben geboren. Die unglückliche Mutter hielt dieses Mißgeschick für eine Strafe ihrer Sünde. »Ach!« rief sie, »wäre der Jammer doch auf mich allein gefallen! Elende, die ich bin; mein unschuldiges Kind muß für meinen Frevel büßen!« Dieser Gedanke verfolgte sie Tag und Nacht. Nichts vermochte ihren Kummer 46 zu trösten. Als das Kind größer wurde und ihr Herz mehr und mehr in Anspruch nahm, gaben seine Liebkosungen ihrer Reue neue Stiche, und endlich – fuhr der Erzähler fort – beschloß sie barfuß zum Grab in Köln zu pilgern, dessen heiliger Ruf ihr so vielfach zu Ohr gekommen. »Gott ist barmherzig,« sprach sie, »und der, welcher Magdalenen seine Schwester nannte, mag der Mutter Fluch vom Kinde nehmen.« So wanderte sie denn nach Köln, ließ ihren Thränen, ihrer Zerknirschung, ihren Bitten am heiligen Grab vollen Lauf. Was glich aber ihrem Schrecken, als sie bei der Rückkehr in die Vaterstadt ihr Häuschen als Trümmerhaufen erblickte! – seine geschwärzten Balken und gähnenden Fenster deuteten auf Zerstörung durch Brand. Gänzlich überwältigt sank die arme Frau auf den Boden. War ihr Knabe umgekommen? In diesem Augenblick vernahm sie den Ton einer Kinderstimme, und siehe! ihr Sohn stürzte in ihre Arme und nannte sie Mutter!

Er war aus dem Feuer gerettet worden, das vor sieben Tagen ausgebrochen: im Schrecken, den er erlitten hatte sich das Band, das seine Zunge fesselte, gelöst, er hatte deutliche Klagetöne von sich gegeben, der Fluch war weggenommen und schon hatten ihn die gutmüthigen Nachbarn mindestens ein Wort gelehrt, um die Rückkunft der Mutter zu begrüßen. Was kümmerte sie's nun, daß ihre Habe dahin, daß ihr Obdach Asche geworden? Sie beugte sich in dankbarer Unterwerfung unter eine so milde Strafe; ihr Gebet hatte Erhörung gefunden, und der Mutter Sünde wurde nicht länger am Kind gerächt.

Ich sagte, theure Gertrud, diese Geschichte habe einen tiefen Eindruck auf Lucilien gemacht. Die Aufhebung eines dem Unglück St. Amands so verwandten Falles durch das Gebet einer dritten Person erfüllte sie mit frommen Gedanken und schöner Hoffnung. »Steht nicht das Grab noch?« dachte sie: »Ist nicht Gott noch im Himmel? – er, der die Schuldige gehört, wird er nicht die Schuldlose hören? Ist er nicht der Gott der Liebe? Sind nicht die Ausströmungen des 47 Herzens das Opfer, welches ihm am besten gefällt, und war auch die Mittlerin des Kinds seine eigene Mutter: kann selbst eine Mutter ihr Kind zärtlicher lieben, als ich Eugen liebe? – Wenn aber, Lucilie, deine Bitte dir gewährt wird, wenn er sein Gesicht wieder erlangt, so ist dein Zauber dahin; er wird dich nicht länger lieben. Gleichviel! sey's d'rum – hab ich dann doch wenigstens ihn glücklich gemacht!«

Dies waren die Gedanken, die Luciliens Seele füllten; sie nährte sie, bis sie zum Entschluß gediehen, und sie gelobte, heimlich die Pilgerfahrt der Liebe zu thun. Weder St. Amand, noch ihren Eltern sagte sie etwas von ihrer Absicht; sie kannte die Hemmnisse, welche eine solche Anzeige hervorrufen würde. Glücklicherweise wohnte eine ihrer Muhmen in Brüssel, bei der sie jedes Jahr einen Monat auf Besuch zu seyn pflegte, und wohin sie in der Regel auch das Ergebniß ihres zwölfmonatlichen Fleißes mitnahm, das in Brüssel eher als in Mecheln seine Käufer fand. Bereits waren sie und St. Amand verlobt; die Hochzeit sollte in Kurzem stattfinden, und da die allgemeine Landessitte auch armen Eltern den ehrenvollen Stolz einflöste, ihren Töchtern etwas zur Aussteuer mitgeben zu wollen, ward es Lucilien leicht, den Zweck ihrer Reise unter dem Vorwand zu verbergen, ihre und ihrer Mutter Arbeit vom letzten Jahr nach Brüssel zu bringen; der Verkauf schien hinreichend, um mindestens die Ausrüstungen für die Hochzeit zu bezahlen.

»Du hast in der That Recht, mein Kind,« sagte Madame Le Tisseur. »Je reicher St. Amand ist, um so weniger darfst Du sein Haus als eine Bettlerin betreten.«

Wirklich war der Ehrgeiz der guten Leute aufgeregt, ihr Selbstgefühl durch den Neid der Stadt und die gewöhnlichen Glückwünsche über eine so vortheilhafte Heirath gekränkt, und emsig beschäftigten sie sich damit, das Vermögen, das sie ihrem einzigen Kind mitgeben könnten, aufzuzählen und ihrer verzeihlichen Eitelkeit mit der Ansicht zu schmeicheln, daß endlich kein so gar großes Mißverhältniß 48 in der Verbindung liege. Sie hatten Recht, aber nicht nach dem Maßstab desjenigen Werthes, den sie anlegten: den Reichthum, den Lucilie mitbrachte, konnte kein Schicksal mindern, kein Unfall erreichen; – Böswilligkeit konnte seine reichen Erndten nicht verderben, – kein Körnchen aus seinen schwellenden Scheunen konnte Unklugheit verschleudern oder Betrug entwenden! gleich der Börse im Feenmärchen konnte er jeden Augenblick angewandt, aber nie erschöpft werden.

St. Amand allein war für ihre Abreise nicht zu gewinnen; er schalt über den Gedanken an eine Mitgift; selbst Luciliens Bemerken, daß selbige blos eine Zufriedenstellung, nicht ein Opfer für ihre Eltern seyn sollte, beruhigte ihn nicht. »Und noch dazu willst Du mich verlassen,« fragte er mit jener klagenden Stimme, die den ersten Zauber auf Luciliens Herz geübt. »Das ist eine zweite Blindheit.«

»Nur für kurze Zeit, höchstens vierzehn Tage, geliebter Eugen.«

»Vierzehn Tage! Du missest die Zeit nicht wie die Blinden,« erwiederte St. Amand bitter.

»Höre, höre mich, theurer Eugen!« rief Jene weinend.

Der Ton ihres Schluchzens erinnerte ihn auf einmal an seine Undankbarkeit. Ach er wußte nicht, wie dankdurchdrungen er hätte seyn sollen. Er breitete die Arme gegen sie aus: »Verzeih mir,« sprach er, »die, welche eine Außenwelt sehen können, wissen nicht, wie schrecklich es ist, allein zu seyn.«

»Aber die Mutter wird Dir nicht von der Seite weichen.«

»Sie ist nicht Du.

»Auch Julie nicht,« bemerkte Lucilie zögernd.

»Was ist Julie für mich?«

»Ach! Du bist außer meinen Eltern der Einzige, der in ihrer Gegenwart noch an mich denken konnte.«

»Wie das, Lucilie?«

»Nun, sie ist schöner als ein Engel.«

49 »Sprich nicht so. Könnt ich sehen, ich wollte der Welt beweisen, wie viel schöner Du bist. In ihrer Stimme ist keine Musik.«

Am Abend vor Luciliens Abreise blieb sie mit St. Amand und ihrer Mutter noch lang in die Nacht hinein auf. Man sprach über die Zukunft, man machte Plane; in der weiten Oede der Welt legten sie den Garten häuslicher Liebe an, und füllten ihn mit Blumen, nicht gedenkend des abschüttelnden Sturms und des tödtenden Frostes. Und als St. Amand am Arm der Geliebten nach seinem Zimmer gegangen war, und sie sich vor der zuklappenden Thür getrennt hatten, fiel sie neben der Schwelle auf die Kniee, und strömte das volle Herz in einem Gebet um seine Rettung und die Erfüllung ihrer schüchternen Hoffnungen aus.

Mit Tagesanbruch begleiteten sie die Ihrigen an das Gefährt, das auf dem kurzen Weg zwischen Mecheln und Brüssel regelmäßig hin und her ging. In Brüssel begab sie sich nicht zu ihrer Tante, sondern in eine Herberge in der Vorstadt, vertraute ihr kleines Spitzenkörbchen der Obhut der Wirthin an, und zog allein und zu Fuß fort, wohin der liebliche Ueberglauben ihres Herzens sie sandte. Und lag demselben auch ein Irrthum zu Grund, so versöhnte das fromme Vertrauen mit der Schwäche des Urtheils – so erhob ihre Liebe diese Schwäche zur Heiligkeit. Und wohl dürfen wir annehmen, daß das Aug, das alle Geheimnisse liest, kaum mißbilligend auf eine Schwärmerei geblickt, deren einzige Schwachheit Liebe war.

Da sie besorgte, dem Zweck der Reise durch Minderung ihrer Mühen Eintrag zu thun, so gestattete sie sich kaum Ruhe oder Nahrung. In der Mittaghitze beugte sie bisweilen ein wenig von der Straße ab und gab sich unter den breiten Lindenbäumen süßen und bittern Gedanken hin; aber immer stieß sie ein ruheloser Drang wieder vorwärts, und schwach – müd – mit blutenden Füßen fuhr sie auf und setzte ihren Weg fort. Endlich erreichte sie die alte Stadt, wo eine heiligere Zeit aus den Gewohnheiten und Gestalten der 50 Menschen die Römerspur kaum verwischt hat. Sie warf sich vor dem Grab der Weisen nieder; sie sandte ihr heißes aber demüthiges Gebet zu dem, vor dessen Sohn diese entfleischten (aber wenigstens dem Glauben erhaltenen) Häupter sich vor beinah achtzehn Jahrhunderten anbetend gebeugt hatten. Zweimal täglich fand sie sich eine ganze Woche lang an dem Ort ein und ergoß sich in dieselben Bitten. Ein alter Priester hatte beim Ab- und Zugang in der Kirche ihre ununterbrochene Andacht mit jener väterlichen Theilnahme bemerkt, welche die bessern Diener des katholischen Bekenntnisses (des Bekenntnisses, das die Erde mit Häusern des Erbarmens bedeckt hat), für Unglückliche fühlen. Als Lucilie am letzten Tag mit feuchten, niedergeschlagenen Augen sich entfernte, trat er auf sie zu, grüßte und nahm das Vorrecht seines Standes in Anspruch, sich zu erkundigen, ob da etwas sey, worin sein Rath oder Beistand förderlich seyn könnten. In der ehrwürdigen Miene des alten Mannes lag eine Ermuthigung für die Gefragte; sie öffnete ihm ihr Herz; sie sagte ihm Alles. Ihre Einfalt und ihr Ernst rührten den guten Priester innig. Er befragte sie umständlich über die besondere Art von Blindheit, woran St. Amand leide, und nach einem kleinen Nachdenken sprach er: »Tochter, Gott ist groß und barmherzig; wir müssen auf seine Macht vertrauen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß er gewöhnlich durch sterbliche Vollstrecker seines Willens handelt. Da Du auf Deinem Heimweg über Löwen kommst, so versäume nicht, dort einen gewissen Arzt Namens Le Kain aufzusuchen. Er ist durch ganz Flandern wegen der Heilungen berühmt, die er unter den Blinden vollbracht hat, und sein Rath wird von allen Ständen aus der Ferne und Nähe gesucht. Er wohnt hart neben dem Stadthaus; übrigens kann Dich Jedermann nach seiner Thür weisen. – Halt, mein Kind, ich will Dir einige Zeilen an ihn mitgeben, er ist ein wohlwollender, gütiger Mann; Du mußt ihm genau dieselbe Geschichte (und mit derselben Stimme) erzählen, die Du mir erzählt hast.«

Damit hieß der Priester Lucilien ihn nach seiner Wohnung 51 begleiten, und nachdem er sie erst genöthigt, sich minder kärglich zu erfrischen, als sie seit ihrer Abreise von Mecheln gethan, gab er ihr seinen Segen und einen Brief an Le Kain, der ihr, wie er richtig dachte, ein geduldiges Gehör bei dem Arzt verschaffen würde. Der Name des Priesters war unter allen Gelehrten wohl bekannt, und ein empfehlendes Wort von ihm that da, wo Tugend und Weisheit in Ehren standen, mehr, als der längste Brief vom vornehmsten Sieur in Flandern.

Mit unterwürfigem und hoffnungsvollem Sinn wandte die junge Pilgerin Köln den Rücken und jetzt, auf dem Heimweg zu St. Amand, fühlte sie weder die Sonnenhitze noch die Rauhigkeit der Straße. Es war an einem Mittag, als sie wieder durch Löwen zog, und bald zu dem edeln Gebäude des Stadthauses gelangte. Stolz stiegen seine zarten Spindeln gegen den Himmel und hell schien die Sonne auf seine gothischen Fenster und reichen Schnörkelverzierungen. Die breite Straße füllten Personen von allen Ständen; nicht ohne einige Verschämtheit ließ Lucilie ihren Schleier fallen und mischte sich unter die Menge. Es war, wie der Priester gesagt, leicht, Le Kains Haus aufzufinden. Sie bat den Diener, seinem Herrn den Brief des Priesters zu überbringen, und durfte nicht lang warten, bis sie bei dem Arzt vorgelassen wurde. Es war ein hagerer, langer Mann mit einer kahlen Stirn und einem ruhigen, freundlichen Aussehen. Nicht weniger als den Priester rührte ihn die Art, wie sie ihre Geschichte erzählte, den Kummer ihres Angelobten und die Hoffnung beschrieb, die ihr die eben zurückgelegte Pilgerfahrt eingeflößt.

»Gut,« sprach er ermuthigend, »wir müssen unsern Patienten sehen. Sie können ihn zu mir hieher bringen?«

»Ach, mein Herr, ich hatte gehofft –« Lucilie hielt plötzlich an.

»Was, meine Liebe?«

»Daß ich den Triumph haben würde, Sie nach Mecheln zu bringen. Ich weiß, mein Herr, was Sie mir erwiedern wollen; ich weiß, 52 mein Herr, Ihre Zeit muß sehr kostbar seyn; aber ich bin nicht so arm, als ich scheine, und Eugen, das heißt Monsieur St. Amand, ist sehr reich – und in Brüssel hab' ich, was mir, wie ich gewiß weiß, eine große Summe einträgt; es sollte für die Hochzeit ausgelegt werden, aber von ganzem Herzen steht es zu Ihren Diensten, mein Herr.«

Le Kain lächelte; er gehörte zu denen, die gern im Menschenherzen lesen, wenn seine Blüthen frisch und unbefleckt sind; um einem Blinden das Gesicht zurückzugeben, würde der wohlwollende Künstler noch eine längere Reise gemacht haben, als von Löwen nach Mecheln, und wäre St. Amand auch ein Bettler gewesen.

»Gut, gut!« sprach er, »aber Sie vergessen, daß Monsieur St. Amand nicht der Einzige in der Welt ist, der meiner bedarf. Ich muß einen Blick in mein Taschenbuch werfen, und sehen, ob ich mich auf einen oder zwei Tage frei machen kann.«

Damit überschaute er sein Portefeuille. Alles lächelte Lucilien; für die nächsten Tage lag kein Geschäft vor, das nicht auch der Gehülfe vollziehen konnte. Le Kain willigte ein, Lucilien nach Mecheln zu begleiten.

Freundlos und dumpf war einstweilen die Zeit für St. Amand verstrichen; fortwährend fragte er Madame Le Tisseur, welche Stunde es sey; es war fast seine einzige Frage. Ihm schien keine Sonne am Himmel, keine Frische in der Luft zu seyn, und selbst die geliebte Musik ließ er liegen; das Instrument hatte seinen Zauber verloren, seit Lucilie nicht mehr auf dasselbe hörte.

Natürlich mußten die Gevatterinnen von Mecheln einige Mißgunst über die Heirath Luciliens mit einem Mann empfinden, dessen Vermögen das Gerücht zu übermäßigem Reichthum gesteigert hatte, dessen Geburt vom angesehenen zum vornehmen Stand erhöht, und dessen Gestalt durch die Theilnahme, die sein Unglück erweckte, mit der Schönheit eines Antinous überkleidet worden war. Eben dieses Unglück, durch welches jede andere Auszeichnung wieder herabgedrückt 53 worden seyn sollte, vermochte den allgemeinen Neid nicht zu beschwichtigen; – vielleicht daß einigen Damen von Mecheln die Blindheit eines Ehemanns wirklich nicht die am wenigsten angenehme Eigenschaft dünken mochte! In Einer jedoch wucherte diese Mißgunst mit besonderer Schärfe; es war die schöne, allbesiegende Julie. Daß Lucilie, deren Daseyn man neben Julie ehedem fast vergaß, so jählings eine Bedeutung bekommen, daß es einen Menschen in der Welt geben sollte, und vollends gar einen jungen, reichen, hübschen Menschen, für welchen sie in Vergleichung mit Lucilien weniger als nichts war, stach eine Eitelkeit, die bis dahin keine Wunde erhalten, ins innerste Mark. »Gut,« konnte sie mit bitterem Scherz sagen, »daß Luciliens Liebhaber blind ist. Um das Eine zu werden, muß man nothwendig das Andere seyn!«

Während Luciliens Abwesenheit war sie beständig in Madame Le Tisseurs Haus gewesen; – in der That hatte sie Erstere hierum gebeten. Mit einer Emsigkeit, die sie selbst in Erstaunen setzte, suchte sie die Stelle der Verlobten auszufüllen, und das so seltsam widersprechende Menschenherz wollte, daß sie unter ihren Anstrengungen zu gefallen wirklich Liebe zu dem Gegenstand ihrer Anstrengungen gewann, wenigstens so weit sie der Liebe überhaupt fähig war.

Gegen Lucilien faßte sie einen wirklichen Haß; hartnäckig bildete sie sich ein, daß nur der Zufall der ersten Bekanntschaft ihr eine Eroberung geraubt, womit, wie sie sich überredete, ihr Glück zusammenhänge. Hätte St. Amand Lucilien nie geliebt und sich Julien angetragen, so würde sie ihn seines Unglücks halber trotz Jugend und Reichthum abgewiesen haben; aber daß er Luciliens Freund war und Lucilie einen Sieg davon getragen hatte, gab ihm augenblicklich einen Werth, der ihm sonst nicht zugekommen wäre. Sicher jedoch in seiner Betrübniß blieb St. Amands Treue ungefährdet vor Juliens Künsten und Schönheit. Ja sie gefiel ihm weniger als je, denn die Sorge und Wachsamkeit seiner Braut nachahmen zu wollen, schien eine zudringliche Ungebühr.

54 »Es ist Zeit, es ist gewiß Zeit, Madame Le Tisseur, daß Lucilie rückkehrte. Sie könnte unterdessen alle Spitzen in Mecheln selbst verkauft haben,« bemerkte St. Amand eines Tages übellaunig.

»Geduld, theurer Freund, Geduld; vielleicht kommt sie schon morgen.«

»Morgen! lassen Sie mich nachrechnen: es ist erst sechs Uhr; erst sechs, nicht wahr?«

»Gerade fünf, lieber Eugen,« antwortete Julie; »soll ich Ihnen vorlesen? da ist ein neues Buch von Paris, das großen Lärm gemacht hat.«

»Sie sind sehr gütig; aber ich mag Ihnen keine Mühe verursachen.«

»Oh von Mühe kann hier weniger als von irgend etwas die Rede seyn.«

»Nun mit Einem Wort, ich bin wirklich nicht dazu aufgelegt.«

»Ach, daß er sehen könnte!« dachte Julie, »er sollte mir für so was büßen!«

»Ich höre Räder; wer kann hier vorbeikommen? Gewiß ist es der Brüsseler Wagen!« rief St. Amand auffahrend. »Es ist sein Tag, ja seine Stunde. – Doch nein, es ist ein leichteres Fuhrwerk;« und gramvoll sank er auf den Stuhl nieder.

Näher und näher rollten die Räder, sie beugten um die Ecke; sie hielten vor der niedern Thür, und – überwältigt, überströmt von Jubel hing Lucilie an St. Amands Brust.

»Halt,« sprach sie erröthend, als sie wieder Herrschaft über sich erlangt hatte, und wandte sich zu Le Kain: »Verzeihen Sie, mein Herr! Lieber Eugen, ich habe Jemand mitgebracht, der Dir mit Gottes Hülfe vielleicht das Gesicht wieder geben kann.«

»Wir dürfen uns keiner zu schwindelnden Hoffnung überlassen, mein Kind,« entgegnete Le Kain. »Getäuschte Erwartung ist das Schlimmste von Allem.«

Um mit diesem Theil meiner Geschichte zum Schluß zu kommen, 55 geliebte Gertrud: – Le Kain untersuchte St. Amand und das Ergebniß der Untersuchung war ein ziemlich fester Glaube an die Wahrscheinlichkeit einer Heilung. Mit Freuden willigte St. Amand in den Versuch einer Operation. Sie gelang – der Blinde sah! Was glich Luciliens Empfindungen, was ihrer Rührung, ihrem Entzücken, als das Ziel ihrer Wallfahrt – ihrer Gebete – erfüllt vor ihr stand. So unendlich war dieses Entzücken, daß sie in Anbetracht des ewigen Wechsels im Menschenleben am Uebermaß hätte ahnen können, welch bittere Schmerzen darauf folgen sollten.

Sobald der neue Sinn des Kranken stufenweis das Licht ertragen gelernt, war seine erste, seine einzige Frage nach Lucilien. »Nein, nicht allein laßt sie mich sehen, zeigt sie mir mitten unter Euch Allen, damit ich Euch überzeuge, daß das Herz in seinem Instinkt nie irrt.« Mit bangem, niederdrückendem Vorgefühl gab Lucilie dem Verlangen nach, gegen welches der ungestüme St. Amand keine Einrede gelten lassen wollte. Vater, Mutter, Lucilie, Julie, Juliens jüngere Schwestern versammelten sich im kleinen Wohnzimmer; die Thür ging auf und zögernd stand St. Amand an der Schwelle. Ein Blick auf die Gesellschaft reichte für ihn hin; sein Gesicht leuchtete auf, er stieß einen Freudenschrei aus. »Lucilie! Lucilie!« rief er aus, »Du bist's, ich weiß es, Du allein!« Er sprang vorwärts und fiel zu den Füßen Juliens nieder!

Glühend, außer sich, triumphirend, heftete Julie die funkelnden Augen auf ihm – Nicht sie riß ihn aus seinem Irrthum.

»Sie irren,« sagte Madame Le Tisseur verwirrt, »das ist Cousine Julie; hier steht Ihre Lucilie.«

St. Amand stand auf, wandte den Kopf nach Lucilien und in diesem Moment wünschte sich die Arme in ihr Grab. Staunen, Schmerz, getäuschte Hoffnung, beinah Schrecken malten sich in seinem Blick. Mit Träumen hatte er seinen Kerker ausgeschmückt; frei gelassen fühlte er jetzt, wie wenig sie der Wahrheit entsprachen. Ein zu neuer Beobachter, um das Weh, die Verzweiflung, das 56 Zusammenbrechen der ganzen Gestalt zu bemerken, das sein Anschauen bei Lucilien hervorgebracht, empfand er doch, als der erste Sturm der Verwunderung vorüber, daß er nicht also derjenigen danken sollte, die ihm das Gesicht zurückgegeben. Er eilte, seinen Irrthum wieder gut zu machen; – ach! wie konnte das jetzt noch geschehen?

Von dieser Stunde an war Luciliens ganzes Glück zu Ende; ihr Feenschloß war in Staub zerflogen, der Stab des Magiers zerbrochen, Ariel freigegeben, und kein heller Zauber schied mehr den Fleck, wo sie wohnte, von der übrigen kahlen Welt. Wohl lauteten St. Amands Worte liebreich; wohl gedachte er mit der tiefsten Dankbarkeit an all das, was sie für ihn gethan; wohl zwang er sich stets von Neuem zu dem Ausruf: »sie ist meine Braut – meine Wohlthäterin!« und fluchte sich, daß die Empfindung, die er für sie gehabt, entwichen war. Wo aber die Leidenschaft seiner Worte, wo die Wärme seines Tons, wo das Spiel, die Erleuchtung seiner Züge, die sonst ihr Tritt, ihre Stimme hervorgerufen? Wenn Beide allein beisammen, erschien er verlegen, gezwungen, beinah kalt; seine Hand suchte nicht mehr die ihrige; seine Seele vermißte sie nicht mehr, wenn sie einen Moment an seiner Seite fehlte. Im häuslichen Kreis war es ihm offenbar behaglicher; aber hafteten seine Augen an ihr, die sie dem Tag eröffnet hatte? wanderten sie nicht bei jeder entstehenden Pause mit nur zu sprechender Bewunderung auf das erröthende, strahlende Gesicht der entzückten Julie? Zwar trat all dies, wie Du Dir wohl denken magst, nicht plötzlich, an Einem Tag oder in Einer Woche, hervor, aber jeden Tag zeigte es sich mehr und mehr. Bei aller Bezauberung, Verstrickung St. Amands würde er sich indessen vielleicht nie einer Treulosigkeit schuldig gemacht haben, gegen die er mit dem Gefühl der bittersten Vorwürfe anzukämpfen suchte, wäre der unglückliche Kontrast nicht gewesen, den im ersten Moment seiner ausströmenden Begeisterung Julie gegen Lucilie gebildet. Ohne diesen hätte er sich keine Vorstellung einer wirklichen, lebenden Schönheit gemacht, welche der Enttäuschung von seinen Phantasiebildern und 57 Träumen zu Hülfe kam. Er hätte Lucilien jung und anmuthvoll, mit liebestrahlenden Augen und blos im Gegensatz mit den gefurchten Gesichtern und gebeugten Gestalten ihrer Eltern gesehen, und sie, sie hätte den Sieg über ihn vollendet, eh er entdeckte, daß sie nicht so schön sei, als Andere. Nein, mehr noch: – jene Treulosigkeit würde die paar ersten Tage nicht überdauert haben, wäre von dem eiteln herzlosen Gegenstand derselben nicht jede Kunst, die ganze Macht und Zauberei ihrer Sckönheit aufgeboten worden, um den Riß zu festigen und weiter fortzuführen. Die unglückliche Lucilie – so berührbar von der kleinsten Umänderung in denen, welche sie liebte, so demüthig und doch so stolz in dieser Demuth, – nicht länger nothwendig, nicht länger vermißt, nicht langer geliebt, – vermochte die schmerzliche Vergleichung der Vergangenheit mit der Gegenwart fürder nicht zu ertragen. Mit hinabgedrückten Klagen floh sie nach ihrem Zimmer, um dort ihren Thränen freien Lauf zu lassen, und wandte so, da der Vater in der Regel den Tag über abwesend war und die Mutter sich entweder mit ihrer Handarbeit oder mit der Haushaltung beschäftigte, Julien unglücklicherweise tausend Gelegenheiten zu, der Macht, die sie über – nein nicht über das Herz! – über die Sinne St. Amands zu gewinnen angefangen, mehr und mehr Bestand zu geben. In der edeln Geradheit ihres Gemüths argwöhnte indessen die arme Lucilie den ganzen Umfang ihrer Leiden immer noch nicht und ward bisweilen durch die Hoffnung erhoben, einmal vermählt, einmal in jenem eng vertrauten Verhältniß, worin sich ihre unaussprechbare Liebe mit weniger Zurückhaltung andeuten konnte, als jetzt, – dürfte sie vielleicht ein Herz wieder gewinnen, das ihr so ganz angehört hatte, daß sie sich dessen völligen Verlust nur als Folge irgend eines Mißverständnisses zu denken vermochte. An diesem Hoffnungsanker hing das ganze eingeschwundene Glück, das ihr noch übrig blieb. Auch drängte St. Amand immer noch auf die Hochzeit, – aber in welch anders gewordenem Ton! Eigentlich wollte er sich nur die Möglichkeit eines noch größern Undanks, als derjenige, worein er bereits verfallen, benehmen. 58 Er schmeichelte sich mit dem eiteln Gedanken, das geknickte Bäumchen der Liebe werde durch die Bande der Pflicht wieder aufgebunden und gekräftigt werden; und wenigstens sollte seine Hand, sein Vermögen, seine Achtung, seine Dankbarkeit Lucilien die einzige Belohnung zuwenden, die zu geben jetzt in seiner Macht stand. Mittlerweile jedoch so oft mit Julien allein gelassen, die sich auf jede Art bemühte, den letzten Sieg über sein Herz zu gewinnen, bereitete St. Amand allmälig einen ganz andern Lohn, eine ganz andere Vergeltung für diejenige vor, der er eine so unberechenbare Schuld abzutragen hatte.

Hinter dem Haus befand sich ein Garten mit einer kleiner Laube, worin Eugen und Lucilie an Sommerabenden oft gesessen hatten: – Ewig verschwundene Stunden! – Einst, als sie kummervoll in ihrem Zimmer saß, hörte sie St. Amands Flötenspiel sanft aus jenem geliebten, heiligen Fleckchen heraustönen. Sie weinte ob den Klängen; durch die Erinnerung, welche die Musik aufweckte, stand das Bild des Geliebten milder und theurer vor ihr, und sie fing an, sich Vorwürfe zu machen, daß sie dem Antrieb ihrer verwundeten Gefühle so oft nachgegeben; daß sie ihn, angefröstelt durch seine Kälte, so oft sich selbst überlassen und nicht genugsam gewagt habe, ihm von der Zärtlichkeit zu sprechen, die, nach der bescheidenen Art, wie sie das eigene Selbst schätzte, ihr ganzes Anrecht auf seine Gegenliebe bildete. »Vielleicht ist er jetzt allein,« dachte sie; »auch die Melodie ist eine von denen, die, wie er weiß, mir besonders werth sind.« Und mit angehaltenem Odem schlich sie aus dem Haus und suchte die Laube. Kaum war sie aus dem Zimmer, als die Flöte aufhörte; wie sie der Laube näher kam, vernahm sie Stimmen – Julie klagend, St. Amand tröstend. Eine furchtbare Ahnung faßte sie; ihr Fuß wurzelte an dem Boden.

»Ja, heirathe sie – vergiß mich,« rief Julie. »In wenigen Tagen wirst Du einer Andern angehören, und ich, ich – verzeih' mir, Eugen, verzeih, daß ich Dein Glück gestört habe. Ich bin 59 hinlänglich gestraft – mein Herz will brechen, aber noch im Brechen wird es Dich lieben« . . . Schluchzen unterbrach Juliens Worte.

»O sprich nicht so,« entgegnete St. Amand. »Ich, nur ich, bin zu tadeln; ich gegen Beide falsch, gegen Beide undankbar. Oh, von der Stunde an, da diese Augen sich auf Dich öffneten, trank ich ein neues Leben; die Sonne selbst schien mir nicht so wundervoll, wie Deine Schönheit. Aber – aber – laß mich diese Stunde vergessen. Was verdank ich nicht Lucilien? Ich werde elend seyn – ich verdiene es; denn werd' ich nicht denken müssen, Julie, ich habe Dein Leben mit unserer unglückseligen Liebe verbittert? Aber Alles, was ich geben kann, – meine Hand – mein Haus – meine verpfändete Treue gehört ihr. Nein, Julie, nein! – weßhalb diesen Blick? darf ich anders handeln? darf ich anders – träumen? Was auch das Opfer koste, – muß ich ihrs nicht bringen? Was bin ich Lucilien nicht schuldig und wärs auch nur um des Gedankens willen, daß ich ohne sie Dich nie gesehen haben würde.«

Lucilie wollte nicht weiter hören. Mit demselben sanften Tritt, der sie in den Bereich dieser Unglücksworte getragen, kehrte sie wieder in ihre verlassene Kammer zurück.

Am Abend, als St. Amand allein in seinem Gemach saß, vernahm er ein leises Klopfen an der Thür. »Herein!« rief er und Lucilie trat ein. Etwas verlegen fuhr er auf und wollte ihre Hand ergreifen, aber sie wies ihn sanft zurück. Sie ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl nieder und redete ihn mit gesenkten Blicken also an:

»Mein lieber Eugen, ich habe etwas auf dem Herzen, das ich lieber auf Einmal aussprechen will, und wenn mir vielleicht die rechten Ausdrücke für das fehlen, was ich sagen möchte, so mußt Du auf Lucilien nicht böse werden; es ist nicht leicht, das in Worte zu fassen, was man tief empfindet.« Erröthend und etwas von dem, was folgen dürfte, vermuthend, wollte sie St. Amand unterbrechen: 60 sie aber winkte ihm mit sanfter Ungeduld Stillschweigen zu und fuhr fort:

»Du erinnerst Dich, daß, als Du mich liebtest, ich Dir oft sagte, Du würdest diese Empfindung nicht mehr für mich haben, wenn Du sehen könntest, wie wenig ich Deine Neigung verdiene. Ich täuschte mich nicht, Eugen; ich hatte stets die Ueberzeugung, daß es so gehen werde, daß Deine Liebe zu mir nothwendig nur an Deinem Unglück hänge. Bei all dem aber hatt' ich nie einen andern Traum oder Wunsch, als für Dein Glück, und Gott weiß, daß, wenn ich Dich abermals durch eine Pilgerfahrt mit nackten Füßen nicht nach Köln, sondern nach Rom, ja bis ans Ende der Welt, von einem viel geringern Leiden als die Blindheit erretten könnte, ich es mit Freuden thun würde; ja selbst, wenn ich mir während der ganzen Reise vorhersagen könnte, daß Du bei meiner Rückkunft kalt mit mir sprechen, wenig aus mir machen werdest, und daß ich als Strafe erleiden müsse – was – was ich bereits erlitten habe.« –

Hier wischte sich Lucilie ein paar Thränen aus den Augen; St. Amand, im tiefsten Herzen getroffen, bedeckte das Gesicht mit den Händen, ohne den Muth zu haben, sie zu unterbrechen. Jene fuhr fort:

»Was ich voraussah, ist eingetreten; nicht mehr bin ich für Dich, was ich einst war, als Du diese arme Gestalt und dieses rauhe Gesicht mit einer Schönheit überkleidetest, die ihm nicht zukam. Zwar begehrst Du immer noch die Ehe mit mir, aber ich bin stolz, Eugen, und kann nicht zur Dankbarkeit herabsteigen, wo ich einst Liebe besaß. Ich bin nicht so ungerecht, um Dir Vorwürfe zu machen; die eingetretene Veränderung war natürlich, war unvermeidlich. Gleich vornherein sollt' ich mich mehr auf dieselbe vorbereitet haben; indessen bin ich jetzt resignirt. Wir müssen uns trennen. Du liebst Julien – das ist ebenfalls natürlich; – und sie liebt Dich: ach, was könnte wiederum mehr im gewöhnlichen Lauf der Dinge seyn als dies? Julie liebt Dich; vielleicht nicht so sehr, als ich Dich liebte, aber sie 61 kennt Dich auch nicht, wie ich Dich kennen gelernt, und sie, deren ganzes Leben ein Triumph war, kann die Dankbarkeit nicht fühlen, die ich empfand, als ich mich geliebt glaubte! Aber das wird kommen – Gott geb' es! Lebe denn für immer wohl, theurer Eugen; ich scheide von Dir, weil Du mich nicht weiter brauchst; Du bist nicht länger an Lucilien gebunden: wo Du Dich auch hinwenden magst, können fortan Tausende meine Stelle ersetzen; lebe wohl!«

Mit diesen Worten stand sie auf und wollte das Zimmer verlassen: St. Amand aber faßte sie bei der Hand, die sie ihm vergeblich zu entwinden suchte und strömte unzusammenhängend, leidenschaftlich seine Vorwürfe gegen sich selbst, seine beredten Einwürfe gegen ihren Entschluß hervor.

»Ich gestehe,« rief er, »daß ich für einen Augenblick verlockt wurde; ich gestehe, daß Juliens Schönheit mir Dein höheres, heiligeres, unendlich heiligeres Anrecht auf meine Liebe minder fühlbar machte. Aber vergib mir, theuerste Lucilie; bereits bin ich wieder Dein, empfinde Alles wieder, was ich einst für Dich empfunden: treibe mich nicht, der Wonne der Sehkraft, die ich Dir verdanke, zu fluchen. Du darfst mich nicht verlassen; nie können wir Beide uns trennen; stell mich, o stell mich auf die Probe: entfremdet sich mein Herz Dir noch ein einziges Mal, dann, Lucilie, geh' und gib mich dem Schrei meines Gewissens preis.«

Lucilie fügte sich nicht, sie fühlte, daß seine Bitten blos die Eingebung des Augenblicks waren; sie fühlte, daß in ihrem Stolz eine Tugend lag; daß sie es sich selbst schuldig sey, ihm zu entsagen. Vergebens führte er seine Sache; vergebens waren seine Umarmungen, sein Flehen; vergebens erinnerte er sie an die schon stattgefundene Verlobung, an die bejahrten Eltern, deren Glück auf der Verbindung ihres Kindes mit ihm beruhe. »Wie könnt' ich, selbst wenn es um mich stände, wie Du irrthümlicherweise glaubst, wie könnt' ich vor ihnen als ein Mann von Ehre erscheinen, wenn ich Dich verließe, eine Andere heirathete?«

62 »Vertrau auf mich,« erwiederte Lucilie; »Deine Ehre soll meine Sorge sein; Niemand soll Dich tadeln; nur feire Deine Vermählung mit Julien nicht hier vor der Eltern Augen, das ist Alles, was ich verlange, was sie erwarten können. Gott segne Dich! Glaube nicht ich werde unglücklich seyn; denn hab' ich nicht zu jedem Glück, das Dir die Welt bieten mag, beigetragen? bei einem solchen Bewußtseyn bedarf ich keines Mitleids.«

Sie schlüpfte aus seinen Armen und überließ ihn einer Oede, die bitterer war, als die Blindheit. Noch am nämlichen Abend suchte sie ihre Mutter auf und vertraute ihr Alles. Ich übergehe die Gründe, die sie geltend machte, die Argumente, die sie anführte: sie überredete mehr, als daß sie überzeugt hätte, und Madame Le Tisseur die peinliche Aufgabe überlassend, den Vater mit ihrem unabänderlichen Entschluß zu überraschen, schied sie am folgenden Morgen von Mecheln, und begab sich mit einem Herzen, das zu tugendhaft war, um gänzlich ohne Trost zu sein, zu ihrer Tante auf den so lang verschobenen Besuch.

Luciliens Eltern besaßen Stolz genug, um St. Amand keine Vorwürfe zu machen. Gleichwohl ertrug er ihre kalten, veränderten Blicke nicht. Er verließ ihr Haus, und vermied er auch mehrere Tage lang jeden Umgang mit Julien, so gewannen doch ihre Schönheit und ihre Künste allmälig wieder die Herrschaft über ihn. Er ließ sich in Courtrai mit ihr trauen und reiste zur Freude der eiteln Geliebten mit ihr nach der lustigen Hauptstadt Frankreichs. Indessen suchte St. Amand vor seinem Abgang, vor seiner Vermählung sein Gewissen dadurch zu beschwichtigen, daß er für Herrn Le Tisseur eine viel einträglichere und angesehenere Stelle kaufte, als die, welche derselbe bisher bekleidet hatte. In richtiger Erwägung, daß Mecheln für die Eltern und vor Allem für Lucilien fortan kein angenehmer Aufenthalt seyn könne, war er dabei bedacht gewesen, daß das neue Amt der Familie eine andere Stadt anwies, und im Bewußtseyn, daß das Zartgefühl Herrn Le Tisseur nicht gestatten würde, solche Gunst aus seinen Händen 63 anzunehmen, bewahrte er das tiefste Geheimniß über die Unterhandlung und ließ dem ehrlichen Bürger den Glauben, blos eigene Verdienste hätten ihm diese unerwartete Beförderung verschafft.

Die Zeit verging. Die stille, einfache Geschichte geräuschloser Herzensneigungen nahm ihren Anfang in einer stürmischen Weltperiode – in der Morgendämmerung der französischen Revolution. Noch befand sich Luciliens Familie nicht viel über ein Jahr an ihrem neuen Bestimmungsort, als Dumouriez sein Heer nach den Niederlanden führte. Wie war dieses Jahr für Lucilien verstrichen? Bereits früher wurde gesagt, sie habe von Natur einen erhabenen Geist besessen, sie sey bei aller Zartheit nicht schwach gewesen; schon ihre Pilgerreise nach Köln, allein und im schüchternen Alter von siebzehn Jahren, bewies, daß nicht weniger Stärke in ihrem Charakter als Hingebung in ihrer Zärtlichkeit lag. Sie hielt St. Amand für glücklich und wollte sich deßhalb keinem selbstsüchtigen Kummer hingeben; noch immer hatte sie Liebesdienste zu üben; noch konnte sie ihre Eltern pflegen und deren alte Tage aufheitern; sie konnte ihnen die ganze Welt seyn; sie fühlte das und war getröstet. Nur ein einziges Mal während dieses Jahres hörte sie von Julien; ein gemeinsamer Bekannter hatte sie fröhlich, schimmernd, bewundert in Paris gesehen. Von St. Amand vernahm sie nichts.

Meine Erzählung, theure Gertrud, führt jetzt nicht durch die rauhen Scenen des Kriegs. Ich sage nichts von den Treffen und Belagerungen und dem Blut, das dieses schöne Land, Europas großes Schlachtfeld, überschwemmte. Im Allgemeinen neigte sich die Bevölkerung der Niederlande der französischen Sache zu, die Stadt jedoch, worin Le Tisseur wohnte, leistete einigen schwachen Widerstand. Le Tisseur selbst gürtete, trotz seinem Alter, den Degen um; der Ort wurde erstürmt und die zügellosen Schaaren des Siegers stürzten, erhitzt vom leicht errungenen Sieg, durch die Straßen. Auch Le Tisseurs Haus füllte sich mit betrunkenen, rohen Kriegern; Lucilie selbst zitterte unter dem wilden Griff eines Menschen aus jener frechen, eher 64 aus Räubern als aus Soldaten bestehenden Bande, welche der schlaue Dumouriez seinem Heer beigefügt hatte, und durch deren Blut er dasjenige der bessern Armee so oft sparte. Umsonst schrie und flehte das entsetzte Mädchen, als das stäubende Gedräng plötzlich auf die Seite wich. »Der Hauptmann! unser braver Hauptmann!« erscholl es; der übermüthige Soldat stürzte, von einem kraftvollen Arm niedergeschmettert, bewußtlos zu Luciliens Füßen, und eine herrliche, über die Gefährten weit herragende Gestalt, selbst in der schimmernden Uniform, selbst in dieser furchtbaren Stunde von Lucilien auf den ersten Blick erkannt, stand neben ihr als Beschützer und Berather! So sah sie St. Amand noch einmal vor sich!

In wenigen Sekunden war das Haus entleert, die Thür verwahrt. Geschrei, Geheul, wilder Freudengesang, das Klirren der Waffen, das Stampfen der Pferde, die eilenden Menschentritte, die rauschende Kriegsmusik tönten laut und spielten draußen gräßlich in einander: – Lucilie vernahm nichts davon – sie lag an der Brust, die von ihr nie hätte weichen sollen.

Um die Freunde zu schützen, nahm St. Amand sein Quartier sofort in ihrem Haus, und zwei Tage lang war er wieder unter demselben Dach mit Lucilien. Auf Julien kam er aus eigenem Antrieb nie zurück und nur kurz und mit Kälte beantwortete er Luciliens schüchterne Erkundigung nach der Gesundheit ihrer Cousine: aber mit der ganzen Begeisterung einer glühenden, lang eingekerkert gewesenen Seele sprach er von dem neuen Stand, den er ergriffen. Kriegerehre schien jetzt seine einzige Geliebte, und die ersten lichtvollen Träume der Revolution füllten sein Gemüth mit ihrem glänzenden Trug, strömten von seinen Lippen und blitzten aus den dunkeln Augen, welche Lucilie dem Tag zurückgegeben.

Sie sah ihn an der Spitze seiner Schaar abziehen; sie sah den stolzen Federbusch in der Sonne schimmern; sah sein Pferd sich durch die enge Straße Bahn brechen; sah, daß sein letzter Blick noch einmal zu der Hausthür zurückkehrte, wo sie stand, und als er ihr 65 Abschied zuwinkte, glaubte sie auf seinem Gesicht den Ausdruck jener tiefen, dankbaren Zärtlichkeit zu bemerken, der sie an die Eine helle Zeit ihres Lebens erinnerte.

Sie irrte nicht. Längst hatte St. Amand eine vorübergehende Bethörung bitter bereut, hatte längst den wahren Nektar von dem falschen unterscheiden gelernt, und fühlte, daß in Julien die Vergeltung für sein Unrecht an Lucilien lag. Aber er versenkte diesen Schmerz, – den nagendsten von allen, die das bittere Wort » zu spät« rufen, – unter Sturm und Gluth des Kriegs.

Jahre vergingen und in der wiedergewonnenen Stille von Luciliens Leben klang die glänzende Erscheinung St. Amands eher wie ein Traum, als wie eine Wirklichkeit nach. Napoleons Stern war über dem Horizont aufgegangen; das Epos seiner Laufbahn hatte begonnen, und der egyptische Feldzug war der Herold der glänzenden, meteorgleichen Triumphe gewesen, die aus dem Dunkel der Revolution hervorblitzten.

Du weißt, geliebte Gertrud, wie viele, in den französischen Heeren so gut als in den englischen, durch die dem dürren egyptischen Boden eigenthümliche Augenentzündung das Gesicht verloren. Einige von den jungen Leuten in Luciliens Stadt, die sich Napoleons Armee beigesellt, kehrten geblendet von dieser furchtbaren Krankheit zurück, und Luciliens Gaben, Luciliens Arm, Luciliens sanfte Stimme waren stets bereit für die armen Leidenden, deren Unglück an eine so wohlbekannte Saite in ihrem Herzen schlug.

Ihr Vater war gestorben und nur die Mutter hatte sie in den Unbequemlichkeiten des Alters noch zu pflegen. Als sie eines Abends bei der Arbeit beisammen saßen, hob Madame Le Tisseur nach einigem Stillschweigen an:

»Ich wollte, liebe Lucilie, Du ließest Dich zur Heirath mit Justin bewegen; er liebt Dich von Herzen, und eben jetzt, wo Du noch jung bist, und viele Jahre vor Dir hast, solltest Du Dich erinnern, daß Du nach meinem Tod allein stehen wirst.«

66 »Höre auf, theuerste Mutter; zu heirathen vermag ich nie mehr; und was die Liebe anbelangt, so kann ich – einmal durch die harte Schule gegangen, worin ich mich selbst kennen lernte – mich hierüber nie wieder täuschen.«

»Lucilie, Du kennst Dich selbst nicht; nie wurde ein Mädchen geliebt, wenn Justin Dich nicht liebt; und nie empfand ein Mann die Redlichkeit seiner Liebe mit mehr Wärme.«

Dies war nicht unrichtig und galt nicht blos in Bezug auf Justin; Luciliens bescheidene Tugenden, ihre freundliche Sinnesart und eine bewegliche, mädchenhafte Anmuth in all ihren Bewegungen hatten ihr so viele Siege eingetragen, als wäre sie schön gewesen. Allein mit Schauder hatte sie jeden Heirathsantrag zurückgewiesen, ohne daß sich auch nur ein Pulsschlag geschmeichelter Eitelkeit in ihr geregt.

Ein Andenken, trauriger als alles Andere, war auch theurer für sie als Alles, und etwas Heiliges in diesen Erinnerungen ließ ihr den Gedanken, das Vergangene durch eine neue Neigung verwischen zu wollen, fast als einen Frevel erscheinen.

»Ich denke wohl,« fuhr Madame Le Tisseur ärgerlich fort, »daß Du immer noch mit Liebe an ihn denkst, von welchem Du allein der Welt Undank erfahren hast.«

»Nein, Mutter,« erwiederte Lucilie erröthend mit einem leichten Seufzer: »Eugen ist mit einer Andern vermählt.«

Noch sprachen sie, als sich ein sanftes, schüchternes Klopfen an der Thür vernehmen ließ. Die Klinke wurde aufgezogen. »Hier, mein Herr,« sprach die rauhe Stimme eines Stadtkommissärs, »hier ist die Wohnung von Madame Le Tisseur und – hier ist Mademoiselle.« Eine hohe Figur mit einem Schirm über den Augen und in einen langen, militärischen Mantel gehüllt, stand im Zimmer. Ein Schauder zuckte durch Luciliens Herz. Die Gestalt streckte die Arme aus. – »Lucilie!« rief die schwermüthige Stimme, die Musik ihrer ersten 67 Jugend: »wo bist Du, Lucilie; ach! sie erkennt St. Amand nicht wieder!«

Er war es wirklich. Durch einen eigenthümlichen Willen des Schicksals hatte die brennende Sonne und der scharfe Staub der egyptischen Ebenen den jungen Krieger in der Blüthe seiner Laufbahn mit einer zweiten – und diesmal mit einer unheilbaren – Blindheit geschlagen! Nach Frankreich zurückgekehrt, fand er sein Haus verwaist: Julie war nicht mehr; – ein plötzliches Fieber hatte sie im Lenz des Lebens weggerafft, und er hatte Luciliens Wohnort aufgesucht, zu sehen, ob es noch eine Hoffnung für ihn in der Welt gebe.

Und als er in nachfolgenden Tagen demüthig und verschüchtert einen früheren Antrag erneuerte, verschloß Lucilie ihr Herz seinen Bitten? Gedachte ihr Stolz der erlittenen Wunde – blickte sie auf seine Treulosigkeit zurück? – sagte sie zu dem leisen Geflüster ihrer Liebe: »Du bist schon einmal verlassen worden?«–Mit unwiderstehlicher Macht sprachen diese Stimme und diese verdunkelten Augen zu ihr. »Ich bin ihm wieder nöthig geworden,« war ihr einziger Gedanke; – »weis' ich ihn zurück, wer wird für ihn sorgen?« Dieser Gedanke sagte ihr, welchen Entschluß sie zu ergreifen habe, in diesem Gedanken stürzten alle Quellen einer zurückgedrängten aber unbezwungenen, unbezwingbaren Liebe auf ihre Seele ein. Mit diesem Gedanken stand sie neben ihm vor dem Altar und sprach mit vielleicht noch heiligerer Hingebung, als sie ehemals empfunden, das Gelöbniß der unwandelbaren Treue aus.

Und Lucilie fand fortan einen Lohn, den gewöhnliche Menschen nie begreifen konnten. Mit der Blindheit kehrten alle Gefühle zurück, die sie zum ersten Mal in St. Amands einsamer Brust erweckt hatte; wieder lauschte er auf ihren Tritt – wieder vermißte er sie, wenn sie nur eine Minute von seiner Seite entfernt war – wieder verscheuchte ihre Stimme die Schatten von seiner Stirn und in ihrer Gegenwart 68 fühlte er Schutz und Sonnenschein. Nicht länger klagte er um das Gut, das er verloren; er versöhnte sich mit dem Schicksal, und jene heitere Stimmung, welche die Blinden in der Regel bezeichnet, kam über ihn. Vielleicht daß, wenn wir die wirkliche Welt einmal gesehen und ihre leeren Freuden erprobt haben, wir geeigneter sind, ihren Verlust zu ertragen, und wie das klösterliche Haus, welches das Feuer unserer Jugend zurückhält, zu einer lieblichen Erinnerung wird, so verliert die Finsterniß ihre Schrecken, wenn Erfahrung uns mit dem blendenden Glanz und den Mühen des Tages bekannt gemacht hat. Ueberdies trug es zu seinem Glück bei, daß er mit vorrückendem Alter die Nothwendigkeit, die ihn an Lucilien fesselte, täglich zunehmen fühlte, und somit im überströmenden Herzen die Süßigkeit der vermehrten Dankbarkeit empfand; es trug zu seinem Glück bei, daß er die Jahre diese offene Stirn nicht mit Furchen beziehen, die Zartheit dieses rührenden Lächelns nicht trüben sah; daß Lucilie für ihn außer dem Bereich der Zeit stand und ihm bis zum Rand des Grabes (das Beide wenige Tage nach einander aufnahm), in der vollen Blüthe ihrer unverwelklichen Zärtlichkeit – in der ganzen Frische einer nie alternden Seele erhalten ward.

Gertrud, die Trevylyans Geschichte mit tausend angelegenen Fragen und tausend lieblichen Entschuldigungen über die Unterbrechung unterbrochen hatte, war entzückt über eine Geschichte, in welcher treue Liebe zuletzt glücklich wird, obwohl sie dem Helden derselben seine Undankbarkeit nicht vergeben konnte, und mit kritischem Schütteln des Köpfchens erklärte, »es erscheine sehr unnatürlich, daß von Seiten Juliens die blose Schönheit oder von Seiten Luciliens der blose Mangel derselben einen solchen Eindruck auf St. Amand habe hervorbringen können, wenn während seiner ersten Blindheit Lucilie wirklich von ihm geliebt worden sey.«

Als man durch Mecheln kam, gewann die Stadt in Gertruds Augen eine Bedeutung, worauf sie an sich selbst kaum Anspruch machen 69 konnte. Nachdenklich überschaute sie den breiten Marktplatz, in dessen einer Ecke eine von jenen stillen, beschaulichen »Gruppen vor der Hausthür« saß, welche die niederländische Kunst vom Alltäglichen zum Malerischen erhoben hat, und als sie sofort einen Blick auf den Remboldi-Thurm warf, war ihr's, als vernähme sie in der Mittagsstille noch immer den Klageruf des verwaisten Blinden: »Fido, Fido, warum hast Du mich verlassen?«

 


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