Laurids Bruun
Van Zantens Insel der Verheißung
Laurids Bruun

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Pieter Goys mütterliches Erbe

Der erste Sonntag kam, an dem Jakob wieder an der gemeinsamen Mahlzeit teilnehmen konnte. Ganz gesund war er noch nicht, und mager wie ein Gerippe war er geworden; aber er behauptete selbst, daß es ihm wieder ganz gut gehe.

Sie hatten fertig gegessen und saßen ums Feuer und verdauten.

Pieter räusperte sich mehrmals, bis sie es alle gehört hatten und ihm ihre betrübten Gesichter zukehrten.

Da erhob Pieter seine Stimme und sagte:

»Wißt Ihr, daß es heut gerade ein Jahr her ist, seit wir zur Insel kamen?«

»Ja,« sagte Daniel und blickte zu den Wolken hinauf, »heut vor einem Jahr nahmen wir die Sonneninsel in Besitz.«

Pieter Goy zögerte eine Weile. Seine Brust arbeitete schwer. Sie konnten alle sehen, daß jetzt etwas platzte, was sich schon lange bei ihm angesammelt hatte.

»Und was haben wir dafür gehabt?« brachte er schließlich wie mit einem Knall heraus.

Alle richteten sich höher auf; keiner von ihnen aber sagte etwas. Sie warteten; denn sie konnten ihm ansehen, daß er noch lange nicht zu Ende sei.

»Ist einer von uns zu einem neuen und besseren Menschen verwandelt worden und so? – Du vielleicht, Daniel, obgleich ich es nicht sehen kann – oder du, Hendrik? – Denn Jakob und ich haben uns nicht verändert, das ist sicher.«

Er machte eine kleine Pause; als aber die Stille nicht unterbrochen wurde, fuhr er fort:

»Kann man überhaupt ein anderer Mensch werden, weil man davonrennt und alles im Stich läßt? Darüber hab ich viel nachdenken müssen – und ich glaube es nicht. Denn man schleppt doch beständig mit sich selbst herum, wenn man auch halbnackt ist. Und wenn man auch seine Kleider ablegt, so kann man doch nicht das loswerden, was einem angeboren ist. Und das mit dem Staat und Mein und Dein und Polizei und Eigentumsrecht und Sollen und Müssen – was Daniel so schrecklich findet, und was es gewiß auch ist – das ist einem doch von Kindesbeinen an eingetrichtert worden und hat sich festgesetzt, so daß man es nicht ohne weiteres Herausschwitzen kann, selbst wenn man auf einer Sonneninsel wohnt, wo es keine großen Raubtiere und keine Schlangen gibt. Und gesetzt den Fall, daß man es herausschwitzen könnte, so glaube ich, daß man sich selbst gar nicht wiedererkennen würde, denn das wäre ja dasselbe, als ob man aus seiner Haut herausführe und erst glücklich wäre, wenn man sie sich wieder über die Ohren ziehen kann. – Seht Ihr, ich kann mich noch genau wiedererkennen, denn ich hab mich kein bißchen verändert. Und wie wir hier beisammensitzen – fern von allem Alten – haben wir doch das Alte wieder zwischen uns, wenn auch auf eine etwas andere Weise. Denn wir haben sowohl Staat wie Gesetz und Recht – denn du bist ja der Herr der Insel, Daniel – und der eine arbeitet für den anderen, ebenso wie wir es zu Hause tun, nur daß wir kein Geld dafür kriegen. Und darum frage ich wieder: Was haben wir dafür gehabt?«

Pieter Goy schnaufte vor Anstrengung. So viel hatte er noch nie auf einmal gesagt.

Daniel kaute auf seiner Pfeife; alle blickten verstohlen zu ihm hin, denn sie erwarteten, daß er wie ein böser Geist aus einer Flasche fahren würde. Denn so war Daniel.

Aber es kam anders. Er blickte von unten in Pieters runde Augen und sagte sanft:

»Das verstehst du nicht, Pieter Goy. Siehst du, mein Freund, hier leben wir unter einfachen, natürlichen Verhältnissen, in Einsamkeit und Frieden.«

Pieter Goy richtete seine runden Augen auf ihn und sagte unschuldig:

»Hättest du das nur gleich gesagt!«

»Was?«

»Daß wir in einfachen und natürlichen Verhältnissen und Einsamkeit und so leben wollten. Denn deswegen hätten wir nicht so weit zu reisen brauchen, das haben wir in meiner Heimat in Groningen von jeher gehabt.«

Hendrik lachte. Er patschte sich auf seine dicken Schenkel, legte den Kopf zurück und schlug eine niederträchtige, nicht endenwollende Lache auf. Es nützte nichts, daß Daniel die Brauen runzelte und sich räusperte. Er wollte lachen, denn es war so lange her, seit er sich mal ordentlich ausgelacht hatte.

Daniel erhob sich. Er war blaß, und seine Augen schossen Blitze.

»Was soll das heißen, Pieter Goy, daß du dich gegen mich auflehnst?«

Pieter wurde dunkelrot im Gesicht. Er zögerte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte dann fromm:

»Das soll heißen, daß nur noch zwanzig Patronen nach sind – und dann ist es mit den Fleischspeisen vorbei.«

Hendrik lachte nicht mehr. Selbst Daniel mußte schlucken, bevor er antworten konnte:

»Dann müssen wir uns ohne behelfen!«

»Und es soll heißen,« fuhr Pieter in demselben frommen Ton fort, »daß, wenn wir auf diese Weise fortfahren, so stirbt Jakob Beer uns unter den Händen weg.«

Jakob sah entsetzt auf. Er wollte protestieren, hatte aber keine Kraft dazu. Denn er hatte sich schon im Geheimen dasselbe gesagt.

»Sieh ihn doch an, Daniel! und auch du, Hendrik! Er hat ja kaum ein Pfund Fleisch auf dem Leibe, obgleich ich ihn seit drei Wochen gemästet habe.«

Daniel sah Jakob an. Dazu hatte er bis jetzt noch keine Zeit gehabt. Jetzt aber sah er, wie mager er geworden war, und er wendete den Blick ab.

Jakob Beer senkte den Kopf auf die Brust. Er wollte so gern verbergen, daß er weinte, aber er konnte es nicht; sie sahen es an seinen Schultern.

Es gab eine lange Pause. Da hob Daniel wieder den Kopf:

»Selbst wenn wir alles aufgeben wollten,« sagte er so leise und zaghaft, wie noch keiner ihn gehört hatte, »so ist es doch unmöglich, von hier fortzukommen.«

Hendrik stützte seine Stirnbeulen in die Hände. In der tiefen Stille waren nur Jakobs schwere Atemzüge zu hören; er saß tief über seinen Schoß gebeugt, als sei das Leben bereits im Begriff, ihn zu verlassen.

Da erhob Pieter Goy sich und sagte:

»Seht Ihr, es ist gar nicht so unmöglich. Denn ich habe ein Boot gezimmert, und wenn es auch nicht viel wert ist, so ist es doch auch nicht schlechter als das, mit dem das Weibsbild durchbrannte. Ich wollte nicht, daß Ihr etwas davon wissen solltet, bevor es fertig war, und darum hab ich es drüben in der großen Bucht hinter der Landzunge gezimmert.«

Jakob fing vor Aufregung an zu zittern; Hendriks Auge glühte dunkel und selbst in Daniels Blick wurde ein Licht entzündet.

»Wie hast du dir das gedacht?« fragte er.

»Ja, siehst du, der Dampfer, mit dem wir kamen, machte ja regelmäßige Fahrten. Jede siebente Woche, sagte der Kapitän, kämen sie auf dem Weg von Brisbane nach – wie hieß es doch noch gleich – hier vorbei. Und ich habe ausgerechnet, daß es bald so weit sein muß. Nun meine ich, daß wir es wagen wollen. Wir sammeln Proviant für einige Wochen. Dann gehen wir an Bord mit unserer Eßkiste und der Büchse, und rudern abwechselnd oder setzen das Segel, wenn der Wind danach ist, bis wir ins Fahrwasser hinauskommen. Ich hab in meinem Tagebuch genau aufgeschrieben, wie lange Zeit wir mit der Schaluppe gebraucht haben, danach können wir uns richten. Und dann legen wir bei und warten, und, die zwanzig Patronen bewahren wir für Notschüsse auf. Treffen wir nicht unseren eigenen Dampfer, dann treffen wir vielleicht einen anderen, und gibt es Sturm, so suchen wir schlimmstenfalls auf einer der kleinen Inseln Schutz, an denen wir vorbeifuhren, wie Ihr Euch wohl erinnert. Die eine Insel ist wohl nicht schlechter als die andere.«

Daniel überlegte lange.

»Wenn wir Glück haben und das Schiff treffen – das eine oder das andere – so wird man uns bis zum nächsten Hafen mitnehmen. Und was dann?«

»Dort können wir den holländischen Konsul aufsuchen,« sagte Hendrik.

»Und du meinst, daß er uns auf unsere schönen Augen hin vier Billette nach Europa verehrt?«

»Er telegraphiert.«

»An wen? – An die Königin von Holland? – Denn du glaubst doch nicht, daß der Reeder, der sich unser Verschwinden etwas kosten ließ, unsere gloriose Rückkehr bestreiten wird? Meine – vielleicht. Aber Eure?«

Hendrik sann schweigend.

»Verflucht,« brummte er, »daß wir unsere letzten Schillings an die Seeleute gegeben haben.«

Zaghaft kam es von Pieters Lippen:

»Ja, seht Ihr, das fand ich auch furchtbar dumm!«

Da wurde Daniel aber böse. Er fuhr in die Höhe und sein Adlerblick schoß Blitze.

»Du bist ja gar nicht um deine Meinung gefragt worden.«

»Ruhig Blut!« sagte Hendrik und drang mit seinen Stirnbeulen auf Daniel ein. »Hier wird im Gegenteil gerade nach Pieters Meinung gefragt. Denn wenn wir ihn nicht gehabt hätten, wäre es schon lange mit uns aus gewesen. So, jetzt weißt du es.«

Daniel biß sich in die Lippen, aber er schwieg.

Da fuhr Pieter mit niedergeschlagenen Augen fort:

»Ja, dumm fand ich es – und darum war ich nicht ehrlich gegen dich, Daniel. – Als wir unser Geld zwischen den Seeleuten verteilen sollten, da leerte ich nur mein Portemonnaie. Aber ich hatte noch etwas Gold in einem Lederbeutel auf meiner Brust. Das war der Rest meines mütterlichen Erbes und was ich sonst für meine bewegliche Habe bekommen hatte.«

Pieter knöpfte sein Hemd auf und nahm ein schmutziges, gelbes Ding von seiner behaarten Brust. Er wog es in der Hand, so daß sie das Gold klirren hörten.

»Es ist genug da, damit wir alle dritter Klasse nach Hause kommen können.«

Hendrik tanzte ums Feuer herum und schloß Pieter in seine Arme.

Jakob hatte sich auch erhoben. Er glühte im Gesicht wie eine verliebte Jungfrau. Seine Augen strahlten, als er Pieters Hand ergriff und sie mit seinen beiden streichelte.

Daniel sagte nichts, denn er konnte keine Worte finden. Ihm schwebte so etwas von der gröberen Natur vor, die immer über die feinere siege; aber er brachte es nicht heraus, denn als es ihm auf die Zunge kam, da wußte er nicht recht, wer von ihnen eigentlich die gröbere und wer die feinere Natur sei.

Schließlich trug er aber dennoch einen Sieg davon, auf den er stolz war, den Sieg über sich selbst. Er reichte Pieter die Hand über das verlöschte Feuer und sagte:

»Von jetzt ab bin ich nicht mehr Führer, sondern du.«

Pieter wurde so rot, wie er überhaupt werden konnte.

»Aber Daniel, was redest du. Du bist und bleibst der Herr der Insel.«

»Ach was,« rief Hendrik, »wir sind alle gleich. Hauptsache ist, daß wir von der verfluchten Insel fortkommen.«

Dann schlug er seine allerlängsten Naturtriller, und nachdem das besorgt war, warf er seinen Strohhut in die Luft und sang das holländische Nationallied.


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