Laurids Bruun
Van Zantens Insel der Verheißung
Laurids Bruun

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Dreizehntes Kapitel

Fleischesser

Goy hatte seinen Bericht nach den Seiten im Tagebuch eingeteilt.

Er hatte sie gezählt. Es waren im ganzen hundert. Wenn er eine Seite für jeden Tag nahm, so hatte er gleichzeitig dadurch einen netten kleinen Kalender.

Das Tagebuch begann also mit einem Dato. Darauf folgte eine kurze Beschreibung des Wetters. Dann kamen seine Erlebnisse in chronologischer Ordnung, ohne inneren Zusammenhang.

Der erste Tag lautete folgendermaßen:

»Zehn Uhr. Aufbruch vom Versammlungsort. In südlicher Richtung durch den Wald. Starke Sonne. Furchtbar geschwitzt. Bananen, klein und grün, in den Rucksack gestopft. Mückenstiche im Gesicht.«

Es ging alles gut und mit entsprechendem Ernst bei den Zuhörern, bis Pieter Goy zur Mahlzeit im Wald kam.

»Verfluchte Schweinerei mit Vögeln, die einem das Essen beschmutzen!« las er.

Da konnte Hendrik nicht länger an sich halten. Er haute sich auf seine dicken Beine und lachte, daß die kleinen Papageien erschrocken aufflogen.

Auch Daniel und Jakob, die ihre Mückenstiche kratzten, platzten los.

Pieter sah vom einen zum andern und fragte gekränkt, ob ein Tagebuch zuverlässig und wahrheitsgetreu, oder nur Lüge und Dichtung sein solle.

Schließlich glückte es Daniel, ihn zu versöhnen. Hendrik kehrte ihm den Rücken zu, um nicht in Versuchung zu kommen; und dann fuhr Pieter fort, mit lauter, getragener Stimme, wie der Pfarrer bei ihm zu Hause in der Kirche gelesen hatte.

Als er bis zum Bambuswald gekommen war, drehte Hendrik sich wieder zu ihm um. Und als er von seinem herrlichen frischen Bad im Wasserfall erzählte, war er ganz Ohr.

Pieter berichtete, wie er dem Lauf des Flusses gefolgt sei, um die Küste zu erreichen, beschrieb, wie er seine Behausung dicht beim Wasserfall erbaut, um immer frisches Wasser bei der Hand zu haben und jeden Morgen ein Bad zu nehmen, wie er es gewöhnt gewesen sei.

Er erzählte von seinem Bambushaus, das er schon am zweiten Tag fertig gebaut hatte, in Mannshöhe, so daß er aufrecht darin stehen konnte.

Er erzählte von den Bananen, aus denen er Suppe gekocht, und wie er sich vor seiner Hütte eine feste Feuerstelle aus Steinen gemacht und sich einen Schuppen mit Strohdach gebaut habe, in dem er Feuerung und Proviant aufbewahrte.

Das Interesse der anderen verwandelte sich schließlich in Neid, als sie hörten, wie er jede Stunde des Tages zu nützlicher Arbeit verwandt und es sich bequem gemacht hatte.

Daniel rückte unruhig hin und her. Er mußte sich selbst bekennen, daß dies hier eine ganz andere Sache sei, als seine harte, kalte Steinburg.

Goy erzählte trocken, fast wissenschaftlich, wie er Versuche mit Knollen gemacht, bis er etwas Kartoffelähnliches gefunden habe.

Und er habe viele Sorten getrocknete Blätter gesammelt, bevor er sich für seinen Tabak entschieden hätte.

Am dritten Tage habe er sich ein richtiges Bettgestell aus zwei Lagen dünnem Bambusrohr gezimmert, das wunderschön federte, habe sich eine Matratze aus den Rippen der langen Pisangblätter geflochten und sie mit weichem, in der Sonne getrocknetem Moos gestopft.

Schließlich las er:

»Fing am Strand zwei kleine Schildkröten, auf die ich Suppe für zwei Tage gekocht habe. Riesig delikat.«

»Schildkröten sind verboten!« unterbrach Daniel und sah ihn streng an.

»Warum?«

»Fleischspeise verstößt gegen die Regeln.«

»Es fehlte gerade, daß man eine Schildkröte laufen lassen sollte, wenn sie einem in den Weg kommt«, sagte Pieter beleidigt und klappte sein Buch zu. »Einmal echte Schildkrötensuppe kostet in Amsterdam zwei Gulden, und ich hatte reichlich vier Portionen. Außerdem kann man die schwere Pflanzenkost, mit der man sich hier stopfen muß, auf die Dauer gar nicht vertragen.«

Hendrik erhob sich und sagte:

»Ja, darin muß ich Pieter recht geben. Wir dürfen unsere Gesundheit nicht aufs Spiel setzen. Ich bin weiß Gott ganz aufgeschwemmt von all den Wurzeln.«

Er schlug sich auf den Bauch und zeigte Daniel, daß die Hose ihn kaum mehr umspannen konnte.

»Gesetz ist Gesetz!« sagte Daniel.

»Sollte es vielleicht auch nicht erlaubt sein, eine junge Taube zu essen, die aus dem Nest gefallen ist und doch nicht mehr leben kann? Das ist ja die reine Tat der Barmherzigkeit.«

Daniel sah das böse Gewissen aus Hendriks Augen leuchten, wie er dort vor ihm stand und mit seiner gewölbten Stirn auf ihn eindrang.

»Hast du es vielleicht schon getan?«

»Freilich. Sie war ganz zerhackt auf dem Kopf, und lag nach Luft schnappend vor mir auf der Erde. Fast hätte ich auf sie getreten.«

Jakob Beer wandte sich interessiert zu ihm um.

»Du hast sie doch nicht roh verzehrt?«

»Ich hab' sie gerupft und in meinem Topf mit Wasser und einer unreifen Brotfrucht gekocht. Ha, hat das geschmeckt!«

Jakob Beer, der eigentlich den Vegetarianismus eingeführt hatte, bekannte gerührt seinen eigenen kleinen Fehltritt.

»Siehst du, Daniel, es kann nichts nützen, so streng zu sein, jedenfalls nicht in der ersten Zeit. Ich hatte mein Auge auf einige Kokosnüsse geworfen und mich darauf gespitzt, sie zu Mittag zu essen. Als ich aber nach oben klettern und sie holen wollte, wurde mir auf halbem Wege schwindlig, so daß ich schleunigst wieder herunter mußte. Ach, aber ich war so hungrig. Das war gestern mittag. Meinen ganzen mitgenommenen Proviant hatte ich verzehrt. Da aß ich einige rote Beeren, die an einem Busch dicht neben meinem Schlafpisang hingen. Aber denke nur, ich bekam solch furchtbares Erbrechen danach und hinterher war ich natürlich hungrig, so daß ich geradezu dazu gezwungen wurde.«

»Wozu?«

»Einige Vogeleier zu essen, die ich in einem Nest gesehen hatte. Ich saugte sie aus. Ach, wie tat mir das wohl! Es waren fünf Stück und ich aß einen Zwieback dazu, den ich noch übrig hatte. Ich glaube kaum, daß ich Kräfte gehabt hätte, hierher zu kommen, wenn ich mir diese Mahlzeit nicht gegönnt hätte.«

Daniel überlegte eine Weile. Er hatte ein reines Gewissen mit Bezug auf Fleischspeisen, denn er hatte sich vergeblich bemüht, eine von den wilden Tauben zu fangen, die in großen Mengen am Waldsaum saßen und ihn erstaunt anblickten. Das war gestern gewesen, als Schmalhans Küchenmeister geworden war.

»Es läßt sich nicht leugnen,« sagte er schließlich, »daß die Verhältnisse etwas schwierig liegen; wir müssen die Insel erst näher kennen lernen und die richtigen Pflanzen ausfindig machen. Ich habe zum Beispiel, wie ich euch schon erzählte, eine wilde Yamswurzel in meinem Garten, die ganz vorzüglich ist, wenn man sie kocht. Nun beging ich aber den Fehler – ich war hungrig und ließ mir keine Zeit – sie roh zu essen. Ich bekam nicht gerade Leibschmerzen davon, auch kein Erbrechen, aber einen ungeheuer dünnen Stuhlgang, der zwei Tage dauerte. Darum bin ich so mager geworden.«

Sie sahen ihn prüfend an und entdeckten jetzt erst, daß er noch schärfer im Gesicht geworden war als sonst.

Pieter Goy sah von einem zum anderen und sagte mitleidig:

»Dann ist es euch allen ja eigentlich jämmerlich schlecht ergangen!«

»Wieso? Zu Anfang muß man immer auf irgendein Unheil gefaßt sein.«

Pieter Goy bedachte sich eine Weile. Dann sagte er harmlos:

»Davon habt ihr gar nichts in euren Tagebüchern geschrieben. Da stand ja nur von eitel Licht und Sonnenschein.«

Daniel stutzte. Er wandte sich an seinen alten Futtermeister und sagte verweisend und feierlich:

»Pieter Goy – du bist ein Mensch ohne Naturgefühl und ohne Sinn für höhere Lebenswerte. Die einfachen, ländlichen Verhältnisse, in denen du aufgewachsen bist, haben dir nicht die Reife verliehen, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem im Leben zu unterscheiden. Die Jahre, die du später zwischen Gläsern und Flaschen in den schwülen und dunklen Räumen eines elenden Cafés verbracht hast, haben das ihrige dazu beigetragen, deinen Horizont noch zu verengern. Das mag dir zur Entschuldigung dienen. Wenn wir uns trotzdem dazu entschlossen haben, dich als Mitglied unseres Kreises mit zur Sonneninsel zu nehmen, so geschah es, weil wir Interesse für dich gefaßt hatten und uns der Hoffnung hingaben, daß durch den kameradschaftlichen Verkehr mit uns die Fähigkeiten geweckt würden, die in dir schlummerten. Wir hoffen, daß du diese Erwartung nicht zuschanden werden läßt.«

Pieter Goy blickte verblüfft und verständnislos in Daniels braune Augen, die ihm so wohlbekannt waren.

Er fühlte sich plötzlich auf seinen alten Platz als Futtermeister zurückversetzt, errötete und schwieg.

»Wir stellen hiermit also fest,« sagte Daniel und wandte sich an die anderen, »daß Fleischspeisen bis auf weiteres erlaubt sind. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die mit ihrer Erlangung verbunden sind, wird mit dieser Erlaubnis wohl kein Mißbrauch getrieben werden können.«

Hendrik schob seinen dicken Arm unter Goys und sagte:

»Famose Idee mit den Schildkröten. Du kannst Gift drauf nehmen, daß ich auch an den Strand kommen und danach suchen werde.«

Pieter war verstimmt und zog seinen Arm zurück.

»Nicht dort, wo ich wohne, wenn ich bitten darf. Es ist von vornherein ausgemacht worden, daß jeder für sich bleiben soll. Was mein ist, ist mein.«

Daniel wandte sich wieder zu Goy und sagte tadelnd:

»Wir haben den alten Staat mit seinem Mein und Dein, seinem Gut und Böse, seinem Soll und Muß nicht den Rücken gekehrt, um einen neuen zu errichten.«

Goy sah ihn mit offenem Mund an. Er wußte nicht, daß echte Schildkrötensuppe Daniels schwache Seite gewesen war, als er noch in dem alten, holländischen Staat wohnte, und daß er sie nur dreimal bekommen hatte.


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