Laurids Bruun
Die freudlose Witwe
Laurids Bruun

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Viertes Kapitel

Als wir mit dem Tarobrot fertig waren, kamen die Kinder mit den gerösteten Tauben.

Die Augen leuchteten, die Lippen schmatzten. Die Jungen konnten nicht stillsitzen; das Wasser lief ihnen im Munde zusammen und die Kiefer kauten, noch bevor sie etwas bekommen hatten.

Nachdem jeder seine Taube empfangen hatte, wurde es still in der Versammlung. Die feierliche Eßhandlung wurde in tiefem Ernst mit Augen, Nase, Mund und allen zehn Fingern verrichtet.

Die Kokosweinkübel machten die Runde. Die Finger ließen die Taube los, um nach dem Kokosnußschöpfer zu tauchen; er wurde bis an den Rand gefüllt, in einem Zuge geleert und wieder in den Kübel geworfen, um von den nächsten fünf Fingern herausgeholt zu werden.

Ich war mit den Jahren empfindlicher geworden und pries mich glücklich, daß der eine Kokosweinkübel bei Talao anfing, der mir zutrank. Um seine guten Manieren zu beweisen leckte er erst die Finger rein, bevor er nach dem Schöpfer tauchte. Nach den Tauben bekamen wir den Rücken von fliegenden Fischen mit Pisangmark und Kohl von jungen Kokosschößlingen. Zum Dessert Taffa – Bananenfleisch mit gegorenem Kokossaft zusammengeknetet.

Es war eine herrliche Mahlzeit, bei der ich mich alter Tage erinnerte und nach und nach mit meinen zehn Fingern zurechtfand. Langsam glitt die Zivilisation von mir ab, und bevor wir fertig waren, hatte ich auf die natürlichste Weise wie ein echter Mahuramann meine Zufriedenheit mit dem Essen so nachdrücklich kundgegeben, daß Talao sich froh und beehrt fühlte.

Toko strahlte übers ganze Gesicht. Immer wenn ich ihn ansah, zeigte er alle seine Zähne, obgleich sie in voller Tätigkeit waren. Jetzt erkannte er mich erst richtig wieder und sah, daß ich doch der alte sei.

Das vertrauliche Verhältnis zu der Insel war mit einem Schlage zurückgekehrt. Ich verstieß nicht mehr gegen gute Sitten; und Talao begann mich von dem schlechten Gesundheitszustand des Königs zu unterhalten und nach meiner Meinung über den Kronprinzen zu befragen, als ob ich nur vierzehn Tage fort gewesen sei.

Als wir gegessen und eine Weile verdaut, Betel gekaut und uns darin geübt hatten, wer am weitesten in das Zentrum des Kreises spucken konnte, blickte Talao zur Sonne hinauf, stand auf und verkündete, daß der Festtanz beginnen solle.

Die erwachsenen Söhne holten ihre Aiwa-Trommeln und hockten in der Mitte des Kreises nieder. Wir anderen, würdige Backenbärtige und alte Frauen vergrößerten den Kreis, so daß er vom Haus bis zum Wegzaun reichte.

Talao klatschte in die Hände. Die Trommel ertönte, und über die Schwelle des Hauses schlüpfte ein junges Mädchen nach dem andern, mit Blumen im Haar und in der hocherhobenen rechten Hand.

Ich musterte sie genau, während sie auf ihren Platz in die Mitte des Kreises hüpften. Nicht ein einziges Gesicht erkannte ich von dem königlichen Festtanz wieder, zu dem ich vor fünf Jahren eingeladen war. Die, die damals tanzten, saßen jetzt als würdige Mütter mit uns andern im Kreis und dachten an ihre jungen Tage. Selbst in Tokos sprechenden Augen meinte ich eine stille Wehmut zu lesen, als ob auch er an die Vergänglichkeit des Lebens dächte.

Meine Augen trafen Winawas hastigen Blick im Kreis; sie sah fort, aber der Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Nein, Winawa, zwischen uns ist's vorbei. Alis Schatten steht für immer zwischen uns.

Dann fingen sie an zu tanzen, drehten sich in den Hüften und schwenkten die Blumen durch die Luft. Nach fünf Jahren hörte ich jetzt wieder den Gesang von den kleinen grünen Papageien aus Mahura – aus Mahura.

Der Tanz wurde wilder und wilder. Sie sprangen hin und her, reckten bald Arme, bald Beine durch die Luft, wackelten mit dem Kopf und wirbelten schließlich in einer wilden Masse von Armen und Beinen durcheinander. Die Zuschauer im Rundkreis fielen nach und nach mit ein. Sie wiegten sich in den Hüften, klatschten sich auf den Leib und wackelten mit dem Kopf nach dem Takt der Trommel.

Ich erinnerte mich, wie auch ich einmal davon ergriffen worden war, so daß mir das Blut im Halse klopfte und die Erregung durch Mark und Bein ging. Jetzt saß ich kühl und ruhig dabei und dachte, daß der Festtanz des Königs damals doch viel schöner gewesen sei.

Ich blickte zu Toko hinüber, um seine Meinung zu erfahren; er war damals ja auch dabei gewesen. Er saß mit einem roten Kopf da und wackelte wie ein Besessener mit dem Oberkörper, während er mit den anderen um die Wette brüllte. Er sah mich nicht, obgleich meine Augen den seinen begegneten.

Ach, der Tanz war derselbe, nur ich war ein anderer geworden, gealtert, müde.

Da erklang plötzlich der einstimmige Schrei aus all den jungen Frauenkehlen – der wilde Schrei, der mit einem langgezogenen klagenden Geheul endete, wie von hungrigen, eingesperrten Hunden; der Schrei, womit der Tanz zu Ende war.

Wie damals lagen die Frauen jetzt stöhnend mit krampfhaft verzerrten Zügen in einem Haufen mitten im Kreise.

Langsam sickerte die Bewegung aus den zitternden Körpern. Die Glieder fielen zusammen und der Haufe wurde eine tote Masse, aus dem die eine nach der anderen hervorgekrochen kam, mit matten Augen und schlaffen Zügen.

Und wie damals erhoben sich die jungen Leute und boten ihre Hilfe an; da konnte man sehen, wer zusammen auf derselben Matte schlief.

Der junge Mann legte seinen Arm um die Taille des junges Weibes, das ihm bereits gehörte, um sie zu stützen, während sie hinausschwankte. Es war nicht wie bei dem Tanz des Königs, wo die jungen Mädchen ganz bis zum Strande hinunterbegleitet wurden, um sich durch ein Bad zu erfrischen. Das Meer war hier zu weit fort.

Ich sah sie hinters Haus schlüpfen, wo ein Haufe trockenes Moos lag, das die kleinen Kinder Talaos gesammelt hatten.

Die jungen Leute nahmen Moos aus dem Haufen und rieben damit den Schweiß von den müden Körpern der Mädchen, von Kopf bis Fuß, sowohl vorn wie hinten.

Als das besorgt war, kamen sie langsam zurückgeschlendert, er noch mit dem Arm um ihre Hüfte, und nahmen in dem äußeren Kreise zwischen den Gästen Platz.

Lea hatte nicht mitgetanzt. Sie saß allein auf einer kleinen feinen Matte in der Nähe des Hauses, den Rücken gebeugt, die Hände ledig im Schoß.

Mit ihren scheuen Augen blickte sie zu den jungen Paaren auf, die an ihrer Matte vorbeigingen.

Sie musterte sie genau und sog den Eindruck mit ihrer Seele auf, während ihre hübsche, runde Stirn sich unter dem schwarzen Haar runzelte und ihr weicher Kindermund sich wie im Schmerz zusammenzog.

Woran mochte sie denken?

Grübelte sie über das unbekannte Neue und Starke, das ihr jetzt ganz nahe gerückt war?

Fürchtete sie sich vor dem, was sie packen würde, wie es alle anderen gepackt hatte, die dort gingen und in den Armen ihrer Freunde lächelten?

Träumte sie von neuen Freuden – oder fühlte sie sich nur traurig, verlassen, weil sie nicht mehr zu den Kindern gehörte und noch nicht von den Erwachsenen aufgenommen war?

Dachte sie vielleicht mit Angst und Beben daran, daß sie heut nacht zum erstenmal in dem großen geheimnisvollen Haus schlafen sollte, auf der Matte eines Fremden?

Etwas entfernt am Zaun stand ein junger Mann und starrte unverwandt auf sie herab.

Er war arm, wie ich sehen konnte, denn nur seine Arme waren tätowiert, und zwar mit einem ganz billigen Muster. Er allein hatte keine Freundin zwischen den Tanzenden gehabt.

Ich wurde durch den merkwürdigen Ausdruck seiner Augen auf ihn aufmerksam. Er hielt sich mit beiden Armen am Zaun fest, den Kopf zu Lea umgedreht, wie eine Maus, die an der Gardine hängt und deren blanke Augen von dem starken Lampenlicht wie festgebannt sind. Sein schmaler Kopf hatte ein reines und hübsches Profil. Die Haut war ungewöhnlich hell und sein Haar nicht ganz schwarz wie das der andern Mahura-Männer.

Es kommt häufig bei den großen Familienfesten angesehener Männer vor, daß ein armer, ungebetener Gast sich einschleicht und einen bescheidenen Platz äußerst im Kreise findet, so weit wie möglich vom Hausherrn entfernt.

Wird er entdeckt, dann gibt der Wirt ihm mit einem Augenwink zu verstehen, daß er ihn gesehen hat. Im übrigen aber läßt er sich nichts merken; an so einem Tag steht es einem besser an, großmütig zu sein.

Gott weiß, ob du hierher gehörst, dachte ich und blickte von dem jungen Mann zu Talao, der damit beschäftigt war, sich nach der Erregung des Tanzes ein Betelpriemchen zurecht zu machen.

Obgleich der junge Mann gerade vor Talaos Augen wie festgenagelt dastand, schien der Hausherr ihn doch nicht bemerkt zu haben; aber Talao hatte so viel Lebensart, man konnte nie wissen.

Da geschah etwas Seltsames.

Lea bemerkte seinen Blick. Ich sah, wie sie den Kopf nach ihm umdrehte. Die bebende Unruhe, die die ganze Zeit ihren Kopf und ihre Arme beherrscht hatte, hörte plötzlich auf. Sie erstarrte mitten in der Bewegung wie ein Rehkalb, das von einem ungewohnten Anblick im Walde überrascht wird.

So saß sie eine kleine Weile. Dann richtete sie sich langsam auf, als ob etwas in ihr herangereift sei.

Ohne den Kopf vom Zaun abzuwenden erhob sie sich, zögerte einen Augenblick, während ihre Hände schlaff herunterhingen, und ging auf ihn zu, ohne sich umzublicken.

Sie standen sich gerade gegenüber. Keiner von ihnen sprach, und keiner von ihnen machte eine Bewegung auf den andern zu. Die Ähnlichkeit mit der festgebannten Maus war so stark, daß ich unwillkürlich erwartete, daß er jetzt, wo das Licht geradeswegs auf ihn zugegangen kam, zum Bewußtsein erwachen und so schnell wie möglich hinter der Gardine verschwinden würde.

Aber es kam anders. Er atmete langsam mit einem Seufzer, ließ den Zaun los, wandte sich ihr ganz zu und öffnete den Mund, als ob er sie anreden wollte.

Im selben Augenblick sah Talao mit einem unheilverkündenden Blick auf; er hatte den Fremden also doch bemerkt. Und jetzt sah ich auch, daß noch viele Augen außer Talaos und meinen auf die beiden am Zaun gerichtet waren.

Talao rief Leas Namen. Er mußte zweimal rufen, bevor sie ihn hörte. Und auch da drehte sie den Kopf nur halb um, als ob sie sagen wollte: Warte doch und stör uns nicht.

Da erhob Talao sich. Ich war drauf und dran, seine Hand zu ergreifen und ihn festzuhalten, so schön war der Anblick der beiden jungen Leben, die sich über den Zaun hinüber entgegenpochten.

Er ging quer durch den Kreis mit gerunzelten Brauen. Da endlich sah der junge Mann ihn.

Die Besinnung kehrte in seinen Blick zurück, er sah, wie weit er gegangen war, ohne es selbst zu wollen oder zu wissen. Mit einer entschuldigenden Armbewegung wandte er sich von Lea ab und eilte, gebeugt wie ein Verbrecher, längs des Zauns davon.

Talao blieb stehen und sah ihm nach. Er überlegte offenbar, ob er seinen Zorn hinter dem Vermessenen herdonnern sollte, oder ob Schweigen und Hochmut ihm besser anstehen würden.

Talaos Lebensart siegte über seine gekränkte Würde. Mit einer verächtlichen Kopfbewegung tat er den armen Fremden ab und wandte sich seiner Tochter zu.

Lea erwachte wie aus einem Traum. Ihre klare Kinderstirn verzog sich zu verlegenen Falten über den Brauen. Sie schlug die Lider vor all den Blicken, die auf sie gerichtet waren, nieder und ging mit gebeugtem Kopf und unruhig tastenden Händen zu ihrer Matte zurück.

Talao folgte ihr mit den Augen; er hielt es für das klügste, zu schweigen. Als er zu seinem Platz zurück ging, guckte er hinter die Türmatte des Hauses und rief seine drei kleinsten Kinder, als ob er sich nur zu diesem Zweck erhoben habe.


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