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Tagebuch 11

begonnen in Altai Staniza, am 12. Juni, bei strömendem Regen

Nachdem wir den 30. Mai mit Schreiben verbracht, am Abend aber im Haus des Oberstleutnant Brandt in Gesellschaft gewesen waren, hier die Bekanntschaft der Damen Saisans gemacht, Musik und Gesang gehört, auch ein Feuerwerk mit angesehen hatten, verließen wir den Ort am 30. Mai nachmittags und wandten uns dem Altai zu.

 

Mitteilungen über wilde Kamele

Vorher erhielten wir durch Herrn Jachloff, einen mit Tierkunde sich beschäftigenden und nicht gänzlich unerfahrenen Mann, noch Mitteilungen über wilde Kamele, von denen ich schon früher gehört hatte. Diese Mitteilungen stammen aus dem Munde eines Targauten, welcher als guter Jäger gilt, und enthalten folgendes: Das wilde Kamel hat zwei Höcker wie das Trampeltier; seine Größe ist ungefähr dieselbe; doch sei es schlanker gebaut und dennoch kürzer als letzteres. (Demnach müßte es im Gegenteil gedrungener gebaut sein.) Das Haar ist dünn und kurz, die Färbung dunkelbraun; das heißt dunkler als beim zahmen; die Hufnägel sehr spitz, die Nase in der Mitte gespalten, 'die Färbung der Lippen heller als die des übrigen Leibes. Das Tier lebt etwa 250 Werst südwestlich vom Grenzposten Saisan im Gebiete Kanabo (das Wort bedeutet »blutiger Hügel«) und in der Umgegend dieses Gebietes. Die Gegend ist sandig und größtenteils mit stachligen Bäumen, Saksaur genannt, und ebenfalls dornigen Gesträuchen, Tschingin geheißen, bewachsen; letztere finden sich namentlich an den tieferen wasserreichen Stellen. Der Saksaur bildet einen dicken Stamm mit weit sich verzweigenden Ästen, und sein Holz ist ungemein brüchig. Außerdem wächst auf den tieferen Stellen ein der Silberpappel oder Espe sehr ähnlicher Baum. Alle diese Bäume und die vorhandenen Gesträuche dienen den wilden Kamelen zur Nahrung. Diese leben ganz frei und sind sehr wild und scheu. Sie begatten sich zu derselben Zeit wie die zahmen und bringen auch zu derselben Zeit Junge. Die Kirgisen und Targauten, welche in jener Gegend wohnen, machen Jagd auf das Tier; denn das Fleisch wird gegessen, die Haut gegerbt und auch die Wolle oder aber das ganze Fell benutzt. Dieselbe Gegend wird auch vom Kulan bewohnt, aber auch eine zweite Art von Wildpferden, Surtaka genannt, kommt dort vor: Sie ist hellgelb von Farbe, hat viele lichte Stellen und einen kürzeren Schweif als der Kulan. So in wörtlicher Übersetzung die von Herrn Jachloff niedergeschriebenen Nachrichten.

Zur Bestätigung des Mitgeteilten wird der Kirgise Matschafs Aldiaroff, welcher gerade in Saisan anwesend, herbeigerufen und von mir weiter befragt. Die Ergebnisse dieser Verhandlung sind folgende: Eine Sage der Kirgisen berichtet, daß vor. alten Zeiten ein sehr reicher Mann lebte, welcher so große Herden von Pferden und Kamelen besaß, daß er sie zuletzt nicht mehr übersehen und noch weniger beaufsichtigen konnte. Ein nicht unbedeutender Teil dieser Tiere entfloh in die Wildnis, und die einen wurden Kulan und die anderen wilde Kamele. Unser Mann wunderte sich daher nicht, die letzteren in der Nähe von Kanabo, einem zwar sandigen, aber wasserreichen Platze der Steppe (beziehentlich der Gobi) zu finden. Er beschäftigte sich damals, jetzt vor etwa zehn Jahren, mit dem zwar nicht ungefährlichen, aber einträglichen Gewerbe des Pferdediebstahls und hatte sich zu diesem Zwecke mit mehreren Targauten verbunden, welche in der Nähe der Stadt Gutschen ihr Unwesen trieben, von dort aus aber größere Raubzüge unternahmen. Auf einem dieser Züge kam er auch in die Nähe des »blutigen Hügels« und nahm teil an einer von Targauten veranstalteten Jagd auf wilde Kamele, bei welcher eines der Tiere, jedoch erst nach vier Schüssen, erlegt wurde. Daß es wirklich wilde und nicht zahme Kamele waren, ist ihm vollständig klargeworden, weil die betreffenden Tiere den zahmen zwar ähneln, aber nicht gleichen, nämlich viel größer, zumal höher sind, ihr Fell nicht so lang ist, auch ihre Buckel weit mehr entwickelt sind als alles dieses bei den zahmen der Fall. Namentlich in ihrem Wesen aber unterscheiden sie sich von den zahmen. Sie sind zwar ebenfalls sehr neugierig, bleiben stehen, wenn sich ihnen jemand nähert, entfliehen aber stets rechtzeitig und laufen dann so rasch, daß man sie auch mit dem besten Pferde nicht einzuholen vermag. Ihr Fell ist zwar etwas kürzer als das der zahmen, aber sehr dicht und filzig, ihre Färbung viel lebhafter, zumal röter als bei jenen. Man trifft sie zuzeiten bis zu dreißig Stücken an. Den Weibchen folgen die älteren Jungen auch dann noch nach, wenn das Muttertier bereits wieder trächtig ist. Die Jungen werden im Juni geboren und von ihrer Mutter so warm geliebt, daß diese nötigenfalls selbst auf Menschen losgeht. Ihr Geschrei ist ungefähr dasselbe wie bei den zahmen, gewöhnlich hört man aber nur ein schwaches Gebrüll, welches ungefähr wie »tü, tü, tü« klingt. Sie leben jahraus, jahrein auf denselben Stellen, verbreiten sich aber weit über die Gobi, vom »blutigen Hügel« an bis zum Tianschan. Ihre Jagd ist sehr schwierig, weil sie sehr scheu, schnell und überaus zählebig sind. Man kommt ihnen nur dann nahe, wenn mehrere Jäger sich zur Jagd vereinigen und die einen auf höheren Hügeln sich aufstellen, auf welche Tiere von anderen getrieben werden. Ist man glücklich, so erstaunt man über ihre außerordentliche Größe. Um ihr Fleisch fortzuschaffen, sind vier Lastkamele erforderlich; denn sie wiegen zwischen 40 bis 48 Pud. Das Fleisch ist nach Meinung unseres Mannes »süßer« als das der zahmen und ungemein fett. Deshalb bereitet man auch eine Art von Würsten aus demselben, indem man einzelne Rippen in die Gedärme füllt und sie räuchert. Diese Würste heißen Kasi. Ähnliche bereitet man auch aus dem Fleisch der zahmen.

Diesen im ganzen übereinstimmenden Nachrichten zufolge scheint es festzustehen, daß in der kaum noch von Europäern durchzogenen Gobi noch heutigen Tages Kamele leben, welche nicht unter die Herrschaft des Menschen gebeugt wurden; ich lasse aber selbstverständlich unentschieden, ob es sich um ursprünglich wilde oder aber um nur verwilderte handelt.

 

Land am Schwarzen Irtisch

Nachmittags gegen zwei Uhr treten wir unsere Reise an und fahren auf ziemlich gutem Wege durch die bald zur Tiefsteppe sich wendende Ebene auf den schwarzen Irtisch zu. Sobald wir die höhere Steppe verlassen, bewegen wir uns meist auf der fruchtbarsten Schwarzerde. Sie füllt in meilenweiter Ausdehnung das Tal und entbehrt nur der Bebauung und Bewässerung, um zum ergiebigsten Felde zu werden. Jetzt bildet das Tschigras, untermischt mit dem niedrigen, langdornigen Tschinginstrauche, fast den alleinigen Bestand dieses wertvollen Bodens; eine kleine, erst vor drei Jahren von einem Kaufmann in der Nähe der von ihm errichteten Lederfabrik angelegte Pflanzung, deren üppiges Grün uns entgegenlacht, zeigt aber, was die Hand des Menschen aus ihr machen könnte. Selbst die tiefsten Stellen, welche jetzt versumpft und mit auf weithin sich ausdehnenden Urwäldern bestanden sind, könnten unzweifelhaft zu Getreideland umgewandelt werden; Tausende von Menschen könnten hier leben und zu Wohlstand, ja zu Reichtum gelangen, wären nur Menschen zu finden, welche dieser vielversprechenden Scholle ihre Kräfte widmen wollten. Jetzt nutzt nur der Kirgise, der wandernde Nomade, das üppig aufgeschossene Gras, aber in seiner Weise, das heißt nur insoweit, als seine wählerischen, an üppigen Reichtum und reiche Fülle gewöhnten Herdentiere es für gut befinden. Zwar hat auch der Kirgise hier und da Felder angelegt und dieselben mit dem Wasser der aus dem Gebirge kommenden oder der aus dem von hier stammenden Sickerwasser in der Ebene selbst sich bildenden Flüßchen und Bäche bewässert; er aber betrachtet den Feldbau immer als eine Last, als eine nur für den Ärmsten sich schickende, dem Reichen verächtliche Arbeit, und sein Feldbau verdient daher kaum den Namen eines solchen. {...}

Wir überschreiten mehrere Flüßchen und gelangen erst dann in die eigentliche Tiefsteppe. Betreffs der Entstehung der Flüsse und Sickerwässer muß ich bemerken, daß der an das Gebirge grenzende Teil des Tales von Saisan beziehentlich des Schwarzirtischtales nichts anderes ist als ein mit einer dünnen Schicht Fruchterde überdecktes Geröll, welches von der Größe mächtiger Blöcke bis zur Größe kleiner Kiesstücke wechselt und das ihm von den Bergen in vielen Flüßchen, Bächen und Gerinnsalen zufließende Wasser an den meisten Stellen durchlaufen und erst viel weiter unten in der Tiefe in unzähligen Quellen wieder zutage treten läßt. Gerade die Durchlässigkeit des Bodens erschwert den Feldbau in der Nähe der Stadt oder beschränkt ihn nur auf wenige Stellen, hier aber ist die Fruchtbarkeit so groß, daß man, wenn das Wasser nicht versagt und die bösen Heuschrecken nicht die Ernte gefährden oder vernichten, das köstlichste Korn erntet, ohne jemals zu düngen oder mehr zu tun, als das Feld notdürftig zu pflügen und zu bewässern.

In der Nähe des schwarzen Irtisch wird die Steppe sehr einförmig. Dann zeigen sich Dünen, welche der Weg durchschneidet, richtiger überklettert, und nunmehr breitet sich die weite, mit vielen hier und da zum Wald sich einigenden Bäumen bestandene Niederung, in welcher der Strom dahinfließt, vor dem Auge aus. Der schwarze Irtisch ist schon hier, gegen zweihundert Werst von seinem Einfluß in den Saisansee, ein mächtiger Strom, welcher der Schiffahrt wenigstens in den ersten Sommermonaten keinerlei Hindernisse bereiten würde. Seine Strömung ist zwar kräftig, jedoch nicht einmal für Segelschiffe unüberwindlich, sein Wasser stark durch erdige Teile getrübt, daher gelblich von Farbe. Beide Ufer werden von einem aus den erwähnten Bäumen gebildeten frischgrünen Lande eingefaßt, außerdem aber teilt sich der Fluß in mehr oder minder breite Arme und umschließt mit ihnen Inseln und Werder, auf denen ein überraschend üppiges Wachstum sich entwickelt. Die Weidengebüsche werden stellenweise zu geradezu undurchdringlichen Wäldern, in denen schon jetzt Millionen blutgieriger Mücken schwärmen und deren Boden bei jeder Hochflut überschwemmt wird. An diese Weidendickichte oder Wälder, in denen zahllose Vögel angesiedelt, schließen sich, weiter nach dem Inneren der Inseln zu, mit allerlei Gestrüpp und üppigem Gras bedeckte Flächen an, während die tiefer gelegenen Werder fast nur unabsehbare Rohrwälder zeigen. In diesen führt das Wildschwein ein beneidenswertes, weil kaum jemals durch seinen schlimmsten Feind gestörtes Dasein; denn wenn ihm die jungen Schößlinge des Rohres nicht mehr behagen, findet es an den Rändern der Rohrwaldungen überall saftiges Gras und Kraut die Hülle und Fülle. Von anderen Säugetieren bemerkt man wenig, bloß auf den Dünen sieht man die Höhlen der Springmaus in Menge, aber nur im Dämmerlichte des Abends gelingt es, das zierliche Geschöpf zu beobachten. In unmittelbarer Nähe unseres Lagerplatzes trieben sich viele dieser schmucken Nager umher, ohne daß es uns möglich gewesen wäre, einen von ihnen zu erbeuten. Andere Löcher, welche man findet, mögen wohl vom Ziesel herrühren. Von Vögeln sieht man, außer den verschiedenen Enten dieser Gegend, die Grau- und die Höhlengans, die Lachmöwe und die gemeine Seeschwalbe, den Seeadler (Haliactos leucoryphus) und den Schreiadler, einen nicht erkennbaren Edelfalken, den schwarzohrigen Milan; ferner in den Rohrwäldern ungemein häufig die Bartmeise und den Rohrammer sowie an den Rändern derselben die Schaf stelze; ebenfalls in den Rohrwäldern schlägt der Sprosser, in dem Gebüsch der Inseln singt die Dorngrasmücke ihre wohlbekannten Lieder – was sonst noch vorhanden, blieb uns bei der Eile unserer Reise leider verborgen.

Am 1. Juni traten wir in der Frühe des Morgens unsere Weiterfahrt an, diesmal auf dem Boote des Kirgisen Tanniar Mandibei, welcher mit zehn oder zwölf anderen seines Volkes die Fischerei auf dem See und im Strom betreibt. Das Boot, eine mittelgroße Lottka, ist zu unserer Aufnahme festlich geschmückt, das Hinterdeck mit Teppichen belegt und mit einem Sonnendache versehen, so daß wir ein ebenso bequemes als luftiges Zelt hatten. Wir fuhren, von der Strömung und vom Ruderschlag getrieben, rasch den Fluß hinab und genossen mit vollen Zügen ebenso die uns in der Tat nötige Ruhe wie die schöne Aussicht auf die wechselnden Uferwälder und die Hochgebirge zu beiden Seiten. Uns zur Rechten erhob der Altai seine schneeigen Häupter, uns zur Linken, in der klaren Luft anscheinend bis auf wenige Werst nahe gerückt, zeigten uns Manrak und Saur ihre zackigen Gipfel, letzterer nur von den ebenfalls noch mit tiefem Schnee bedeckten Kuppen des Semistan überragt, nach Osten hin in unabsehbare Ferne sich verlierend. Obgleich beide Gebirge hier waldlos sind, der Saur nur hoch oben einige Bäume erkennen läßt und der Altai auf der Südseite regelmäßig derselben entbehrt, dürfen beide doch nicht reizlos genannt werden. Ihre Abhänge sind auf der ganzen Südseite mit einer jetzt in voller Frische prangenden Rasendecke und vielem Gestrüpp bedeckt und durch das Wasser so vielfach gerippt und durchfurcht, daß Licht und Schatten allerorten ihr Wechselspiel treiben können. Von diesen Wanden stechen die schneeigen Häupter der Hochgebirge lebhaft ab und erscheinen um so bewegter, als viele nur wenig mit Schnee bedeckt oder gänzlich frei sind, also auch hier die blendendweißen mit den tiefdunklen Stellen abwechseln. Je nach der Richtung des Stromes tritt bald das eine, bald das andere Gebirge näher vor uns hin. Noch einmal sehen wir zurück auf Saisan, jetzt als niedrige, kaum erkennbare Häusermasse, die Häuser selbst aber als kleine Würfel erscheinend; dann verschwindet der Ort, welcher uns so gastlich beherbergt, und bald darauf auch die Hügelketten, an deren Fuß er gelegen, unseren Augen, und nur die Hochgebirge bleiben nach wie vor sichtbar. Die Vorberge des Altai bilden eine lange, mehrfach eingesenkte und durch Quertäler unterbrochene Kette; der Manrak dagegen zeigt sich auch von hier als ein dem Auge kaum entwirrbares Gehügel mit vielen zackigen Gipfeln und Kuppen.

Unsere Fahrt bis zur Mündung des Sees nimmt den ganzen Tag in Anspruch, ohne uns zu ermüden. Beide Ufer des Stromes sind reich belebt. Aus den Sümpfen steigen Gänse und verschiedene Enten auf, von den berasten Flächen erhebt sich, ihren bezeichnenden Ruf »turr, turra, gaak, gok« ausstoßend, ein und das andere Pärchen der Höhlengans; über den Stromspiegel schweben Lachmöwen und Seeschwalben, auf ihm schwimmen Gänse und große Haubensteißfüße mit ihren Jungen, Der erwähnte Edelfalk ist häufig, der schwarzohrige Milan (Milus melanotis) gemein; die Weihen dagegen zeigen sich nur noch seltener, und erst wo die Rohrwälder überhandnehmen, tritt an ihre Stelle der Rohrweih. Gegen die Mündung hin verschwinden die höheren Bäume gänzlich; selbst das niedrige Weidicht wird selten, und nur das Rohr bildet hier unabsehbare Wälder.

 

Ein Tag am Saisansee

Wir übernachten wenige hundert Schritt von der Mündung des Stromes und dessen rechtem Ufer, einigen Fischerjurten gegenüber, nachdem wir kurz vorher von einem weiter oben angesiedelten Fischer einen Fischzug für uns haben tun lassen. Die Fischerei, welche gegenwärtig hier wie an anderen Stellen des Sees betrieben wird, entspricht den bestehenden Verhältnissen in keiner Weise. Der See ist vom Kaiser den Kosaken geschenkt worden und wird zu deren Gunsten verpachtet. Der Unternehmer zahlt 4000 Silberrubel an die Verwaltung, erhebt, aber von den verschiedenen Fischern mindestens das Fünffache, und auch diese verdienen noch jeder zwischen drei- bis viertausend Rubel jährlich, obgleich sie die von ihnen gefangenen Fische in der erbärmlichsten Weise von der Welt zubereiten, nämlich einfach an der Sonne trocknen. Durch dieses Verfahren stellen sie eine Ware her, welche für unseren Geschmack gänzlich ungenießbar ist, weil die immerhin heißen Sonnenstrahlen das Fett der Fische schmelzen und alle Teile mit einer tranigen Masse überziehen, welche den ganzen Fisch verdirbt, da sie ihm einen für mich wenigstens unerträglichen Geruch und Geschmack verleiht. Von Kaviarbereitung weiß man nichts, nutzt daher nur einen geringen Teil dieses mit Recht so geschätzten Leckerbissens und wirft das übrige weg, wenn man erst so viel davon gegessen hat, daß er dem Gaumen widersteht. So kommt es, daß man im ganzen Gouvernement Semipalatinsk wie im Gouvernement der sieben Flüsse nur gepreßten Kaviar erhalten kann und denselben von der Wolga beziehen muß. Sollte man sich zur Kaviarbereitung verstehen, das heißt, besäße man die erforderlichen Kunstkenntnisse, Kaviar zu salzen – man würde allein durch den Ertrag dieser einen Ware mehr als das Doppelte von dem gewinnen, was man gegenwärtig aus dem Ertrage der gesamten Fischerei erzielt; verstände man aber erst, die köstlichen Fische zweckentsprechend zu salzen, zu räuchern, zu marinieren und sonstwie einzumachen – die Fischerei des Sees würde jährlich mehr als eine Million Rubel abwerfen. Von dem Reichtum an Fischen, welchen dieses eine Wasserbecken enthält, macht man sich schwerlich einen Begriff. Jeder nur einigermaßen mit Verständnis ausgeführte Zug bringt eine Unzahl großer und wertvoller Tiere in das Netz, so einfach dieses auch ist, so wenig es sich mit den Fangwerkzeugen anderer Fischer vergleichen läßt. An einer nahe am Ausfluß des Stromes gelegenen Stelle waren in noch nicht ganz anderthalb Monaten bereits 3000 Pud Fische überhaupt, auf einer anderen in derselben Zeit allein dreihundert Pud Störe gefangen worden. Man fängt nur während des Sommers, weil man unter dem Eis nicht zu fangen versteht oder durch bestehende Gesetze verhindert wird, auch in dieser Zeit das Gewerbe zu treiben. Die hauptsächlichsten Fische sind Njelma, eine Lachsforelle, Karpfen, Schleien von ausgezeichneter Größe und Güte, Hechte, Sterlette, Störe und ein Haufen Accipenser Gueldenstaedtii [Osseter], fast ausnahmslos Fische von bedeutender Größe und Ergiebigkeit. Die getrocknete Ware wird stromabwärts bis Uskamenogorsk und Semipalatinsk gebracht und dort zu sehr niedrigen Preisen verkauft, da nur der gemeine Mann sich mit ihr befreunden kann.

Am 2. Juni fahren wir über den See. Ich benutze die Zeit bis zur Abfahrt des großen Bootes, um in einem kleinen Kahn auf verschiedene Vögel Jagd zu machen. Der See ist nahe am Einfluß des Irtisch mit Ausnahme weniger Stromrinnen ungemein flach und gewährt daher allerlei Schwimm- und Strandvögeln erwünschte Jagdplätze. Fast auf jedem angetriebenen Baumstamm sitzt ein Seeadler, der Flußadler rüttelt hier und da über den tieferen Stellen, der Milan balgt sich mit den Meermöwen um die Abfälle der Fischerei; Pelikane, meist zu zahlreichen Gesellschaften geschart, treiben ihren Fischfang überall längs der Ufer und auf den seichteren Stellen, Singschwäne, Graugänse, Tauchenten und Steißfüße treiben sich zwischen ihnen umher. Fischermöwen zeigen sich ebenfalls, jedoch nur sehr selten. Von Seeschwalben bemerkte ich drei Arten: Sterna hirundo, nigra und minuta [Fluß-, Trauer- und Zwergseeschwalbe], von Reihern wenigstens den gemeinen Fischreiher, ihn jedoch nur in geringer Anzahl, wie Reiher überhaupt zu den seltneren Erscheinungen dieses Landstriches gehören. Im Verhältnis zu seiner Größe und seinem Fischreichtum muß der See arm an Vögeln genannt werden. In den Rohrwaldungen bemerkt man außer der ungemein häufigen Bartmeise und der minder gemeinen Rohrdrossel nur noch den Rohrammer und dann und wann einen Rohrweih, nichts weiter, auf den grasigen Stellen grauköpfige Schafstelzen. Sodann glaube ich noch einige Löffelreiher gesehen zu haben; von sonstigen Vögeln weiß ich nichts zu berichten. Für Strand- und Uferläufer sind die flachen Stellen noch zu tief und die Ufer dem Anschein nach zu arm. Mehr nach der Mitte zu wird der See tiefer; nach Aussage unseres Fährmannes aber soll es keine einzige Stelle geben, deren Tiefe mehr als fünfzehn Meter beträgt. Diese geringe Tiefe erklärt auch das trübe Aussehen des Wassers. Der Zulauf ist zu stark, als daß er in dem seichten Becken geklärt werden könnte, und der Irtisch verläßt daher den See ebenso trübe, als er in ihn eingeflossen.

Ein beklagenswerter Unfall verzögerte unsere Weiterfahrt. Nachdem das Boot den See erreicht hat, versuchen zwei unserer Begleiter, ein Kosak und der Dolmetscher des Majors, einen Seeadler zu berücken, und begeben sich zu diesem Zwecke in ein kleines Boot. Das gespannte Gewehr wird unvorsichtig in ihm niedergelegt, entlädt sich, und der arme Kosak erhält die volle Ladung in die Wade, zum Glück so, daß kein Knochen verletzt wurde. Der Graf und Finsch verbinden den Verwundeten; man legt ihn in dasselbe Boot und schickt ihn unter Geleit eines seiner Waffengefährten nach Saisan zurück. {...}

Wir landen nach Sonnenuntergang am nordwestlichen Ufer in der Nähe von Baklanimys, das ist »die sieben Vorgebirge«, von denen wir freilich nichts wahrzunehmen vermögen. Ein ungeheurer Mückenschwarm begrüßt uns und läßt uns für die Nacht fürchten; die bald eintretende Nachtkühle bringt jedoch die Quälgeister zur Ruhe. Zur Ehre dieser Mücken muß ich übrigens bemerken, daß sie mich, auch als sie noch flogen, nicht gestochen haben, obgleich sie mein Haupt ebenso dicht umschwärmten wie die in der Nähe stehenden Pferde der zu unserer Begrüßung herbeigekommenen Kirgisen, so dicht, daß ihr vereinigtes Summen eine auf mehrere Schritte hin wohlvernehmbare vielstimmige Musik bildete.

 

Kulane

Am 3. Juni. Noch niemals bis jetzt haben wir ein so wüstenhaftes Land durchzogen wie heute. Schon kurz nach der Abfahrt, welche morgens ½6 Uhr geschah, umgibt uns eine sanftwellige, nach allen Seiten hin gleichmäßige Ebene, in welcher viele Stellen gänzlich ohne Pflanzen und die übrigen so dürftig mit diesen bestanden sind, daß zwischen jedem Büschchen der wenigen noch gebliebenen und dann verkümmerten Steppengräser ein großer Zwischenraum bleibt: Nur in einzelnen Einsenkungen ist es anders: Hier deckt nicht allein das bekannte Kraut, sondern auch anderes Buschwerk den Boden, und diese Stellen schimmern daher schon von weitem lebendig grün aus dem gleichmäßigen Grau der Ebene hervor. Der Boden ist kiesig und der Kies mit einem stark eisenhaltigen mageren Lehm verbunden, welcher das Gedeihen der Pflanzenwelt verhindert und es nur da gestattet, wo das am leichtesten lösliche Erdreich zusammengeschwemmt wurde. Hier, eben an den bereits erwähnten Stellen, wächst namentlich eine Salikarie, Saksau genannt, deren ungemein hartes Holz sich weder behauen noch schneiden, sondern nur brechen läßt und welches daher nur zum Verkohlen benutzt wird, in dieser Beziehung aber vortreffliche Dienste leistet. Das Auge haftet mit Wohlgefallen auf diesem niedrigen Buschwerk und den frischgrünen Kräutern und Gräsern dazwischen, und der Jäger oder Forscher hofft gerade hier einem reichen Tierleben zu begegnen. Doch ist dies nicht der Fall. Außer dem rotschwänzigen Würger, welcher hier regelmäßig sich ansiedelt, und vielleicht einem Pärchen Dorngrasmücken sieht man nicht mehr, eher weniger als auf dem dürrsten Lande. Dasselbe ist nämlich keineswegs so arm an Bewohnern, als es scheinen möchte, beherbergt vielmehr, auch ganz abgesehen vom belebenden See, eine an Arten zwar arme, an einzelnen Stücken aber reiche und im hohen Grade fesselnde Tierwelt. Vom See aus schwärmen nicht allein Seeschwalben und Möwen, Käfer jagend, bis tief in die Steppe hinein, sondern auch Enten zeigen sich hier und da, obgleich sie weder hier noch dort etwas suchen; einer der Seeadler zieht über ihr seine Kreise, ein Edelfalk durcheilt sie, vielleicht in der Absicht, eines der Hühner oder eine der Lerchen, welche beide hier wohnen, zu erbeuten. Auf sichere Beute scheint der große Adlerbussard vertrauen zu können: In seinen Klauen verbluten wahrscheinlich viele von den Zieseln, deren Baue man überall bemerkt, ohne die immerhin vorsichtigen Tiere selbst zu Gesicht zu bekommen. Viel häufiger als jener Bussard ist der Steppen- oder Wiesenweih, welcher zumeist wohl in den verschiedenen Lerchen seine Beute findet. Von letzteren lebt außer der am häufigsten auftretenden kurzzehigen und der Kalanderlerche auffallenderweise auch die Mohrenlerche hier, und zwar viel häufiger als die sonst gern mit ihr dieselbe Gegend teilende sibirische Lerche, obgleich der Boden für sie, die schwarze Art, in keiner Weise passend erscheint, da seine Färbung nicht im geringsten mit der ihres Gefieders übereinstimmt, letzteres vielmehr schon aus sehr weiter Ferne vom lichten Grunde absticht, auf welchem unsere Lerche sich bewegt. Heute, wo ich die Mohren- mit der Kalanderlerche vergleichen konnte, nahm ich auch ein bestimmtes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Lebensweise der einen und anderen Art wahr. Beide ähneln sich allerdings im hohen Grade, ebenso was ihr Laufen wie ihr Fliegen, ihre Vorliebe für Hochsitze auf Büschen und sonstigen Erhöhungen wie ihre Stimme anbelangt; die Mohrenlerche unterscheidet sich jedoch stets durch ihr an die Fledermaus erinnerndes Flattern beim Niedergehen aus der Höhe. Neben diesen Lerchen, welche den Hauptbestandteil der gefiederten Welt bilden, treibt sich der Herdenkiebitz auf allen geeigneten Stellen umher, und selbst auf den ödesten Stellen kann man dem Kragentrappen begegnen: Wir sahen ihrer drei im Laufe des Tages und erfuhren später von einem kundigen Russen, daß er immer nur auf ähnlichen Stellen der Steppe gefunden wird. Die Kirgisen kennen ihn wohl und unterscheiden ihn mit dem passenden Namen Paßgängertrappe (Tuatak schurka) von seinen Verwandten, welche er im Laufen wie im Fliegen weit übertrifft. Diejenigen, welche ich beobachten konnte, trugen sich beim Gehen hoch aufgerichtet und liefen mit rasch aufeinanderfolgenden Schritten ungemein schnell dahin. Im Fluge ähneln sie mehr dem großen Trappen wie dem Zwergtrappen, ohne jenem jedoch zu gleichen, gefallen sich nicht allein vor dem Niedersetzen, sondern auch während des stetigen Fluges in ziemlichen Schwenkungen und zeigen dabei die gegen das Ende hin weißen Schwingen erster Ordnung als lichte halbmondförmige Binde. Daß der Charaktervogel der Steppe, der Rötelfalk nämlich, auch diesem Teile seines Wohngebietes nicht fehlt, mag beiläufig erwähnt sein; seinen Genossen, den Rotfußfalken, dagegen habe ich nicht wahrgenommen.

Was jedoch gerade diese so arme Steppe von allen denen, welche wir durchzogen, besonders unterscheidet, ist, daß sich in ihr zwei der ausgezeichnetsten Steppensäugetiere und ein Steppenvogel finden: der Kulan, die Saiganantilope und das Fausthuhn, kirgisisch Buldruk genannt. Wir waren schon in Semipalatinsk durch Poltoratzky auf das Vorkommen aller dieser Tiere aufmerksam gemacht worden, und man hatte uns in Saisan übereinstimmend mitgeteilt, daß die Steppe um den von dort aus sichtbaren niedrigen Berg Karabiruk beziehentlich zwischen ihm und dem mehr im Westen gelegenen Hügel Tschakalmes der stetige Aufenthalt dieser Tiere sei, ferner hatten wir zwei von Kirgisen roh zubereitete Häute vor wenigen Tagen erlegter Kulane gekauft, und es war uns endlich heute beim Aufbruche von den uns begleitenden Kirgisen gesagt worden, daß man die Wildpferde hier regelmäßig zu sehen bekäme; wir hatten jedoch kaum gehofft, daß sich alle diese Mitteilungen so bald erfüllen sollten.

Noch waren wir keine Stunde geritten, als wir auf einen in weiter Ferne sich zeigenden, wie es schien, dem See zulaufenden Kulan aufmerksam gemacht wurden. Zwei Kirgisen setzten ihre Pferde sofort in vollsten Galopp und eilten dem Tiere nach, bekamen es jedoch nicht wieder zu sehen. Kaum eine halbe Stunde später sahen wir plötzlich vier Stück dieser schönen und stolzen Wildpferde, drei alte mit einem jungen Füllen, in einer Entfernung von nicht mehr als sechshundert Schritten vor uns auftauchen und uns neugierig betrachten. Ein von Tichanoff abgegebener Schuß blieb natürlich ohne Erfolg, nicht so aber eine sofort von fast allen uns begleitenden Kirgisen und sämtlichen Kosaken unternommene Hetzjagd. Mit Windeseile jagten die verfolgten Tiere dahin, ihre federnden Läufe gleichsam übermütig aufschnellend; allein schon nach einer höchstens zwanzig Minuten währenden Verfolgung versagten dem jungen Fohlen die Kräfte; es blieb zurück und wurde nun bald gefangen. Die Strecke, welche es durchlaufen haben mochte, konnte höchstens vier oder fünf Werst betragen haben. Von einer Verfolgung der schnellfüßigen Alten sahen selbst die Kirgisen ab; denn jene entgingen den Reitern ohne alle Mühe und bewegten sich mit spielender Leichtigkeit in wirklich anmutiger Weise, ganz nach Art galoppierender Pferde. Der junge Kulan konnte erst vor wenigen Tagen, vielleicht erst gestern oder vorgestern, geboren worden sein; darauf deuteten namentlich auch seine außerordentliche Sanftmütigkeit und Harmlosigkeit. Ohne auch nur einen Versuch zum Widerstand oder zur Abwehr zu machen, ließ er sich von uns an allen Teilen seines Leibes berühren, streicheln und sonstwie liebkosen; ja er schien für derartige Liebkosungen sogar in hohem Grade empfänglich zu sein, hauptsächlich durch das Streicheln, welches ihn wohl an das Lecken seiner Mutter erinnern mochte, befriedigt zu werden. Das einzige, was er tat, war, die ihn liebkosende Hand sorgfältig zu beriechen. Als man ihn leicht gefesselt hatte, blieb er ruhig stehen, und als wir ihn allein ließen, legte er sich gemächlich nieder.

Das Tierchen war ungemein zierlich gebaut, nur die Beine schienen, wie dies auch bei jungen Pferden der Fall, im Verhältnis zur Leibeshöhe zu hoch zu sein, und die Gelenke waren fast unförmlich dick und stark. Sein Kleid war im wesentlichen das der Alten in ihrer jetzigen Sommertracht, das Haar jedoch wie bei allen jungen Tieren weicher und länger, auch etwas gekräuselt; Mähne und Schwanzquaste waren bereits wohlentwickelt, nur die Läufe dünn und fein, nicht aber auch spärlich behaart. Die Lippen und die Umrandung der Nasenlöcher waren mit längeren weichen, zum Teil gewellten Haaren besetzt. {...}

In der Hoffnung, vielleicht auch die Mutter unseres Gefangenen erbeuten zu können, banden wir diesen an und legten uns in der Nähe in den Hinterhalt. Die Alte mit ihren Genossen hatte sich bisher noch immer in einer gewissen Nähe gehalten, unser Aufenthalt am Fangplatz aber doch wohl schon zu lange gewährt; denn die vorsichtigen Tiere erschienen nicht wieder, sondern verschwanden allmählich unseren Augen, indem sie nach und nach vom Dunste der im Osten flimmernden Luftspiegelung verhüllt wurden. So mußten wir uns nach einer halben Stunde Wartens entschließen, weiterzureisen. Wir nahmen unseren Gefangenen mit, ihn der Obhut der Kirgisen übergebend, freilich schon jetzt kaum in der Hoffnung, ihn gedeihen zu sehen. Leider hatten wir keine mitgehende Stute bei uns und konnten auch vor abends keine Kuhmilch verschaffen, kein Wunder daher, daß der ruhrartige Zustand, in welchem sich das Fohlen befand, als wir es zuerst untersuchten – eine Folge vielleicht des eiligen Laufes während der Jagd und der dabei ausgestandenen Angst –, rasch überhandnahm und, ich greife vor, schon am nächsten Tage dem Leben des zierlichen Geschöpfes ein Ende machte. Es blieb liebenswürdig bis zu seinem Tode, trank Kuhmilch, fraß auch ein wenig Gras, welches wir ihm vorhielten, war aber für Gefangenschaft unter solchen Umständen, wie sie unsere Reise mit sich brachte, doch noch viel zu jung und schwach gewesen.

Nicht lange waren wir geritten, als wir wiederum zwei Tiere erblickten, welche als Kulane angesehen werden mußten. Das eine derselben setzte sich beim Erscheinen der vielen Reiter in Bewegung und floh dem Gebirge zu; das andere weidete zuerst ruhig weiter, schaute sich sodann neugierig die Herannahenden an und lief, zu nicht geringer Überraschung von uns allen, plötzlich geradewegs auf den Reiterzug zu. Einer und der andere griff zur Büchse, hing dieselbe aber bald wieder über den Rücken; denn das heranspringende Tier erwies sich bald als ein verlaufenes rotscheckiges Pferd, welches in Ermangelung einer ihm in jeder Beziehung zusagenden Gesellschaft die seines wilden Verwandten gesucht und gefunden hatte, angelockt durch so viele seines Geschlechtes jetzt aber freiwillig unter die Botmäßigkeit des Menschen zurückkehrte und, ohne sich auch nur zu sträuben, seinen Hals der bereitgehaltenen Schlinge bot, um fortan mit uns zu reisen. Den Kulan, welcher in seiner Begleitung gesehen worden war, sahen wir später hoch einmal wieder, jedoch auch diesmal nur auf Augenblicke, da er wiederum scheu entfloh und jetzt, ohne sich aufzuhalten, dem fernen Gebirge zueilte. Bald darauf sahen wir in weiter Ferne den anderen Kulan, und kurz darauf sollten wir das Schauspiel haben, eine kleine Herde dieser Tiere in genügender Nähe vor uns dahinspringen zu sehen. Eine in der Tiefebene vor uns auftauchende, bei unserem Erscheinen sofort fliehende Antilope veranlaßte zwei vom heutigen Erfolge trunkene Reiter, einen Kirgisen und unseren Diener Iwan, dem in sonderbar tänzelnden Sprüngen dahineilenden Tiere nachzujagen. Das Ergebnis dieses Rittes war, daß sechs andere Kulane auf- und gegen uns hingetrieben wurden. In eng geschlossener Reihe, einer hinter dem anderen dahingaloppierend, stürmten die schönen Tiere an uns vorbei, eine Staubwolke aufwirbelnd und einem westlich von uns sich erhebenden Hügel zu eilend. Tichanoff und einer der Kosaken konnten es sich nicht versagen, trotz der übergroßen Entfernung auf sie zu schießen, was natürlich nur den Erfolg hatte, sie in noch schnellere Flucht zu treiben. Binnen weniger Minuten waren sie hinter dem Rücken eines der erwähnten Hügel verschwunden.

So hatten wir also im Laufe eines Vormittages während eines immerhin nur kurzen Rittes fünfzehn Kulane zu sehen bekommen und uns somit überzeugen können, daß die Ausrottung des schönen Tieres hier noch nicht zu befürchten steht. Daß der Kulan gerade diese so arme, wasserlose Steppe, eine wahre, mindestens eine halbe Wüste zu seinem Aufenthalte wählt, läßt sich nur dadurch erklären, daß sie ruhiger ist, vom Menschen weniger durchzogen wird als jede andere Strecke innerhalb des von uns bereisten Gebietes. Alle reicheren Teile der Steppe bieten den Kirgisen entweder im Sommer, Frühling und Herbste oder im Winter ersprießliche Weideplätze, und mehr noch als die Hirten und Herdenbesitzer beunruhigen auf diesen die weidenden Tiere jene der Wildnis; dieser Teil der Steppe aber bietet wenigstens im Sommer, der Fohlzeit des Kulans, für die Kirgisen und ihre Herden keinen Raum, und das freigeborene Kind der Steppe lebt daher unbehelligt. {...}

Alle Kulane, denen wir heute begegneten, waren neugierig und staunten die ihnen fremden oder doch nicht gewohnten Erscheinungen erst an, bevor sie sich anschickten, das Weite zu suchen. Unverfolgt trabten sie nur, fast nachlässig dahinlaufend, mit dem Schwanze die Flanken peitschend. Gejagt fielen sie in einen überaus leichten und zierlichen Galopp, welcher sie ungemein rasch beförderte und ihnen nicht die geringste Anstrengung zu bereiten schien. Aber auch nach einer solchen Flucht blieben sie von Zeit zu Zeit stehen, stellten sich sämtlichen einer Richtung, mit dem Kopfe gegen den Verfolger, auf und sicherten, worauf sie die Flucht fortsetzten; sie liefen nicht neben-, sondern hintereinanderher. {...}

Die letzten auf Kulane abgegebenen Schüsse hatten auch noch andere große Säugetiere aus ihrer Ruhe geschreckt, einen ziemlich starken Saiganantilopentrupp nämlich. Diese Tiere waren übrigens so scheu, daß sie schon in einer Entfernung von mindestens zweitausend Schritt entflohen, wie sie überhaupt nur mit dem Fernglas unterschieden werden konnten. {...}

 

Durch den Altai

Nach Sonnenuntergang umfliegen unsere Jurten mehrere Dickfüsse, von deren Vorhandensein wir bisher keine Ahnung gehabt haben.

Die Kirgisen wissen, wie eine abends mit ihnen gepflogene Unterhaltung mich belehrte, daß die Giftschlangen Nachttiere sind, sagen auch ganz richtig, daß sie bei Tage schlafen, und fügen hinzu, daß sie in der heißesten Zeit des Jahres nur in den Früh- und Abendstunden in der Sonne liegen, mittags aber dem Wasser zukriechen und sich in ihm lagern. Sie fürchten die Vipern sehr, weil sie die Gefährlichkeit ihres Bisses wohl kennen. Die Mittel, welche sie gegen Schlangenbiß anwenden, sind folgende: Zuerst wird etwas aus dem Koran, in der Regel die Fatiha, gebetet, gleichzeitig aber die Wunde ausgeschnitten beziehentlich ausgesaugt, hierauf Opium eingegeben, sodann das gebissene Glied ins Wasser eingetaucht und endlich Schlangenfett aufgestrichen. Die Gebissenen leiden trotz alledem sehr lange, zuweilen monate- und selbst jahrelang. {...}

4. Juni. Der Weiterweg bietet zuerst wenig Abwechslung. Ein Hügel folgt auf den anderen; und nur dann und wann gestattet einer eine weitere Fernsicht auf die von uns verlassene Ebene, wie auf das vor uns liegende, gleich einer Mauer sich aufbauende Gebirge, welches, obwohl noch weit unter der Grenze des bleibenden Schnees liegend, noch überall größere Schneefelder aufweist. {...}

Es wird von einer reichen Welt von Gesträuch und Gestrüpp gedeckt; namentlich dem Garagan, welcher hier Mannshöhe erreicht, dem von mir unter diesem Namen früher beschriebenen Gebüsch, welches sich jetzt als eine wilde Steinobstart, wohl die wilde Pfirsiche, entpuppt, und dem sibirischen Geißblatt, demselben Strauch, welcher bei uns zulande allgemein als Gartenschmuck dient. Garagan und Geißblatt stehen jetzt auch hier in vollster Blüte und verleihen dem Niederwalde daher ein ungemein buntes Gewand. Man glaubt sich in einen blühenden Garten versetzt, in welchem durch besondere Laune des Gärtners die höheren Bäume fehlen; blickt man von der Ferne her auf das Buschdickicht, so erscheint das ganze wolkig verwaschen, denn das verschiedene Grün der Blätter und die lebhaft gelben Blüten des Garagan mit den blaßrötlichen Blumen und rötlichweißen Blättern des Geißblattes verschmelzen in einer für das Auge unlösbaren Weise miteinander. Viele Blumen blühen im Schatten dieses eigentümlichen Waldes, aus welchem der muntere Gesang der Sperber-, Dorn- und Zaungrasmücke dem Menschen entgegenschallt.

Gegen Mittag trifft, wie früher zwischen uns verabredet, der Gouverneur von Semipalatinsk Poltoratzky nebst Gemahlin und Tochter auf unserem Mittagsrastplatze ein, welcher Maiterek genannt wird und den Anfang einer von vielen Flüssen quer durchschnittenen, beständig auf steigenden Ebene bildet, die nicht allein mit Niederwald, sondern in allen Einsenkungen auch mit Wäldchen von Silberpappeln bestanden ist. Der Name Maiterek bedeutet »fett an Espen« beziehentlich »Silberpappeln«. Busch- und Hochwald tragen wesentlich dazu bei, den Reiz der zu beiden Seiten von Bergen eingefaßten schiefen Ebene zu erhöhen. Jede Höhe bietet außerdem Fernblicke, welche um so lebendigere Bilder aufrollen, je weiter wir aufwärts steigen. Ein Aul reiht sich an den anderen, und alle Gehänge sind daher bedeckt mit weidenden, jetzt im Überfluß schwelgenden Herden von Schafen und Ziegen, Rindern und Pferden. Von der wildlebenden Tierwelt dagegen bemerkt man wenig; nur der Gesang der genannten Grasmücken begleitet beständig den Reisenden, und in allen tieferen Tälern lebt ein Sprosser neben dem anderen. Sonst sieht man den Fettammer und einen Karmingimpel, die Gebirgsstelze, den Kuckuck, den Rötelfalken, die Höhlengans, den hier häufig lebenden, uns noch unbekannten kleinen Gebirgsraben, dann und wann auch eine Elster, einen Milan und über den Bergen einen Adler, wohl Goldadler, kreisen, vielleicht auch noch eine Felsentaube mit weißer Schwanzbinde oder eine der hiesigen Turteltauben fliegen, kaum aber noch andere von den vielen hier vorkommenden Vögeln. Um so öfter bemerkt man die Spuren des häufigsten aller hiesigen Säugetiere: des Blindmoll, welcher hier den Maulwurf vollständig verdrängt zu haben scheint; und wenn man höher aufsteigt, gewahrt man auch bereits an allen passenden Gehängen die Höhlen des Ziesel, sieht auch wohl schon eines der Tiere rasch seiner Behausung zueilen, und nachdem es vor dem Eingang ein Männchen gemacht, in derselben verschwinden.

Weiter und weiter aufsteigend, gelangen wir auf eine minder nach der chinesischen Seite abfallende Hochebene, Santasch, eigentlich nichts anderes als eine jetzt im vollsten Blütenschmuck stehende Alpenwiese, überreiten sie und senken uns dann nach dem zu Rußland gehörigen Talkessel Maikalschakai hinab, in welchem ein russisches Grenzpiquet steht. {...}

Das Piquet, welches im Spätherbste zurückgezogen wird, besteht aus zwei niedrigen Blockhäusern, einem kleineren für die Offiziere und einem größeren, der Mannschaft (Kosaken) zur Wohnung dienenden Gebäude, neben welchem der nur ein wenig verschiedene Stall und eine kleine Küche stehen, wogegen die nötigen Vorräte in Schuppen untergebracht werden. Diese Speicher sind dachartige, über einen Querbalken gelegte, mit Erde bedeckte, aus Baumstämmen gebildete, an der einen Seite geschlossene, an der anderen offene Hütten; das Gebäude, welches den Leuten zur Unterkunft dient, ist ein großer Raum mit Pritschen an den Wänden, ohne Fenster und Ofen; die für die Offiziere bestimmte Behausung ein kaum wohnlicher eingerichtetes Gebäude. Wir fanden in neun Wohn-, drei Küchen- und Dienerjurten Unterkunft.

Wir verweilen, da der General die kleine Truppe besichtigte, auch am folgenden Tage auf derselben Stelle und beschäftigten uns, weil ein während des ganzen Tages tobendes, zwischen den Bergen verfangenes und daher beständig wiederkehrendes Gewitter uns an die Jurten fesselt, mit Schreiben.

 

[Postkarte]

Maiterek, in der Kurdschumskette des Altai, 5. Juni
(zweiter Pfingsttag) 1876

Mein herzliebes Weiberl!

Seit Saisan habe ich Dir beim besten Willen nicht schreiben können, weil wir keine Gelegenheit hatten, eine Karte zur Post zu befördern. Von hier aus aber geht unser bisheriger Begleiter, Major Tichanoff, nach Saisan zurück, und er nimmt diese Karte mit. Zu meiner großen Freude brachte mir der General Poltoratzky, mit welchem wir jetzt wieder reisen, Deine beiden Karten vom 27. und 29. April mit. Ich ersehe daraus zu meiner großen Beruhigung, daß es Euch gut gegangen, und bin nun ganz glücklich, seitdem ich wieder so regelmäßig Nachrichten von Dir erhalte. Etwas spät kommen dieselben freilich an; die Entfernungen sind aber auch riesig groß. {...}

Schreib Lindemann, daß es mir beim besten Willen nicht möglich war, einen Artikel zu schreiben. Ich bin mit dem Tagebuch noch lange nicht in Ordnung.

Mit viel tausend Grüßen und Küssen

Dein getreuer Alter.

 

Nur gegen Abend wird der Versuch gemacht, einen Blindmoll (Spalax typhlus) auszuheben; die Arbeitslust der dabei beschäftigten Kosaken ermüdet jedoch früher, als wir alle Gänge des Tieres aufgedeckt.

Der Blindmoll, ein hier ungemein häufiger Nager, russisch Stapusch genannt, bewohnt das pflanzenreiche Gebirge in solcher Menge, daß man seinen Haufen buchstäblich überall begegnet. Diese Haufen sind sehr groß, viel größer, als sie der Maulwurf aufwirft, aber nicht hohe, vielmehr flache Hügel, welche den ungemein winkligen Gang des Tieres bezeichnen. Der Gang selbst zieht sich sehr flach, höchstens 15 Zentimeter unter dem Boden dahin, unzählige Winkel und Widergänge bildend, durchschneidet ohne weiteres auch feuchte, ja mit Wasser förmlich gesättigte Täler, überschreitet Bäche und klettert an den Gehängen der Berge empor. Das Tier arbeitet fortwährend, scheint auch keinen Winterschlaf zu halten, weil man überall da, wo der Schnee vor kurzem geschmolzen, die Spuren seiner winterlichen Tätigkeit bemerken kann: sonderbare, auf dem Boden liegende, wurstartige Erdwälle, wie solche mehrere Wühlmäuse, insbesondere die Schermaus, aufwerfen. In den Morgenstunden soll der Blindmoll, wie die Kirgisen behaupten, am allerträgsten sein, bei Regen wenig, bei Sonnenschein am meisten arbeiten. Auf dem Boden selbst bekommt man ihn nur ausnahmsweise einmal zu sehen; doch glaube ich nicht zu irren, wenn ich das Nagetier, welches ich auf einem meiner Ritte aufjagte und ins Wasser scheuchte, als Blindmoll bestimme. Die Bewegungen dieses Tieres auf dem Boden waren ungemein rasch und ganz mäuseartig, seine Schwimm- und Tauchfertigkeit bewunderungswürdig. Im Nu hatte er in dem über grasigem Boden fließenden Bächlein ein Loch gefunden und war verschwunden. Daß der Blindmoll ein vorzüglicher Schwimmer ist, versichern einstimmig alle Kirgisen, welche ich kenne. Auch erzählt uns ein Herr durch Vermittlung des Gouverneurs, welcher sich für unsere Bestrebungen ungemein interessierte, daß er einst einen Blindmoll gefangen und in einen Wassereimer gesetzt habe, in welchem er sich mit der Fertigkeit einer Wasserratte zu bewegen gewußt habe. Daraufhin habe er das Tier in einen ziemlich breiten, schnell strömenden Bach geworfen und mit Verwunderung gesehen, daß unser Moll auch hier vollständig zu Haus gewesen sei, jedoch so schleunig als möglich das feste Land gesucht und sich am Ufer des Baches mit einer so überraschenden Fertigkeit ein Loch gegraben habe, daß er geradezu vor sichtlichen Augen in der Erde verschwunden sei.

Dank der Güte des Gouverneurs gelang es uns binnen wenigen Tagen, zwei dem Anschein nach verschiedene Blindmolle zu erbeuten. Sie benahmen sich ziemlich ruhig, versuchten nicht, durch ungestüme Bewegungen sich zu befreien, und zappelten kaum, als wir sie, im Genick gepackt, In der Hand hielten. Ihre kleinen Äuglein waren geöffnet, und die schwarzen Glasperlen vergleichbaren Sterne hatten einen lebhaften Glanz. Als wir sie in eine Blechtrommel sperrten, ließen sie ein schwaches Quieken vernehmen; gleichwohl bin ich jetzt geneigt, die laute, offenbar von einem Säugetier herrührende Stimme, welche man abends an allen von ihnen bewohnten Berggehängen vernimmt, ihnen zuzuschreiben. Diese Stimme ist ein mehrfach wiederholter, kurzer Pfiff, wie solchen ein Mensch mit dem Munde hervorbringt, und man vernimmt diesen Pfiff bis tief in die Nacht hinein.

Neben dem Blindmoll bewohnten auch viele Ziesel unsere Hochebene, und ebenso sah man auf ihr mehrere Höhlen des Murmeltieres, nicht aber dieses selbst, gewiß einzig und allein aus dem Grunde, weil es sich vor dem lärmenden Getriebe so vieler Menschen zurückgezogen und auf den nahen Bergen Aufenthalt genommen hatte.

Am 6. Juni nach 8 Uhr morgens setzen wir unsere Gebirgsreise fort. Das Gepräge der Berge bleibt dasselbe, denn wir bewegen uns noch immer zwischen den Vorbergen. Die südlichen Gehänge sind stets unbewaldet, die nördlichen spärlich mit Lärchen bestanden, zu denen sich in einzelnen geschützten Tälern Espen oder Silberpappeln gesellen. In einem Tale tritt auch die Fichte auf, und zwar in schönen hohen Stämmen, ist aber noch sehr selten.

Das Wetter ist im hohen Grade unfreundlich. Der trübe Himmel, welcher beim Wegreiten über uns hängt, sendet uns bald anhaltenden, eisig kalten Regen, untermischt mit Schneegestöber, und verdirbt alle Wege aufs gründlichste. Und diese Wege sind an und für sich schon schlecht genug. Dem Kirgisen fällt es nicht ein, auch nur eine Hand anzulegen, um hinderliche Steine zu entfernen; er überläßt es seinen Pferden, die Wege zu bahnen, und ihm gilt es gleich, ob er im Laufe des Tages einmal oder unzählige Male durch die rauschenden und reißenden Wildbäche reiten muß, obgleich deren Bett mit Felsblöcken, großen und kleinen Geröllsteinen, runden oder eckigen Felsentrümmern, rauhen oder glatten Steinplatten angefüllt ist und dem Pferde unsägliche Schwierigkeiten bereitet. Von Jugend auf an das Reiten selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen gewöhnt, vor keiner Steigung zurückschreckend, auch an jäh abfallenden Wänden noch einen Weg für sein Tier erzwingend, hat er keinen Begriff, daß solche Wege, wie sie seine Rößlein in den wilden Gebirgen sich bahnen, nicht auch anderen Menschen als leicht zu überwindende Pfade erscheinen sollten. Mit wahrer Todesverachtung ritten wir bergauf, bergab, an gähnenden Abgründen hin, überschritten wir die rauschenden Wildbäche, kreuzten wir die Moräste, in denen unsere Pferde bis zu den Fesseln einsanken und um so schwerer sich bewegten, als der Boden solcher versumpfter Stellen regelmäßig mit Steinen ausgefüllt ist, auf und zwischen denen die Hufe der Tiere nur nach längerem Tasten und verschiedenen Versuchen festen Stand gewinnen können. Von einer wirklichen Gefahr für Leib und Leben konnte allerdings kaum gesprochen werden; denn so steil waren die Abhänge wohl nicht, daß ein fallender Reiter nicht noch hätte Halt erlangen können; allein schon die bloße Aussicht, bei der herrschenden Kälte mehr noch als durch den strömenden Regen zu durchnässen, war ungemütlich genug, um uns beständig zur größten Vorsicht zu mahnen.

Abgesehen vom Regen und der Bodenlosigkeit des Weges war die Reise fesselnd. Wir ritten mit einem russischen Gouverneur und dessen Gefolge: Mehr als hundert Reit- oder Lasttiere bildeten unseren Zug. Außer unserer zahlreichen Reisegesellschaft und deren Dienern, außer den Lasttieren, welche nicht allein unser Gepäck, sondern auch Vorräte für Küche und Keller sowie die Bestandteile der Jurten trugen, begleiteten uns mindestens zwanzig angesehene Kirgisen, von denen fast jeder wiederum seine Diener bei sich hatte. Im Gefolge des Generals und seiner Familie befanden sich die Vorsteher der betreffenden Kreise, die Dolmetscher und Schreiber, welche der Statthalter einer Provinz mit sich haben muß, Koch und Kellermeister sowie etwa zwanzig Kosaken, mehrere eingeladene Gäste usw., so daß stets allein zehn bis fünfzehn Leute von Rang und Ansehen bei der Tafel des Gouverneurs erschienen. Die erwähnten Kirgisen, Jäger und des Landes kundige Führer vermehrten den Troß. Ihm voran zogen zwei Kirgisen, eine nicht unbedeutende, von zwei klugen, bergkundigen Ziegen begleitete Herde von Schafen vor sich her treibend, welche freilich tagtäglich geringer wurde, da die Beköstigung der vielen Menschen täglich mehrere Häupter aus ihrer Mitte erforderte, auf diese Herde folgten die Tiere, welche die zuerst abgebrochenen Jurten trugen, ihnen zwei Saumtiere mit dem nötigen Mundbedarf für die Wegstrecke selbst, ihnen womöglich der Koch, dessen Tätigkeit begann, noch bevor die Jurten aufgeschlagen waren, welcher selbst unterwegs um die Mittagszeit wenigstens Tee zum jetzt einzunehmenden kalten Frühstück zu bereiten hatte. Ihm eilten wir zum Teil voraus, zum Teil nach, zu zweien, dreien und mehr vereinigt oder einzeln unseres Weges ziehend, bis das Frühstück uns unter alten hochstämmigen Lärchen, in Ermangelung dieser auch wohl in einem rasch aufgeschlagenen Zelt auf dem den feuchten Boden deckenden Teppiche geraume Zeit vereinigte. Die Lasttiere zogen inzwischen ihres Weges fort, auch die später als wir aufgebrochenen Tiere überholten uns allmählich, und wir ritten dann wieder nach u nach an den sämtlichen Lasttieren vorüber, solcherart den ganzen langen Zug täglich mindestens einmal vorüberziehen sehend. Wo der Weg es gestattete, wurde im Trab, gewöhnlich aber im Schritt geritten, so daß eine zurückgelegte Strecke von fünfzig Werst schon zu den größeren Leistungen gehörte und wir nach solchem Ritte herzlich froh waren, wenn nicht eine bereits für uns aufgeschlagene Jurte uns winken, so doch einen bestimmten Lagerplatz uns grünen zu sehen.

Mit uns zugleich oder unmittelbar hinter uns trafen nun allmählich sämtliche Reiter und Lasttiere ein, und nunmehr entfaltete sich ein lebendiges, buntes Lagergewimmel um uns herum. Sobald unsre Jurten gestellt waren, wuchsen hier und da die Zelte für die Mannschaft aus dem Boden, bildeten sich die Gruppen der Kirgisen, erglänzten die Lagerfeuer, wirbelten deren Rauchsäulen empor. Reiter sprengten hin und her, um Holz, Wasser, vielleicht sogar Milch herbeizuschaffen; einige der Schafe wurden geschlachtet und zogen die vorsichtigen Milane zu erhofftem Schmause herbei, die grünen Matten bedeckten sich nach und nach mit den minder edlen Pferden, während die edlen Rosse noch der ihnen so hocherwünschten Weide entbehren mußten und mit scharf angezogenem Zügel halbgesenkten Hauptes truppweise nebeneinanderstanden, des Augenblicks harrend, welcher auch ihnen die ersehnte Freiheit bringen sollte; denn erst nachdem sie mehrere Stunden regungslos auf einer und derselben Stelle gestanden, wurden ihnen der bisher halbgelüftete Sattel, Zaum und Gebiß abgenommen und ihnen freie Bewegung erlaubt. Schien nach einem regnerischen Tage in den Nachmittagsstunden noch die freundliche und wärmende Sonne, so bedeckten sich bald alle Felsen ringsumher mit zum Trocknen ausgebreiteten Kleidern, blieb sie aus, so dampften dieselben, gehalten von mehreren Leuten, über dem lodernden Feuer, um sie wenigstens einigermaßen wieder brauchbar zu machen. Rasch wurde nun noch die nächste Umgegend durchstreift, das ewig mahnende Tagebuch in Ordnung gebracht, die Gewehre geputzt und sonstige Arbeiten verrichtet; dann nahmen wir das rasch bereitete, zwar einfache, immer aber gute und durch den besten Koch gewürzte Mittagessen ein, und nunmehr begann die Unterhaltung, welche die beiden, uns Männer in jeder Beziehung beschämenden, ewig heiteren Damen stets zu einer angenehmen zu machen wußten. Dann erschien der Mond am inzwischen geklärten Himmel, uns neue Hoffnungen für den folgenden Tag vorspiegelnd, und mit dieser Hoffnung, welcher stets die beredtesten und zuversichtlichsten Worte geliehen wurden, zogen wir uns endlich in unsere Jurten zurück, um noch in der Nacht durch neu herangezogene, über uns sich entladende Wolken unseres Irrtums belehrt zu werden.

So geschah es, daß der Aufenthalt in den sonst so gemütlichen Jurten uns während der ganzen Reise im Altai meist verbittert wurde. Regennaß aufgeladen und naß auf den feuchten Boden aufgestellt, verlor die Jurte zum größten Teile ihre Wohnlichkeit. Naß oder feucht waren ihre Wände, feucht ihre Teppiche, auf denen wir unsere einfachen Lagerstätten aufgebaut; durch ein oder das andere Loch tropfte mit peinlicher Regelmäßigkeit der Regen; feucht schien es uns anzuhauchen vom Boden, von den Wänden, von der Decke, eisigkalt zog es herein durch die Spalten der Türe oder der die Wände bildenden Filze, und dichter und fester hüllte man sich in Decken und Pelze, trotz alledem immer noch mehr als bei uns im Frühjahr frierend, obgleich der Wärmemesser uns belehrte, daß wir uns über die vermeintliche Kälte täuschten. Doch kam es mehrere Male vor, daß wir am Morgen die langsam rinnenden Wasser mit einer Eisdecke von fünf Millimeter Dicke belegt oder beim Austritt aus der Jurte nicht allein die Berge, sondern auch unseren Lagerplatz mit einer mehrere Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt fanden. Wir waren eben im Hochgebirge und in einem der regenreichsten von allen, und wir besuchten es in einer Zeit, in welcher sich der grämliche Winter noch mit dem lachenden Frühling um die Herrschaft stritt. Menschen und Tiere litten gleichmäßig unter diesem Streite, aber nur die Russen und wir gaben unserem Unmute Ausdruck. Die Kirgisen schliefen nach solcher Nacht, bis zur Nasenspitze in ihre Pelze eingehüllt, meist auf dem Bauche liegend, so ruhig unter dem einfachen Zelt oder gänzlich im Freien, als hätten sie eine laue Sommernacht verbracht, Rosse, Schafe und Ziegen weideten unbekümmert um den Schnee das unter ihm verdeckte Gras, die in ihn eingehüllten und trotzdem frisch und kräftig blühenden Blumen ab, und selbst die Hirten, welche, auf ihrem Pferde sitzend, bei der zahlreichen Herde wachend die Nacht verbracht, schauten gleichmütig vor sich hin, den Himmel mit seinen schneedrohenden Wolken oder die von ihm mit dem Kleide des Winters gedeckte Erde anscheinend kaum eines Blickes würdigend. Für Schafe und Ziegen zumal schien es keine Kälte zu geben; ihre Gedanken waren nur auf Weide gerichtet, und zum Überschreiten eines Waldbaches, eines Sees gezwungen zu werden, verursachte ihnen jedenfalls weit mehr Bedenken und Sorgen als solche Nächte. So munter sie, unter Vorantritt der altklug in die Welt schauenden Ziegen, auch ihres Weges dahinschritten, vor einem Gewässer machten selbst ihre selten um einen Ausweg verlegenen Führer halt. Die treibenden Kirgisen, vor deren Pferden sie bisher ohne Zögern dahingeschritten, strengten ihre Lungen vergeblich an, pfiffen, schnalzten und zeterten ihnen ihren unnachahmlichen Lockruf umsonst entgegen: Sie wichen scheu zur Seite und versuchten sogar, mit einer allen Schafen durchaus ungewohnten Selbständigkeit, das Weite zu gewinnen. Ohne jeglichen Erfolg bemühten sich die Treiber, auf die verständigen Ziegen einzuwirken, ohne allen und jeden Einfluß blieben ihre zärtlichsten Schmeichellaute, bis endlich kein anderes Mittel half als die rohe Gewalt. Von der Höhe herab senkte sich der Fangstrick mit der an ihm befestigten unentrinnbaren Schlinge, ein, zwei Schafe fühlten diese an ihrem Halse, sich selbst einen Augenblick später, dem Ersticken nahe, in der Luft schwebend und im günstigen Falle unmittelbar darauf in der Gewalt und am Sattel des Reiters, um von ihm über das Wasser geschleppt zu werden; im minder angenehmen Falle in den rauschenden Wellen des Wildbaches, in welchen sie der Reiter geworfen. Lautlos zappelten, strampelten, schwammen sie in der kalten Flut dahin, jedem über sie hervorragendem Felsblocke zustrebend und fast von jedem weg und in den Strudel gerissen, bis es ihnen endlich gelang, das jenseitige Ufer zu erreichen. Ein klägliches Blöken aus gepreßter Brust gab nun zunächst der ausgestandenen Angst entsprechenden Ausdruck; dann aber, im Bewußtsein, auf sicherem Boden sich zu befinden, blickten sie nur noch einmal auf ihre drüben noch desselben Schicksals harrenden Genossen zurück, blökten ihnen nur noch einmal glücklich zu, schüttelten ihre gänzlich durchnäßten Fließe und trabten hierauf dem ersten, aller Trübsal und Gefahr glücklich entronnenen, jetzt die Leitung übernehmenden Art- oder Sippschaftsgenossen nach, um im Genießen üppiger Weide des ihnen nur noch für kurze Zeit beschiedenen Daseins sich zu erfreuen.

 

Zum Markasee

Am 7. Juni erreichten wir endlich das wirkliche Hochgebirge. Wir befanden uns schon seit vorgestern wieder in China und strebten jetzt der Hochkette des südlichen oder chinesischen Altai zu. Der Weg nach dem Markasee, kirgisisch und auf den Karten Markakul genannt, welchen wir heute erreichen sollten, führt von einem Tale zum anderen, regelmäßig diese Täler kreuzend, steil an den fast oder gänzlich unbewaldeten Wänden sich hinaufwindend oder zur Tiefe senkend, jetzt oft durch noch nicht geschmolzene, große Schneefelder behindert, die unseren Pferden und uns selbst so viele Schwierigkeiten bereiten, daß wir zuletzt es vorziehen, sie auf weiten Umwegen zu umgehen, selbst auf die Gefahr hin, uns an den jähen Wänden einen Weg suchen zu müssen, wie man ihn sonst gern vermeidet. Hier und da blickt das Auge des Reiters nicht ohne Bedenken in die gähnende Tiefe hinab, aus welcher das Rauschen eines bis jetzt noch ungesehenen Wildbaches herauftönt; hier und da erlaubt eine glücklich gewonnene, augenblicklich nicht durch schneeschwangere Wolken verhüllte Höhe einen Fernblick auf die Gebirgskette vor uns im Osten und seitlich von uns im Süden. Alle Gipfel dieser Kette sind noch dick mit Schnee bedeckt, und die tief schwarz erscheinenden, obwohl bereits vom Frühling geschmückten Wände unter ihnen stechen um so lebhafter ab, als ihre vielen Vorsprünge und Gräte ihnen selbst ein geripptes Ansehen verleihen. Während unten in den Vorbergen steil abfallende Felsenwände, ja auf große Strecken hin überhaupt anstehendes Gestein zu den selteneren Erscheinungen zählt, alle Berge deshalb sich abflachen und eigentliche Schroffen nirgends vorhanden sind, die Abhänge der Berge also wohlgepflegten Alpenwiesen gleichen, auf denen nur hier und da einige Bäume noch stehen geblieben, bauen sich oben ausgeprägte Felsenmassen auf, an vielen Stellen fast senkrechte, zerklüftete und vom Wasser zerrissene Wände bildend, und starren auf der Höhe der Berge schroffe Grate, nackte Kegel, Spitzen und Kuppen empor. Der in den Vorbergen bis auf wenige Reste verwitterte Schiefer herrscht hier unter dem anstehenden Gestein unbedingt vor, macht auch nur ausnahmsweise anderen Gesteinen Platz, Grünstein und Serpentin zum Beispiel, deren Trümmer man im Bett der Wildbäche findet. Von dem Granit, welcher auch hier den Fuß der Berge bildet, bekommt man nur in den tiefsten Tälern eine Wand zu sehen. Damit ist das Gepräge dieser Berge bestimmt. Der Granit macht sich trotzdem geltend, und so reich auch die Höhen an Zacken und Spitzen sind, so ausdrucksvolle Umrisse Wie unsere Kalkalpen gewinnen sie nie, und nirgends starrt dem Besucher ein solches Wirrsal von Felsen, Blöcken, Trümmern, Halden, Schroffen, Graten und Schluchten entgegen wie dort.

In der Nähe des Sees einigen sich die bisher nur einzeln die Berggehänge schmückenden Bäume zu Wäldern, welche in dichten Beständen ausgedehnte Strecken der nach Norden abfallenden Wände bedecken, aber auch noch an keiner Stelle, die das Auge überblickt, zum ununterbrochenen Wald zusammentreten, vielmehr überall wenigstens durch die als Rippen vorspringenden Grate unterbrochen werden. Aber diese Wälder sind Urwaldungen im vollsten Sinne des Wortes, so gut als unberührt vom Menschen, noch heutigen Tages in ihrem ursprünglichen Zustand verharrend. Mächtige Bäume, mehr Fichten als Lärchen, mit Birken, Weiden und Espen oder Silberpappeln untermischt, setzen sie zusammen. Viele von den Nadelbäumen sind verdorrt, viele liegen modernd am Boden, viele sind nichts anderes mehr als ein weicher, vom Wasser erfüllter Mulm, welcher unter dem Tritt des Fußes wie Schlamm zur Seite weicht und bereits von einer Welt junger, zur Höhe strebender Bäumchen derselben Art überwuchert worden ist. Von vielen gibt nur noch der in der Richtung des gewesenen Stammes eingedrückte Boden Kunde: Sie selbst sind schon längst verstäubt und vergangen. Die Birken und Espen, deren Zweige hier oben jetzt erst zu knospen beginnen, sehen aus, als ob sie von der Faust eines Riesen zerzaust und zerknickt worden wären und dieselbe Kraft sie noch beständig hindere, sich zu vollem Wachstum zu erheben und zu entfalten. Wirre Kronen von wenig Umfang, aus denen von Jahr zu Jahr neue Zweige brechen, ohne daß es ihnen gelingt, zu Ästen zu erstarken, werden von mehr als mannsdicken, halb vermorschten und verfaulten Stämmen getragen; andere treten trotz der Stärke ihrer Stämme nur in Buschform auf, und der größte Teil der Äste ihre Kronen hängt verdorrt und zerknickt um letztere herum; andere sind in ihrer Stammitte zerbrochen, zersplittert und zerschleißt, der nur noch durch die Schale mit dem unteren zusammenhängende obere Teil ihres Stammes ist verdreht, und die noch vorhandenen Äste und Zweige liegen auf dem Boden, unterseits im Sumpfe vermodernd. Ausgedehnte Halden, aus mächtigen, wild und wüst übereinandergetürmten, geworfenen, geschichteten Felsblöcken, Steinen und Platten bestehend, unterbrechen die Bestände, bilden stark geneigte Wände und setzen auch dem geübten Fuß des kundigen Bergsteigers ein Ziel; weite Sümpfe, zu denen die beständig vom niederreißenden, keinen Abfluß findenden Wasser überspielten Ebenen im Laufe der Zeit geworden, nötigen, von einer Kaupe zur anderen zu springen; auf den Leichen der alten wurzelnde, kräftig aufschießende junge Bäume treten hier und da zu Dickichten zusammen und wie eine Mauer dem Eindringlinge entgegen, da sie auch aus dem Grunde zu unüberwindlichen Hindernissen werden, als im Inneren des Dickichts vom Alter gefällte, von den tobenden Winterstürmen niedergerissene, ganz oder halb auf dem Boden liegende, riesige Stämme Verhaue bilden, wie solche vollkommener zu schaffen die Kunst keines Menschen, vermag.

Auf der Südseite der Berge hingegen bemerkt man nur hier und da kleine Bestände, meist in der Tiefe der Täler, deren Grund die Feuchtigkeit länger zu halten imstande ist als die rasch trocknenden Gehänge und Steilwände der Berge. Oft sind diese südlichen Gehänge zu köstlichen Matten geworden, auf denen eine reiche Blumenwelt das Auge des Wanderers fesselt. Getränkt von heftigem Regen oder schmelzendem Schnee, jetzt noch feucht gehalten von aus der Höhe herniederrieselndem Wasser, gestatten sie nicht allein allerlei Gräsern und Kräutern, sondern auch den bereits erwähnten Gesträuchen, sich üppig zu entwickeln und zu entfalten, und erscheinen deshalb jetzt noch viel reicher geschmückt als die nördlichen Wände. Wer in den Alpen auf Pflanzen und Blumen geachtet hat, welche dort die höher gelegenen Almen schmücken, wird vielen guten Bekannten begegnen. Hier wie dort leuchtet einem der tiefblaue Enzian, das blaue und gelbe Stiefmütterchen entgegen, letztere beiden große Felder bildend und um so lebendiger hervortretend, als sie gemischt stehen; hier und da bedeckt das liebliche Vergißmeinnicht weite Strecken, im Verein mit der gelben Butterblume alle Uferränder der Flüßchen, Bäche und Rinnsale säumend, ja hier und da auf den trockneren Gehängen in solcher Menge gedeihend, daß es ganzen Wänden einen lichtblauen Schimmer zu leihen vermag. Noch ist die Zeit, in welcher wir das Gebirge besuchen, nicht vorgeschritten genug, um den vollen Zauber dieser überaus reichen Blumenwelt vor unser Auge zu bringen; aber die bereits in voller Blüte stehenden Arten, die in der Entwicklung begriffenen Knospen sprechen deutlich genug dafür, daß diese Gehänge im Hochsommer eine unerschöpfliche Quelle des Genusses bieten müssen, für den Kundigen wie für den Laien.

Unmittelbar am See breiten sich reiche Wiesen aus, vielfach von größeren und kleineren Flüßchen und Bächen durchzogen, auf denen der unendliche Reichtum der niederen Pflanzen zur vollsten Geltung gelangt. Auch sie stehen nur zum Teil im Blütenschmuck, aber dieser ist ein so reicher, wie wir ihn bisher noch in keinem Lande der Erde gesehen haben. Die meisten Lilien haben übrigens bereits abgeblüht.

Nach fünfstündigem, durch Weg und Wetter vielfach erschwertem Ritt gelangen wir auf die letzte Höhe am See und damit zum Vollgenuß des prachtvollen Hochgebirgsbildes, von welchem wir bisher immer nur Einzelheiten gesehen hatten.

 

Ein prachtvoller Gebirgssee

Der Markakul verdient den Ruhm, welchen er unter den Bewohnern und den wenigen Besuchern des südlichen Altai genießt, denn er ist in der Tat ein prachtvoller Gebirgssee. Vierzig Werst lang und mehr als halb so breit, bildet er eine Wasserfläche, groß genug, daß das Auge nicht alle Einzelheiten mit einem Blicke zu überschauen vermag und um so länger gefesselt wird, als es bei weiterm Sehen immer neue Schönheiten auffindet. Obwohl in seinen Umrissen vielfach durch vorspringende, zum Teil ziemlich tief in den See reichende Vorgebirge unterbrochen, erscheint er von unserem Standpunkte, also vom südwestlichen Ende gesehen, als ein schönes Eirund, und die in ihn einspringenden Vorgebirge tragen nur dazu bei, die Ufer wechselvoller zu gestalten. Alle Buchten sind mehr oder minder flache Täler, die meisten von ihnen so breit, daß sie Ebenen von ziemlich bedeutendem Durchmesser in sich einschließen. Letztere werden zum Teil vom Wald, zum Teil von Wiesen eingenommen, welche gegen den Wald hin und in ihm selbst in Sümpfe übergehen. Der Wald besteht entweder aus Fichten und dazwischen eingesprengten Birken, Espen und Weiden oder aus Birken allein. Im ersteren Falle entspricht er dem bereits geschilderten Urwalde, im letzteren ist er eher verkrüppelt als entwickelt zu nennen; denn nur die wenigsten Birken sind zu schönen Bäumen geworden, die meisten strauchartig wie im hohen Norden, viele zerbrochen, zerfetzt, verkommen. Die Gebirge fallen von allen Seiten steil zum Seebecken ab; ihre Höhen sind jetzt noch zum Teil mit Schnee bedeckt, und hier und da liegt derselbe so dick, daß es den Anschein gewinnen will, als schmölze er auch im Sommer nicht. Gerade diese Berge, welche weiter im Hintergrund von noch höheren überragt werden, tragen wesentlich dazu bei, den Markakul als Alpsee erscheinen zu lassen, wären ihre Höhenlinien so ausdrucksvoll wie die der Kalkberge, man könnte versucht sein, sich in die Alpen zu träumen. Aber alles ist hier gemildert, abgerundet, verflacht. Von den Bergen rinnen viele, viele Flüßchen, Bäche, Bächlein und Gerinnsale zur Tiefe, mehrere von ihnen eilen auch in stürmischem Laufe dem Seespiegel zu: Einen Wasserfall aber bildet kein einziges von allen Gewässern, welche wir gesehen, welche wir überschritten. {...}

Sie haben die Zeit des Kampfes bereits hinter sich und ihre Betten schon so geregelt, daß sie nur noch rauschen und brausen, nicht aber mehr donnern und schäumen. Fehlen dem See nun auch solche Reize, so besitzt er doch, in meinen Augen mindestens, einen größeren Vorzug vor so manchem Alpsee: Er liegt still und ruhig in seiner ursprünglichen, jungfräulichen Scham, so, wie er sich im Laufe der Zeiten sein Bette gebildet, vor dem Auge des Beschauers. Kein lärmend Getriebe ungenügsamer und anspruchsvoller Eintagsreisender stört den Genuß des Wanderers, welcher zu seinen Ufern gelangt; kein Dampfschiff durchfurcht, kein Boot durchgleitet seine Flut, keine menschliche Ansiedlung nimmt ihm das Gepräge der Ursprünglichkeit. Erst später im Jahre, selten vor dem Juli, erscheinen auch an seinen Ufern die wandernden Hirten, um ihre leichtbeweglichen Häuser für zwei, drei, höchstens vier Monate aufzuschlagen; vorher lassen sich nur dann und wann einige Fischer hier oben blicken, um einen kleinen Teil von dem unendlichen Reichtum des Sees zu gewinnen; wenn aber nicht aufwirbelnder Rauch ihren Aufenthalt verrät oder man ihnen zufällig begegnet, erlangt man von ihrem Vorhandensein keine Kunde. Und selbst dann, wenn die Kirgisen hier weilen, wenn in den trockneren Tälern ein Aul neben dem andern steht, wenn alle Berggehänge von kletternden Ziegen und Schafen bedeckt sind, alle Wiesen im Grunde der Täler von Pferden und Rindern belebt werden, verlieft der See sein Gepräge nicht, denn die Herden tragen nur dazu bei, seine Ufer zu schmücken, und die Jurten gehören so recht eigentlich auch in diese Gebirgseinsamkeit. {...}

Gegenwärtig, in der Hochzeit des Lebens für die meisten Tiere, wimmelt es von ihnen am und um den See, auf und unter seiner Oberfläche. Auf allen Gehängen der Berge, zumal auf den sonnigen, nach Süden und Osten gelegenen, saßen Murmeltiere vor ihren Höhlen, denen sie beim Sichtbarwerden der Reiter zugeeilt, hoch aufgerichtet, die Ankömmlinge beschauend und dann blitzschnell in der Tiefe ihrer sicheren Baue Verschwindend, ohne dem Jäger Gelegenheit zum Schuß zu geben; {...} denn auch hier sind sie sehr scheu und ziehen immer das Gewisse dem Ungewissen vor. Still und friedlich treiben sie ihr Wesen; lautlos auch eilen sie ihren Löchern zu: Ich habe sie niemals pfeifen gehört. Wenn die Sonne warm vom Himmel strahlt, sieht man sie, falls man das Auge mit dem Fernglas schärft und sich verborgen und ruhig hält, ihren Geschäften nachgehen, auf schmalen, nach und nach ausgetretenen Pfaden von ihrem Loche aus zur Weide eilen und eifrig fressen, als ob sie beständig auf ihrer Hut sein müßten, richtiger wohl, weil sie dies in der Tat fortwährend sein müssen, um den vielen sie bedrohenden Adlern zu entgehen. Ihre Bewegungen sind zwar rasch, aber plump und ungeschickt, sie selbst gegenwärtig so fett, daß der Leib beim Laufen buchstäblich auf dem Boden schleift; ihre Erscheinung ist daher eher auffallend als anmutend zu nennen. Sie wohnen auch hier gern in geringer Entfernung voneinander, gedrängte Ansiedlungen aber bilden sie nicht. Nur einmal sah ich zwei, deren Baue nicht weiter als fünfzig Schritt voneinander entfernt waren; alle übrigen hatten sich viel weiter voneinander ihre Löcher gegraben: In den meisten Fällen wurde ein Gehänge nur von einem bewohnt. Wie mich der Augenschein belehrte, werden ihre Löcher zuweilen vom Bären erweitert und dann wohl als Winterlager benutzt; Freund Petz behilft sich in solchem Falle jedoch stets mit einem verhältnismäßig sehr kleinen Raum. Viel häufiger als jene gewahrt man auch hier die Arbeiten des Blindmoll; denn er muß, den überall sichtbaren Haufen nach zu schließen, der gemeinste Nager des Gebirges sein. Von Hirschen, welche hier in allen Wäldern vorkommen sollen, spüren wir nichts, von Raubtieren ebensowenig, obgleich der Bär sicherlich kein seltener Bewohner dieser Höhen beziehentlich ihrer Waldungen ist.

Um so zahlreicher tritt die Vogelwelt auf. Über die höchsten Spitzen der Berge, welche, falls es steil abfallende Wände an ihnen gibt, von beiden Alpenkrähenarten belebt werden, zieht der Goldadler seine Kreise; in den Wäldern am See horsten häufig der hiesige Seeadler und der Flußadler, beide reicher, leicht zu gewinnender Beute sicher; über den Matten der Ebenen wie der Berge gleitet der Wiesenweih dahin, auch in dieser Höhe noch Beute suchend; bei jedem Lagerplatz erscheint der schwarzohrige Milan bettelnd und lungernd, des Nachts aber gesellig in einem Wäldchen am Seeufer sich sammelnd; von diesem aus unternehmen auch der Baumfalk und der hier ebenso häufig wie in der Tiefe auftretende Rötelfalk ihre Raubzüge. Der Birkhahn, jetzt an jedem schönen Morgen noch eifrig balzend, eine Turteltaube, der Wendehals, die schwarzkehlige Drossel, der in Menge in passenden Höhlen brütende Star und ein Specht – welcher, war nicht zu bestimmen – teilen mit den Falken denselben Aufenthalt. Zwischen dem Gestrüpp, welches alle Gehänge bedeckt, steigt ein Wasserpieper, allerorten aber die gemeine Feldlerche singend auf; auf steinigen und sonnigen Plätzen treiben sich der weißköpfige und gemeine Steinschmätzer umher; im Gras der Wiesen und Matten hat sich auch hier der Wiesenschmätzer, unter seinen Familienverwandten weitaus der häufigste, eingefunden; an den Gebirgswässern lebt die Gebirgsstelze mit dem Wasserschwätzer und Uferläufer in gewohnter Eintracht; auf den feuchten Wiesen brütet die wunderschöne Zitronenstelze, an steinigen Uferrändern wohnt die Maskenstelze in Gesellschaft des Fettammers und des hiesigen Hänflings, im Gestrüpp haust der Wiesenknarrer mit der Wachtel; auf sumpfigen Wiesen stelzen Jungfernkraniche, schwarze Störche und Bruchvögel auf und ab; in den weitern Flußtälern rennt der kleine Regenpfeifer dahin; auf dem Wasserspiegel gewahrt man den Singschwan, die Höhlengans, jetzt ihre kleinen Jungen unter treuer Beteiligung des Männchens führend, die Pfeif-, Krick-, Knäk-, Schnatter- und Spießente, den Ohrensteißfuß und die gegen Abend in gewohnter Weise gesellschaftlich sich zu großen Flügen sammelnde Scharbe, über den stillen Buchten endlich schwebt die Lachmöwe auf und nieder. Der hier vorkommende Rabe, ist die kleine und noch unbekannte, dem Kolkraben ähnliche Art.

Überaus groß ist der Fischreichtum des Sees. Unsere Kosaken fingen mit dem einfachsten Netz mit wenigen Zügen so viele Lachsforellen und Gründlinge, daß die ganze Reisegesellschaft die gewonnene Beute nicht an demselben Tage verzehren konnte, einige Kirgisen hatten binnen weniger Tage so viele Lachsforellen gefangen und über dem Feuer gedörrt, daß sie drei Pferde mit ihnen beladen konnten. Beide Edelfische sind übrigens viel weniger gut als die Verwandten bei uns zulande, und namentlich der Genuß der Forellen wird durch viele kleine, feste und spitzige Gräten sehr beeinträchtigt.

Nach fast zweistündigem Ritt lagern wir am Platz Terekti Bulak, einer trockenen, blumenreichen Wiese mit kirgisischen Grabmählern.

Am nächsten Morgen empfängt der Gouverneur den Besuch mehrerer chinesischer Würdenträger, Oberbeamter der Grenze, welche sich auf einer Reise befinden, um nachzusehen, ob die auf den Bergspitzen längs der Grenze aufgetürmten Steinhaufen sich noch in Ordnung bzw. an Ort und Stelle befinden. Die Leute wurden mit Tee und Leckereien bewirtet und verweilen, Höflichkeiten mit dem General austauschend, zwei volle Stunden im Zelte unseres Freundes, während die Kirgisen ihres Gefolges mit denen, welche uns begleiten, feierlich Grüße tauschen und sich dann um die Jurte des Generals sammeln, um womöglich einige Worte der Unterhaltung desselben mit den Chinesen aufzuschnappen. Einer der chinesischen Kirgisen trägt auch chinesische Tracht und auf dem Kopfe einen bunten Knopf, zum Zeichen, daß er als Beamter der Regierung auftritt. In diesem Gewande fordert er geradezu zum Vergleich mit den Chinesen auf, und das Ergebnis desselben ist, daß er mir als ein viel edlerer, höher gebildeter Mensch erscheint als seine Vorgesetzten, die Chinesen selbst. In der Folge dieses hohen Besuches brechen wir erst nachmittags auf und reiten nur etwa zwanzig Werst weit weiter an dem Seeufer dahin. {...}

Das Wetter ist abscheulich. Eine Staupe folgt der anderen, wir kommen naß auf dem Lagerplatz an und beziehen naß die nassen Jurten. Trotzdem vergeht uns der Abend im Gespräche mit unserem Freunde und Begleiter und seinen liebenswürdigen Damen rasch und heiter.

Durch Poltoratzky erfuhr ich übrigens, daß der Überfall Saisans durch die Kissileijaken doch eine andere Ursache gehabt hat, als man mir früher mitgeteilt. Die Kirgisen hatten sich die Zeit des Aufstandes der Tunganen zunutze gemacht und ebenfalls in China geraubt und geplündert. Um sie dafür zu bestrafen, rottete sich allerlei chinesisches Gesindel zusammen, und da dasselbe meist barfuß ging, nannten die Kirgisen die Rotten Kissil eijak, Rotfuß. Dieses Gesindel nun stieß auf das russische Piquet, von dessen Errichtung es nichts gewußt zu haben scheint, einzig und allein in der Absicht, die Kirgisen zu verfolgen, welche sich bei Ankunft des rohen Heeres bis hinter das Piquet zurückgezogen hatten. Hierbei nun erfolgte der Zusammenstoß in der beschriebenen Weise.

 

Altaiskaja Staniza

Am 9. und 10. Juni führte uns unser Weg bei abscheulichem Wetter der russischen Grenze entgegen, die wir am 11. Juni auf dem Burchatspaß überschreiten. {...}

Im Zickzack mehrere Stunden niedersteigend, erreichen wir schließlich das Buchtarmatal. Man glaubt, in einem wohlgepflegten Parke zu wandeln. Die Lärchen treten einigermaßen zurück, das heißt werden einzelner, die Birke drängt sich vor, kleine Haine und Wäldchen bildend, dazwischen grüne, lachende Wiesen, prangend im reichsten Blumenschmuck. Wilde Johannisbeerbüsche geben dichte Hecken ab, Schlinggewächse umranken einzelne Bäume. Weiter und weiter und leichter und leichter geht es nun talwärts; eine Abteilung Kosaken, ihres Generals harrend, empfängt uns, bald darauf auch die Vertreter der Kirgisengemeinde Tschingista mit dem Sultan an der Spitze, und geleiten uns zu den für uns bereiteten Jurten. Hier rasten, hier essen wir; dann sagen wir den treuen Pferden, welche uns bisher getragen, den treuen Menschen, welche uns bis hierher geleitet hatten, Lebewohl, besteigen unsere Wagen und fahren bei strömendem Regen durch das breite, liebliche Tal, bald auf dürrem Lande, ausgeworfenem Flußkies, bald in parkähnlichen Wäldern uns bewegend, nach der neuesten Ansiedelung in ihnen: Altaiskaja Staniza.

Diese erst im Jahre 1871 errichtete Niederlassung liegt reizend. Die Ebene, auf welcher das Dorf von sechzig Häusern für die Kosaken und der sogenannte Posten erbaut wurden, ist nicht mehr die des Buchtarmatals, dem Charakter desselben jedoch durchaus entsprechend. Saftige Wiesen mit reichem Blumenschmuck und üppigem Graswuchse, wie sie die fette Schwarzerde erzeugt, breiten sich über das Tal, in sanfter Neigung zu einem klaren Gebirgsflüßchen sich herabsenkend, dessen Ufer mit Birken und Lärchen bestanden und mit Weiden und Johannisbeerbüschen begrünt sind. Nach Süden hin erhebt sich die Bergkette, welche wir übersteigen, bis zu den, nein jetzt bis über die Wolken empor. Vielfach gegliederte Vorberge, durch tief eingeschnittene Täler getrennt, nicht besonders steil aufsteigend, umlagern ihren Fuß; reiche, obwohl auch hier nicht besonders dichte Waldungen bedecken ihre Gehänge und wechseln anmutig ab mit frischgrünen Matten, welche hier und da zu einem natürlichen Parke werden, weil einzelne Bäume auch an ihnen sich erheben, weil alle Flüßchen oder Bäche dicht umrahmt sind von Birken und Lärchen. Letztgenannte Bäume ziehen sich mit den Bächen bis tief in das Tal herab, dem Wasser, welches ihren Samen weitertrug, ihr Dasein dankend. Über die Vorberge erheben sich die ausdrucksvollen Höhen, jetzt mit frischgefallenem Schnee bedeckt und blendend schimmernd, soweit ihre zum Tal sehr jäh abfallenden Wände der weißen Decke es gestatteten, sich zu lagern. Aber gerade solche Stellen, auf denen der Schnee nicht haftenblieb, tragen wesentlich dazu bei, den Reiz der Hochberge zu erhöhen; denn ihr Dunkel unterbricht das blendende Weiß der minder steil abfallenden Wände und vermehrt den Wechsel von Licht und Schatten. {...}

Nirgends auf den von uns durchreisten Gebieten ist das Gebirge schöner als hier. Großartigere Ketten, steilere Wände, wildere Schluchten haben wir gesehen, anmutigere Gebirgslandschaften aber nicht. Auch die Staniza und der Posten stechen vorteilhaft ab von anderen Ansiedelungen des Altai. Alle Gebäude des Dorfes, die Häuser wie die Ställe, sind regelmäßiger, sauberer erbaut als an anderen Orten, alle Wohnhäuser von einem kleinen, mit Blumen bepflanzten Vorgarten umgeben, die Straßen breit, gerade und so sauber, als dies die Schwarzerde überhaupt gestattet. So macht die Staniza einen ungemein freundlichen Eindruck, und unser Freund Poltoratzky hat wohl recht, mit gewissem Stolze auf diese seine Schöpfung zu blicken. Der Posten besteht nur aus wenigen, aber großen Gebäuden: einer Kaserne, in welcher eine Kompanie Liniensoldaten liegt, dem Lazarett, der Hauptwache, einigen Wohnungen für Offiziere, einigen großen Speichern usw., neben denen noch einige Ansiedler Wohnungen errichtet haben. Jedem dieser Ansiedler wird so viel Land angewiesen zu freiem Eigentum, daß auf jede männliche Seele des Ortes dreißig Hektaren kommen, aber kaum einer ist zufrieden mit diesem großen Besitz, weil der Sibirier niemals genug Land haben kann. {...}

Wir blieben auch am 12. Juni in der Staniza. Der General hatte eine Besichtigung der Truppen angesagt; das Wetter war aber so unfreundlich, daß dieselbe unterbleiben mußte. Dies benutzten die Offiziere der Besatzung, um uns eine ebenso hübsch erdachte als überraschende Huldigung darzubringen. In einer Jurte hatte man eine Ausstellung von Erzeugnissen des Landes zustande gebracht, die Felle aller jagdbaren Tiere des Gebirges und die Erzeugnisse des Bodens enthaltend. Man lud uns ein, diese Ausstellung zu besichtigen, begrüßte uns mit einer feierlichen Anrede, bewirtete uns mit einem Frühstück und Champagner und machte uns schließlich alle ausgestellten Gegenstände zum Geschenk. Dies geschah mit einer so ungesuchten Liebenswürdigkeit, mit einem so unverkennbaren Eifer, uns eine Freude zu bereiten, daß wir uns noch viel mehr über die Art und Weise, in welcher uns die Geschenke geboten wurden, als über diese selbst freuen mußten. {...}

Rede und Wechselrede, Trinksprüche und Glückwünsche für ferneres Gedeihen unserer Reise beschlossen diese Feierlichkeit, nicht aber das Fest. Denn vor den Jurten hatten sich inzwischen nicht allein viele Kirgisen, sondern auch Kosaken eingefunden; man brachte einige erbärmliche Fiedeln und eine Gitarre herbei, und ein den Kosaken eigentümlicher, nur von Männern ausgeführter Tanz, das heißt ein solcher, an welchem Mädchen überhaupt niemals teilnehmen, begann. Wir haben diesen Tanz auf unseren Theatern gesehen, ausgeführt von geschulten Tänzern vom Fach; besser aber, als diese Soldaten hier sie ausführten, anmutiger und leidenschaftlicher wurden sie auch von den ausgezeichnetsten Ballettänzern nicht getanzt. Die anwesenden Frauen standen mit uns im Kreise; aber die Tanzlust regte sich nicht in ihnen; keine bewegte die Füße, um wenigstens mit ihnen den Takt zu schlagen; alle schauten vielmehr, zwar behaglich angemutet, jedoch ohne alle Wünsche auf die Tänzer: Beweis genug, daß sie niemals an solchen Tänzen teilnehmen.

Abwechselnd mit den Tänzern gaben auch Sänger ihre Kunst zum besten, diesmal Ausgewählte der ganzen Besatzung, und ihre Stimmen erklangen auch, als wir uns gegen Abend zum Wegfahren und Heimkehren nach der eine Werst vom Posten entfernten Staniza anschickten, trotz Wind und Wetter; denn die guten Leute waren unermüdlich.

 

Ein Naturpark

Am 13. Juni früh nach sechs Uhr setzten wir die Reise fort, immer noch in Begleitung unseres werten Freundes, welcher so freundlich war, mit uns über Serianoffsk zu fahren, während seine Gemahlin und Tochter den kürzeren Weg nach dem Irtisch zu nehmen beschlossen. Die Fahrt durch das Tal war reizend. {...} Wir fuhren in einem der schönsten Parke dahin, welche Mutter Natur ohne Zutun des Menschen gebildet, und das Auge ergötzte sich ebenso an den wechselvollen Bildern der Tiefe wie an denen der Höhe. Herrliche Bäume auf den Wiesen, köstliche, heute im Sonnenlichte gleichsam aufjauchzende Blumen dazwischen, Kuckuckruf und Vogelgesang aus allen Kehlen, kirgisische Auls in den breiteren Tälern am Fuß der Berge, weidende Herden auf den Gehängen, frisch erblühte Heiderosen, im vollsten Blütenschmuck prangende Gebüsche und Gestrüpp zu beiden Seiten des Weges: Das ungefähr waren die Eindrücke, welche sich unseren Sinnen einprägten. Es war, als ob das Gebirge uns wenigstens beim Scheiden seine volle Schönheit zeigen und mindestens freundlich entlassen wolle, nachdem es uns so viel gehindert im Genießen seiner Reize. Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir den Ort Medweka, zu deutsch Bärendorf, eine seit acht bis zehn Jahren bestehende, von den »Altgläubigen«, einer der unzähligen Sekten, errichtete Ansiedlung, welche freilich im grellsten Gegensatz zur Staniza stand. Dort Ordnung und Sauberkeit, regelmäßige Straßen und wohlgezimmerte und unterhaltene Häuser, im Dorfe der Bauern Liederlichkeit und Schmutz überall. Wenn nicht die Regierung, die Behörden sorgen, helfen, ordnen, befehlen, läßt der Bauer eben alles gehen, wie es will, und ob er im Schmutze verkomme. Dieser hier geradezu unergründliche Schmutz hinderte die guten Leute freilich nicht, in bunten Haufen zum Posthause zu kommen, um wenigstens für kurze Zeit im Anschauen der sicherlich vielbesprochenen Fremdlinge sich sättigen zu können. Es waren kräftige Männergestalten, welche wir sahen, und wohlgebildete Frauen, welche sich an uns herandrängten, obgleich sie bis über die Knöchel im Schmutz waten mußten, um bis zu unserem zeitweiligen Aufenthalte zu gelangen. Neugierig schauten sie uns an, über der Schaubegier selbst die dem weiblichen Geschlechte sonst überall eigene Zurückhaltung vergessend.

Und weiter ging die Fahrt in dem noch immer schönen Parke, bis die Bäume aufhörten und die kahlen Täler und Hügel erreicht wurden. Wohl waren auch sie überreich mit Blumen geschmückt, und namentlich eine herrliche blaue Blume, welche jedem unserer Gärten zur Zierde gereichen würde, fesselte das Auge, doch konnte diesem jetzt nur noch ein Rückblick auf die verlassenen Berge Genüge schaffen. Das Tal breitet sich zu einem Kessel aus, den früher unzweifelhaft die Gewässer eines Sees gefüllt haben mochten, denn weiter unten konnte man noch deutlich genug die Spuren des Durchbruches sehen, welcher dem abfließenden Wasser endlich gelungen war, nachdem es eine tiefe Rinne in die Schieferfelsen eingegraben. Etwa in der Mitte des Tales entspringt der Naryn als kleiner, langsam fließender, schmutziger Wiesenbach, fortan die Grenze zwischen den Gouvernements von Semipalatinsk und Tomsk' bildend. Ein großer Teil des Tales ist zu Feld umgewandelt worden, aber noch immer bietet es Raum genug für viele Hunderte von Menschen, für Dutzende von Dörfern. Die Hügel auf der Nordseite verflachen sich; der Höhenzug im Süden senkt sich jedoch nur sehr allmählich zur Tiefe herab und baut sich von hier wie eine Mauer auf, welche nur durch ein längeres Quertal unterbrochen wird. In ihm führt ein Sommerweg zur Höhe der Berge empor und überschreitet als einziger Paß, Tschurtschukasa genannt, dessen Rücken. Das Dorf Taloffka oder Weidendorf, ebenfalls von Altgläubigen gegründet und bewohnt, liegt bereits im Gouvernement Tomsk. Trotzdem drängten sich die Leute mit Bittschriften und Gesuchen an den Gouverneur, und es bedurfte erst längerer Auseinandersetzung, um ihnen begreiflich zu machen, daß dessen Herrschaft hier zu Ende sei. Ernstlich erzürnt aber wurden Poltoratzky, als ihm auf die Frage, ob sich die Bittenden denn bereits an ihre Behörde gewendet, die Antwort wurde, daß dies nicht geschehen sei, weil man dazu keine Zeit gehabt habe. Ein russischer Bauer, welcher vom Wert der Zeit keinen Begriff hat, und »keine Zeit« – lächerlich.

 

Im Bergwerk von Syrjanowsk

Der Weiterweg führte uns über grüne, reich mit blühenden Sträuchern und Blumen bedeckte Wiesen des Tales zwischen grünen Bergen und Hügeln dahin und teilweise über letztere, durch das Dorf Malanarimka, die letzte Kosakenstaniza, welche an unserer Straße lag, Solanoffka, Alexandroffka und Salowinoffka (Nachtigallendorf) nach Siranoffsk, woselbst wir abends um zehn Uhr bei strömendem Regen eintrafen und im Hause des ersten Bergbeamten, Herrn Alexander Nikolaewitsch Bastrigin, die gastlichste und liebenswürdigste Aufnahme fanden. Mehrere dieser Dörfer liegen weit, bis 35 Werst, voneinander, durch ziemlich hohe Berge getrennt, und die Straße windet sich mühsam an diesen empor, um sofort, nachdem die Höhe erreicht, wieder in die Tiefe eines Tales hinabzufallen. An den Gehängen der Berge leben noch Murmeltiere in ziemlicher Anzahl, obgleich die Gegend das Gepräge des Hochgebirges bereits verloren und durchaus das der Vorberge angenommen hat. Die fruchtbare Schwarzerde, welche hier die Höhe wie die Tiefe meterhoch überdeckt, ruft überall eine solche Fülle von Pflanzen ins Leben, daß man darüber die den Bergen mangelnden Hochbäume vollständig vergißt. Wie ein bunter Teppich breitet das Gelände sich vor den Blicken aus. Alle die bereits in der Steppe als dürftige Sträuchlein gesehenen Gestrüpppflanzen erstarken zu mehr als mannshohen Gebüschen und werden so üppig, daß man sie kaum wiedererkennt, überziehen die Gehänge in dichten Beständen, sich förmlich verfilzend, und verleihen ihnen gerade jetzt einen herrlichen Schmuck; alle nicht von ihnen eingenommenen Strecken sind Wiesen von unvergleichlicher Schönheit, gegenwärtig prangend in ihrem schönsten Kleide, und gerade in diesem Jahre infolge der vielen Regengüsse reicher als je.

Der 14. Juni wird durch die Besichtigung des Bergwerkes in Anspruch genommen. Die Anstalten stammen noch sämtlich aus alter Zeit; keine einzige Dampfmaschine ist in Tätigkeit, viele Pumpen werden noch durch Menschenhand, die Hebewerke noch durch Pferdekraft bewegt; das Pulver ist noch nicht durch andere Sprengstoffe verdrängt worden.

Wie man erzählt, fanden sibirische Jäger den erzführenden Gang auf und benutzten das zutage tretende Bleierz, um sich Kugeln aus demselben zu gießen. Seit 1791 ist das Bergwerk im Betrieb; im Jahre 1828 erbaute man mit Hilfe von zehntausend Menschen einen Kanal, welcher das zum Bewegender Gestänge nötige Wasser fünf Werst weit herbeiführt. Seitdem fördert man jährlich 750 000 Pud Erz im Durchschnitt. Das gewonnene Erz, welches durchschnittlich etwa 20 % Blei, 0,75 % Silber, in ihm 3 % Gold, in einzelnen Nestern aber zuweilen bis 7 % Silber in etwa zweitausend Pud Erz, auch etwas Kupfer enthält, wird vier- bis sechshundert Werst weit, bis Smeinogorsk und Barnaul, zur Hütte geschafft, wobei 10 % verlorengehen, und dort geschmolzen. Vom billigen Wasserwege auf dem Irtisch macht man keinen Gebrauch, angeblich weil an den Ufern dieses Flusses keine dem kaiserlichen Hause gehörige Wälder liegen; die am Irtisch neuerdings aufgefundenen Steinkohlen aber nutzt man ebensowenig, läßt vielmehr alles beim alten und beschränkt die nötigen Mittel mehr, als den Bergbeamten lieb und einem kräftigeren Betrieb förderlich ist.

In der Tiefe der Grube, noch mehr als fünfzig Meter unter der Oberfläche, fanden wir alle Hölzer mit Eis bedeckt und erfuhren auf Befragen, daß es im Winter in den oberen Stellen des Bergwerkes oft so stark gefriere, daß das Grubenwasser halb vereist zutage komme. Der Einfall der kalten Luft soll so kräftig sein, daß die in der Nähe der Schächte beschäftigten Arbeiter nicht selten sich die Glieder erfrieren. Zuweilen fällt der Wärmemesser buchstäblich bis auf vierzig Grad unter Null, letzteres auf der Erdoberfläche natürlich. Im Sommer dagegen steigt er bis auf 29 oder 30 Grad über Null. Die Strenge des Winters erschwert den Betrieb; doch werden gerade während der kalten Zeit die meisten Arbeiter – bis sechshundert, im Sommer nur vierhundert – beschäftigt. Ihre Löhnung ist gering, 50 bis höchstens 90 Kopeken täglich, für die kirgisischen Arbeiter noch weniger. Bergleute aber, welche auf eigene Rechnung arbeiten, können einen guten Verdienst gewinnen.

Mit dem Bergwerke ist eine Goldwäsche verbunden, in welcher man jährlich etwas mehr als vier Pud Gold gewinnt. Das in den gepochten Erzen enthaltene Blei schüttet man einstweilen auf Halden.

Bastrigin beschenkte uns mit mehreren Stücken schöner Erze, mich insbesondere auch mit einem Geweih des Maral.

 

Zum Irtisch

Am folgenden Tage, dem 15. Juni, nachmittags zwei Uhr, verließen wir den Ort, um den Irtisch zu erreichen. Auch heute zogen wir im Anfang wiederum durch ebenso fruchtbare Lande wie gestern. Das Gepräge der Landschaft war annähernd dasselbe wie früher, die Pflanzenwelt die gleiche. Von Tieren sahen wir wenig, von Säugetieren nur die Spuren des Blindmoll, von Vögeln große und kleine Würger, Dorndreher, welche wir, seitdem wir über das Gebirge gekommen, im Tale fanden, den schönen Ammer und die alltäglichen Arten. Später ändert sich die Pflanzenwelt einigermaßen. Das sogenannte Bärenkraut, kirgisisch Karasasur, steht in voller Blüte, und seine hohen, gelben Dolden verleihen den Gehängen einen so lebhaften gelben Schein, daß einzelne Strecken aussehen wie ein blühendes Rapsfeld. Mehr nach dem Irtisch zu tritt ein Zwiebelgewächs auf, welches einen hohen Stengel treibt, der zu beiden Seiten wie eine lange Flamme erscheint, so daß es aussieht, als wäre das Gelände mit Tausenden von bunten Lichtern geziert. Heideröschen oder Hagedorn, weiß, gelblich und rot blühend, fand sich in allen Tälern in Menge.

Man hatte für uns mitten im freien Feld Pferde gestellt, so daß wir, dreimal wechselnd, rasch vorwärts kamen. Nach fünfstündiger Fahrt sahen wir die Berge der linken Uferseite des Irtisch vor uns, kahl wie die übrigen, aber durch so viel Quertäler gefurcht, daß sie ein geripptes Ansehen erhalten und in der Abendbeleuchtung förmlich erleben in Licht und Schatten. Unmittelbar nach Sonnenuntergang gelangten wir nach Wergneia pristeli, dem oberen Hafen und der Verschiffungsstelle der Erze, welche von hier aus bis Uskmenegorsk auf dem Irtisch verfrachtet werden.

Die Frau Generalin war vor uns angelangt und hatte uns, zu meiner aufrichtigen Betrübnis, die einzige gute Herberge des kleinen Ortes überlassen, sich selbst mit einer viel schlechteren begnügend, war auch durch kein Mittel zu bewegen, mit uns zu tauschen. Das ist russische Artigkeit.

In einem kleinen, mit überdeckter Kajüte, richtiger einem lichten, bedeckten, zu beiden Seiten mit Vorhängen verschließbaren Sitzraum ausgerüsteten Boote traten wir am frühen Morgen des 16. Juni unsere Stromfahrt an. Drei andere Boote, größtenteils mit Erz gefüllt, übernahmen die beiden Wagen des Generals und unser Gepäck. Vor den Augen aller bewegungsfähigen Bewohner des Ortes stießen wir vom Land und wurden durch die starke Strömung und den Ruderschlag dreier Schiffsleute rasch flußabwärts getrieben.

Der Irtisch ist hier viel schmaler als oberhalb des Saisansees, weil fast überall durch dreißig bis zweihundert Meter hohe Berge eingeengt. Auf einer Seite fallen diese Berge mit steilen Felsenwänden mehr oder minder senkrecht zum Wasserspiegel ab, und die Strömung bricht sich rauschend am Fuße der Felsen, auf der anderen Seite pflegt das Ufer etwas niedriger zu sein. Dieser Unterschied bleibt im beständigen Wechsel von rechts und links auf der ganzen von uns zu durchfahrenden Strecke bestehen und erhöht den Reiz der Ufer. Vergleichen lassen sich diese mit keinem irgendeines von mir bisher gesehenen Stromes: Sie sind durchaus eigenartig. Der beständige Wechsel von Berg und Tal, von Hügeln und jäh abfallenden Felsen wänden, deren Gesteine in vielfach verschiedener, von der senkrechten bis zur waagerechten Linie abändernden Schichtung zutage treten, bringt bei jeder neuen Biegung des Strombettes neue Bilder vors Auge; die Enge des Tales läßt sie großartiger erscheinen, als sie sind, die Einsamkeit und Öde, welche nur an drei oder vier Stellen durch menschliche Ansiedlungen unterbrochen wird, verleiht ihnen eine ich möchte sagen trübselige Romantik, die nur äußerst selten vorkommende Lagerung der Schichten – Granit auf, nicht unter dem Schiefer –, welche an mehreren Stellen bemerkt wird, in den Augen des Kundigen ein ungewöhnliches Interesse.

Deutsame Namen, wie Hahn, Kastell, Bastion, geben die Vorstellungen wieder, welche einzelne von ihnen in den Augen der wenigen Besucher dieser Stromstrecke erwecken, kirgisische Sagen klammern sich an andere an und wissen zu berichten von Räubern und deren Schicksal, nachdem die tapferen Helden des Hirtenvolkes die Berge erstiegen und die Räuber bis auf deren Häuptling getötet, welcher aber, um dem Schwerte seiner Verfolger zu entgehen, von einer hohen Felsenzinne seiner letzten Zufluchtsstätte in den Strom sprang, in den rauschenden Wogen desselben sein Grab findend und dem Felsen seinen Namen vererbend. Unzählige Dohlen, Rötelfalken, die Masken- und die Gebirgsstelze, drei Schwalbenarten, unsere Rauchschwalbe, die Mehlschwalbe und die noch nicht an das Haus des Menschen gewöhnte hiesige Rötelschwalbe, brüten in den Spalten der Schichten, der hiesige Seeadler und der auch hier überall gegenwärtige Milan umschweben die Zinnen der Berge, auf deren Gehängen einer der Bäume ihren großen Horst trägt, und scheuen ein vorüberfahrendes Schiff ebensowenig wie die Dohlen und Schwalben; der Rosenstar« sammelt sich hier gegen Abend zu Tausenden, um beim scheidenden Strahl der Sonne noch ein wenig der Gesellschaft zu pflegen. Dann und wann öffnet sich auch ein Blick in die Ferne; durch ein längeres Quertal der vom Strom durchbrochenen Berge schaut man tiefer ins Land auf noch höhere, spärlich mit Birken und Lärchen bestandene Berge. Dann und wann, im ganzen aber nur wenige Male, verflacht das Ufer auch wohl so, daß ein russisches Bauernhaus eben Platz finden oder daß wenigstens eine Fischerhütte errichtet werden konnte. Doch das sind Ausnähmen; im großen und ganzen fließt der Strom von der Mündung der Buchtarma bis wenige Werst oberhalb Uskmenegorsk in dem an Breite und Ufergestaltung wenig sich verändernden Bette dahin.

Eine halbe Stunde nach unserer Abfahrt sehen wir am rechten Ufer des Stromes die jetzt abgerüstete Festung Buchtarminsk über das Ufer emporsteigen; bald darauf fahren wir an der Mündung des Flusses Buchtarma vorüber, welcher seine rasche Strömung dem Irtisch mitteilt und ihn aus dem stillen zum wilden Irtisch macht. Dann durcheilen wir, vorwärts getrieben von der raschen Strömung, das Felsental, dessen Wände den Strom zuweilen wie mit Mauern einengen und dem Schiffer Gefahr drohen, da große Steinmassen halb überhängend nur noch auf schwacher Unterlage ruhen und vielleicht schon vom nächsten Frühling aus ihrer Höhe hinabgestürzt werden. März- und Pfeifenten, Säger und Scharben sind die einzigen Vögel, welche den Wasserspiegel beleben und zuweilen zu einem Schuß reizen, obgleich sie in der Regel dem Schiffe scheu entfliehen, Austernfischer und Nebelkrähen außer den bereits genannten die einzigen, welche wir an den Ufern bemerken. Erst sieben Werst oberhalb Uskmenegorsk, da, wo der letzte hohe Berg das Tal abschließt und die Steinberge ihr Ende erreichen, gesellen sich ihnen noch Seeschwalben und Felsen tauben zu und drängen auch die gewöhnlichen Landvögel sich wieder bis an den Strom heran.

Im Erzhafen landen wir unser Boot angesichts einer großen, uns erwartenden Menschenmenge und fahren in bereitgehaltenen, mit raschen Pferden bespannten Wagen binnen weniger Minuten nach der nahen Stadt;

 

[Postkarte]

Uskmenegorsk, am 17. Juni 76

Mein teuerstes Weiberl!

Zu meinem großen Leidwesen habe ich dir seit dem 6. dieses, also seit 11 Tagen nicht schreiben können: Es war jedoch unmöglich, Dir einen Brief zukommen zu lassen, denn wir waren eben die meiste Zeit in China, und ich hatte von dort keine Gelegenheit, einen Brief an Dich abzusenden. Gesund und wohl bin ich immer gewesen; die Reise im Altai, welche Du binnen kurzem aus dem Tagebuche kennenlernen wirst, ist uns jedoch im buchstäblichen Sinne zu Wasser geworden: Es regnete oder schneite ununterbrochen. Für das Hochgebirge war es eben noch viel zu früh, obgleich dessen Blumenpracht gerade jetzt in vollster Blüte stand. Mit den Alpen kann sich der Altai in keiner Weise messen; schön aber ist er doch, und ich habe immerhin manches gesehen, welches der Aufzeichnung wohl wert ist. Deinen Brief vom 6. Mai, den 19., erhielt ich heute und habe mich von ganzem Herzen über die guten Nachrichten gefreut, auch darüber, daß Dich das Tagebuch fesselt. {...}

Viel tausend Grüße und Küsse Dir und den Kindern

von Deinem treuen Mann.

 

 

[Postkarte]

Seminogorsk, das ist Schlingenberg, am 19. Juni 76

Mein herzliebes Weiberl!

Da ich von hier aus wieder Gelegenheit habe, eine Karte abzusenden, schreibe ich Dir rasch einige Zeilen, Deinen lieben Brief vom 6. Mai beantwortend. Zunächst nimm den Ausdruck der herzlichsten Freude entgegen, daß es allen, zumal aber Dir, gut geht und daß Du Dich wieder wohl fühlst; denn das ist das größte Glück, welches Dir werden konnte. {...} Golz, Meier und Cabanis, auch Dr. Frenkel bitte ich bestens zu grüßen; an Mützel die Frage zu stellen, ob er nicht für die Gartenlaube einstweilen ein Bild des Argali nach dem Stück im Berliner Museum und dem von Frau Generalin Poltoratzky gesendeten Fotogramm der Arkat-Berge zeichnen will, damit es bis zu meiner Rückkehr geschnitten wird. {...} Die Berichte nach Bremen faßt ausschließlich Dr. Finsch ab, ebenso wie er ausschließlich Briefe von dort erhält, welche er als Privatbriefe behandelt. Will Lindemann einen Einblick ins Tagebuch haben, so kannst Du dies ja vermitteln. Du wirst das Buch aber kaum entbehren können und in der nächsten Zeit sehr viel zu schreiben bekommen, da die nächsten Sendungen umfangreicher sind als die früheren.

Viel tausend herzliche Grüße an die Kinder und die innigsten Küsse an Dich, meine alte Liebe,

von Deinem treuen Alten.

 

 

[Postkarte]

Barnaul, am 22. Juni 76

Mein teuerstes Weiberl!

Da morgen eine Post von hier abgeht, benutze ich die Gelegenheit, Dir wenigstens eine Karte zu schreiben. Das Tagebuch erhältst Du erst mit der nächsten Post, dann aber so viel, daß Du wahrscheinlich einige Wochen zu schreiben haben wirst, um fertig zu werden. In unmittelbarer Fortsetzung schicke ich Dir dann die Beschreibung der Kirgisen, an welcher ich wohl lange zu schreiben haben werde. Heute kann ich Dir wenig Neues melden. Wir sind gesund und wohl, auch der Graf wieder, welcher in den letzten Tagen etwas unwohl war, haben die Reise von Seminogorsk bis hierher in sehr kurzer Zeit zurückgelegt und gestern, nachdem wir von früh an zweihundert Werst oder 30 Meilen durchfahren, abends spät die Stadt erreicht. Hier werden wir nun wenigstens ein paar Tage bleiben, um unser Gepäck zu ordnen, neue Wäsche zu besorgen und andere Vorkehrungen für die Reise nach dem Ob zu treffen. Da jetzt die Post rascher geht und dieser Brief kaum länger als fünfundzwanzig Tage brauchen wird, um zu Dir zu gelangen, kannst Du mir nach Obdorsk, dem letzten Dorfe am Ob, schreiben, jedoch nur ein oder zwei Briefe, die übrigen wieder nach Moskau.

In Seminogorsk ehrte man mich noch sehr. Knaben, welche von meinem Dortsein gehört, brachten mir Kränze aus Vergißmeinnicht, und die Damen beschenkten mich mit einer Kette aus allen Steinarten, welche in der Umgegend gefunden werden. {...}

Viele tausend Grüße an die Kinder und Dich

von Deinem getreuen Alten.

 

 

[Postkarte]

Barnaul, am 25. Juni (sonntags) 1876

Mein teuerstes Weiberl!

Diesmal habe ich Dir nur wenige Zeilen zu schreiben. Wir befinden uns noch in Barnaul, weil Graf Waldburg sich den Magen verdorben hat und noch nicht gut reisen kann, auch alle Sammlungen eingepackt werden müssen. Während Finsch dies besorgt, schreibe ich am Tagebuche, um wenigstens einigermaßen vorwärtszukommen: Ich habe hier schon wieder so viel Nachrichten gesammelt und über die Kirgisen noch so wenig zu Papier gebracht, daß ich kaum hoffen darf, fertig zu werden. Einstweilen gehen 12 Bogen an Dich ab, enthaltend die Reise im Altai, in denen Du vielleicht einiges finden wirst, was Dich interessiert. Tagebuch 12 und 13 wirst Du dann bald nacheinander erhalten, da ich an beiden gleichzeitig arbeite, sintemal das erste nur die von mir über die Kirgisen gesammelten Nachrichten enthält.

Wir sind wohl und munter, bis auf den Grafen, dessen Unwohlsein übrigens nicht bedeutend, werden viel eingeladen und sehr geehrt, ruhen uns ein wenig von den Strapazen der Reise aus und gedenken frischen Mutes das nun noch fehlende letzte unangenehme Ende der Reise zu beginnen.

Viel tausend Grüße und Küsse den Kindern und zumal Dir

von Deinem getreuen Alten.

 

 

[Postkarte]

Barnaul, am 28. Juni 76

Mein teuerstes Weiberl!

Wir sind noch in Barnaul, jedoch im Begriff, heute hier abzureisen. Briefe, welche wir hier erwarteten, haben wir nicht gefunden. Wahrscheinlich aber kommen solche mit der nächsten Post an und werden uns dann nachgesandt. Wir sind auch hier sehr gut aufgenommen worden; namentlich ich bin sehr geehrt worden; auch hat man mich mit hübschen Sachen beschenkt, unter anderem mit einem Dutzend niedlichen, aus Quarz geschliffenen Salzfässern und Messerhaltern, welche Dir hoffentlich Freude machen werden.

Gestern war ich auf der Jagd und habe 28 Bekassinen erlegt. Die besten Jäger von Barnaul waren zugegen; das Essen natürlich wie immer hier in Sibirien ausgezeichnet. Das Wetter war sehr gut; denn wir haben jetzt vollen Sommer; allein die schreckliche Mückenplage hat begonnen oder ist bereits zu voller Stärke gelangt.

Ich arbeite jetzt fleißig an der Beschreibung der Kirgisen, komme aber nur langsam vorwärts, weil ich alles schon auszuarbeiten suche. Welche Mühe das Zusammentragen aller der in diesem Teil des Tagebuches enthaltenen Angaben macht, kannst Du Dir kaum denken. Auch hier habe ich viel über den Bergbau und die Lohnes- und Lebensverhältnisse der Bauern gesammelt und einmal vier Stunden nacheinander stenografiert, um die mir vom Berghauptmann gemachten Mitteilungen zu Papier zu bringen. Da ich nun alles zweimal zu schreiben habe, kannst Du Dir wohl denken, daß es mir geradezu unmöglich ist, auch noch Nebenarbeiten zu fertigen; es geht das eben nicht, denn ich bin auch nur ein Mensch, welcher schließlich auch einmal müde wird. Die Leute müssen sich also gedulden.

Gesund sind wir; auch das Unwohlsein des Grafen hat sich gänzlich gehoben.

Von Tomsk aus erhältst Du weitere Nachricht.

Für heute sei tausendmal gegrüßt und geküßt von

Deinem getreuen Alten.

 


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