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Wie leicht erklärlich, tritt auch die Tierwelt hier sehr zurück. Eilenden Fluges ziehen die Wasservögel über die Salzsteppe hinweg, von einer Lache zur anderen sich wendend. Nur die Lachmöwe und die Höhlenente (Anas tadorna) hält sich gern in den salzigen Seen auf, und für die Säbelschnäbler, welche wenigstens im Süden sich finden, bilden gerade die Salzseen die beliebtesten Aufenthaltsorte. Von den Landvögeln habe ich nur den Kiebitz, zwei Regenpfeifer (Charadrius minor und cantianus), die Schafstelze und dann und wann, kaum aber mehr als beim Durcheilen, das Flughuhn bemerkt.
Nach Sonnenuntergang gelangen wir an den Alakul, das heißt den bunten, scheckigen, gefleckten See, und übernachten in den für uns aufgeschlagenen Jurten neben der Furt Sassikul oder Kudji motti, zu deutsch Hüften-naß (weil die Kirgisen sich beim Durchreiten die Hüften nässen).
Am Vormittag zogen wir weiter, nachdem vorher die Kirgisen, welche uns mit ihren Pferden bis hierher gebracht, von uns Abschied genommen und vergeblich versucht hatten, ihre Pferde durch die Furt zu treiben. Obgleich ein nackter Reiter ihnen vorausgeht, brechen sie doch seitlich aus und suchen im Röhricht den ihnen in der Furt fehlenden Grund, hier ängstlich sich aufstellend. Große Mühe verursacht es ihren Treibern, sie wieder aufs feste Land zu bringen, und erst nachdem mehrere Kirgisen in der Tracht des Paradieses ihnen, unbekümmert um die schneidigen Blätter des Rohres, nachgeeilt, gelingt es, sie aus dem Röhricht herauszulocken. Zum Teil zu Fuß, zum Teil beritten dringen die Leute in das dichte Rohr ein; jeder sucht den anderen zu überschreien und stößt dabei ganz unnachahmliche Laute aus, welche zwischen einem Jauchzen und Brüllen ungefähr die Mitte halten und durch die Silben »jodj, jundj« etwa wiedergegeben werden mögen. Jedes deutsche Pferd würde unter ähnlichen Umständen als verloren angesehen werden können; die Pferde der Kirgisen, an ein freies Steppenleben mit all seinen Gefahren gewöhnt, wissen sich auch in solchen Nöten zu helfen.
Bei der Fahrt längs des Seeufers, während wir bald demselben uns nähern, bald wieder eine vorspringende Landzunge abschneiden, wird mir wenigstens der Name »bunter See« vollkommen verständlich, und die gesuchte Erklärung des Namens, welche Schrenk gegeben hat, verliert für mich alle Bedeutung. Bunter See heißt der Alakul mit Recht; denn bunt oder scheckig machen ihn die vielen Rohrfelder, welche mit freien Wasserflächen oder zeitweilig unter Wasser gewesenen, jetzt schlammigen Stellen fortwährend abwechseln. Daß auf solche Bezeichnung auch der Alatau, das »bunte Gebirge«, mit eingewirkt haben mag, soll nicht gänzlich in Abrede gestellt werden.
Unsere Jurten fanden wir auf einer etwa 8 bis 10 Meter über dem Seespiegel sich erhebenden Ebene. Der Platz ist reizend gewählt: Vor uns breitet sich der See, dessen jenseitigen Ufersaum man eben noch zu erkennen vermag. Im Westen wie im Osten treten zwei Inseln hervor; den Gesichtskreis schließt malerisch der Tarabagatai ab. {...}
Ohne diese Bergkette und die Inseln würde der See außer seiner großen Wasserfläche und seinen Rohrwäldern nichts für das Auge bieten, während er mit den Erhebungen im Verein das schönste Landschaftsbild darstellt, welches wir bis jetzt erschaut haben.
Unser Lager befindet sich über einem steil abstürzenden Ufer; der Saum von Rohr, welcher überall den See begrenzt, ist daher verhältnismäßig schmal, wogegen sich, allerseits da, wo das Ufer sich verflacht oder die Salzsteppe bis an den See herantritt, ununterbrochen Rohrwaldungen ausdehnen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil derselben ist schon jetzt trockengelegt, der übrige kaum meterhoch mit Wasser bedeckt. Diese Waldungen, denn solche sind es, springen bald weit in den See vor, Halbinseln und Landzungen bildend, oder treten auch wiederum bis weit hinter die Ufer zurück, Wasserlachen und versumpfte Stellen in sich einschließend. Dazwischen liegen wasserreiche Ebenen, in denen sich wiederum kleine, stark salzhaltige Seen befinden, deren Ufer gänzlich pflanzenlos sind. Hier und da gibt es jedoch von ihnen umschlossene, wasserreiche Flächen, welche nur durch ihr einzeln hervorsprossendes Rohr und scharfschneidiges Riedgras ihren Sumpfcharakter zeigen. Jedenfalls dürfen die Rohrwaldungen als für diesen See bezeichnend angesehen werden. Sie sind es, welche die Ufer gestalten und ihm ein sehr zackiges, zerrissenes Ansehen geben.
Von der anderen Seite aus gesehen wird der Alatau dem ganzen Bild in ähnlicher Weise zum Abschluß dienen, wie von der unsrigen her betrachtet der Tarabagatai. Auch von unserem Ufer aus überblickt man einen großen Teil dieses weit mächtigeren Gebirges, welches sich, falls das Auge nicht täuscht, von jenem durch seine vielfach verzweigten Ketten und die ausgeprägten Vorberge unterscheidet. In blauem Dufte liegen diese Vorberge vor unserem Auge, und von ihnen stechen scharf ab die schneeigen Gipfel der Hochkette, welche, dem Anschein nach zu urteilen, viel wechselreicher sein müssen als der Tarabagatai. Zahllose Gipfel treten scharf hervor, und zwischen ihnen tiefen sich steil abfallende Täler ein, welche zum blendenden Licht der Gipfel dunkle Schatten geben. Daher trägt auch der Alatau das Gepräge der Alpen an sich; denn diesen, aus weiter Ferne gesehen, ähnelt er sehr. Bei verhüllter Sonne treten die Gegensätze zwischen den Hoch- und den Vorbergen so scharf hervor, daß man dieses Gebirge mit vollstem Recht reizvoll nennen darf.
Wie von vornherein anzunehmen, sammelt sich die tierische Bevölkerung der Steppe an solchen Seen. Tausende von Sumpf- und Wasservögeln siedeln sich hier an, Tausende von kleinen Sängern nehmen hier ebenfalls Wohnung, und nicht allein die Fische, sondern auch die übrigen Räuber finden demgemäß ihre Nahrung. Jedoch lassen sich diese Seen, falls der Alakul als Maßstab für sie gelten kann, weder mit den Strandseen Ägyptens noch mit den Strömen und deren Ausbuchtungen und mit ihnen im Zusammenhang stehenden Wasserbecken, noch mit den Brutansiedelungen des hohen Nordens vergleichen. Im Verhältnis zur Größe des Sees, in Berücksichtigung seines Fischreichtums, kann man den Alakul nicht reich an Vögeln nennen. Die befiederte Bewohnerschaft desselben beschränkt sich hauptsächlich auf die Rohrwälder und betreibt von ihnen aus Jagd und Fang. Freilich bilden diese Rohrbestände auch den einzigen geeigneten Aufenthalt für die Tierwelt. Alles lebt hier im Rohre: Der Wolf wie das Wildschwein, dessen Spuren wir häufig finden, die Schreiadler wie der Rabe, die Drossel wie die Grasmücke, der Sperling wie der Fettammer, die Wildgans wie die Sumpfschnepfe, der Kiebitz wie die meisten Enten, der Laubsänger wie die Blaukehlchen, der Würger wie das Kohlvögelchen, der Rötel- oder Rotfußfalk wie der Weih, der Star wie die Wachtel, die Schafstelze wie der Eisvogel, der Rosenstar wie der Schwan. Die Rohrwaldungen sind ihre wahren und eigentlichen Aufenthaltsorte und Zufluchtsstätten: Sie bilden den Wald, welcher die Brutplätze und Erziehungsstätten für die Jungen versteckt.
Das Bild der Vogelwelt – denn von Säugetieren haben wir nichts gesehen –, so wie es in den wenigen Tagen unseres Aufenthaltes am See mir sich entfaltete, ist etwa folgendes: Wenn man vom Land aus dem See sich nähert, verschwinden zuerst die Lerchen, und der kleine Fluß-Regenpfeifer tritt an ihre Stelle, mit der Emsigkeit seines Geschlechtes auf und ab rennend und seinen wohllautenden Ruf ausstoßend. Noch bevor man an das Röhricht gelangt, wird die Lachmöwe sichtbar, hier, wie überall in den bis jetzt von uns durchzogenen Gebieten, die häufigste Art ihrer Familie. Zumal in der Frühe des Morgens oder gegen Abend, noch bis nach Sonnenuntergang treibt sie sich fliegend umher, wogegen sie die Mittagsstunden ruhend zu verbringen pflegt, mit Vorliebe jene freien Salzlachen erwählend, deren buschlose Ufer ihr eine weite Fernsicht gestatten. Dieselben Örtlichkeiten teilt mit ihr die große Fischermöwe (Larus ichtyaetos), welche, jedoch in viel geringerer Anzahl, ebenfalls an dem See brütet, nach meinen Beobachtungen in einem Verhältnis von höchstens 8 zu 100 vorkommend. Fast gleichzeitig mit den Möwen bemerkt man auch wohl schon ein Pärchen Graugänse, vom Wasser und zur Weide fliegend oder von hier aus zum See zurückkehrend. Im Verhältnis zu der wirklich vorhandenen Anzahl dieser Gänse sieht man übrigens wenige, denn sie führen jetzt ihre bereits dem Ei entschlüpften Jungen, besuchen mit ihnen stille Uferbuchten und halten sich mit der allen Gänsen eigenen Elterntreue zu den Kleinen. Als ich das Männchen eines Paares erlegte, erhob sich das Weibchen zwar schreckerfüllt, fiel aber sogleich wieder aufs Wasser nieder, eifrig nach der Mitte des Sees rudernd, um die Jungen so schnell als möglich der Gefahr zu entziehen. Gleich häufig wie die Gänse, in unmittelbarer Nähe der den See umgebenden Sümpfe, ebenfalls in weit größerer Anzahl, gewahrt man die verschiedenen Enten, welche am See brüten: Knäk-, Tafel-, Schnatter-, Höhlen- und Fuchsente. Gelangt man an einen der Vorsümpfe, so nimmt man zuerst wohl den Stelzenläufer wahr, er bevölkert paarweise derartige Stellen und lebt hier in Gemeinschaft mit Strand- und Uferläufern (Tringasubarquata, Totanus ochropus und calidris), dem Kiebitz, der großen und kleinen Bekassine, und den verschiedenen Enten, Möwen und Seeschwalben, welche hier sich einstellen. In den von Rohr umgebenen Buchten hält sich auch die selbst hier recht seltene Kolbenente (Anas rufina) auf, paarweise unter ihrer Verwandtschaft lebend und durch ihr absonderliches Geschrei sich verratend. Diesem Geschrei geht ein schmetternder Ruf voraus, welcher etwa wie »tretere tairr«, klingt, worauf ein heiseres, mit Buchstaben kaum auszudrückendes Kreischen folgt, dem sich das entenartige »gak, gak« anschließt, das ganze Geschrei beendend. Beim Fluge zeigen sich die weißen Ränder der Schwingen sehr deutlich und lassen die Ente von anderen unterscheiden. Sie ist wenig scheu, wird es aber durch andere, deren Auffliegen auch sie folgt. Daß bis hierher auch die Wasser- und Strandläufer kommen, braucht nicht erwähnt zu werden. Der Kampfläufer, jetzt in seinem schönsten Schmuck, findet auch an den Ufern dieser Buchten noch ein Plätzchen zum Kämpfen, der Rotschenkel vielleicht die am meisten geeigneten Niststellen; denn gerade hier sieht man ihn die Spiele der Liebe treiben: Unter beständigem Rufen sich erheben, hoch aufsteigen, sodann wieder sich senken, bis tief hinunter gegen den Boden hin, hierauf mit lang herabhängenden Flügeln nach vorn und unten fliegen, um sich bald wieder in die frühere Höhe zu erheben und es zu treiben wie vorher. Gelangt man endlich an das Rohr, so macht sich auch das kleine Geflügel dem Auge bemerklich. Von den größeren Vögeln, welche im Rohre leben, sieht man im ganzen wenig: Den hier brütenden Kranich, den großen Silberreiher oder seinen grauen Verwandten, den Löffelreiher, welcher übrigens selten vorzukommen scheint, dann und wann auch wohl ein Schreiadler unter dem sehr häufigen Rohrweih, Wiesenweih und Milan – das ungefähr sind die Erscheinungen, welche man wahrnimmt. Aus der Tiefe des Rohres tönt das dumpfe Brummen der Rohrdommel hervor, welche jetzt, zur Paarungszeit, auch am Tage sich hören läßt; außerdem vernimmt man ein mir unbekanntes Tier, wahrscheinlich eine Ralle, welche ihr eintöniges Geschrei mit unermüdlicher Ausdauer ausstößt. Allein das Rohr beherbergt weit mehr Vögel: Die ganze kleine Welt ist hier seßhaft geworden. Am Rande der Rohrwälder lebt ungemein häufig die Schafstelze (Budytes borealis) (und zwar mit Augenstreifen und ohne dieselben), der Fettammer, selbst der gemeine Hausspatz neben der Wachtel, welche auch keinen besseren Wohnsitz zu finden wußte; am Saum der Felder, freie Aussicht erstrebend, sitzt der gemeine Dorndreher und sein Verwandter, der rotschwänzige Würger (Lanius phoenicurus), auch wohl der Kuckuck, obgleich dieser nicht an das Röhricht sich bindet. Hier ziert die Spitzen der Stengel das allerliebste Kohlvögelchen (Pratincol rubetra), bis hierher kommen die schwarzkehlige Drossel und der Laubsänger oder der Gartensänger, selbst der Rohrammer, die Bartmeise und der ungemein häufige große Rohrsänger, welche sämtlich eigentlich mehr in der Tiefe des Röhrichts wohnen. Auf allen freien Stellen im Rohre sieht man gewiß ein Wasserhuhn und mehrere Entenarten, vielleicht auch schon einen Steißfuß, obgleich die beiden von uns gesehenen Arten, Podiceps cristatus und auritus [Hauben- und Ohrentaucher] nur hierher sich verirren, da ihr Gebiet der offene See ist. Gegen Sonnenuntergang fällt mit dem Star auch sein rosenfarbiger Verwandter, welcher in der Umgegend des Sees recht häufig auftritt, in das Röhricht ein, und gleichzeitig erscheinen Kolkrabe und Nebelkrähe, Rötel- und Rotfußfalk, um hier den Ort ihrer Nachtruhe zu suchen. Selbst die Scharbe, welche nicht selten sein kann, findet sich dann und wann im Rohre ein, in welchem vielleicht sogar ihr Nest steht, und auch der Singschwan scheint es nicht zu meiden, seine Nähe mindestens nicht zu scheuen.
Der Spiegel des Sees ist leer von Vögeln; es sei denn, daß einzelne Pelikane sich zeigen oder eine Scharbenherde sich bemerklich macht. Nenne ich außer den aufgeführten noch die Bruchschwalbe, welche eilenden Fluges vorüberschwebend dann und wann sich zeigt, die Rauch- und die Hausschwalbe, welche in den verfallenen Gräbern der Kirgisen, und die Uferschwalbe, welche massenhaft im hohen Uferrande nistet, die Blaurake, welche zuweilen sich sehen läßt: So habe ich alle von uns am See beobachteten Vögel aufgezählt.
Unser Lagerleben am See ist ein sehr gemütliches; denn die Jurte ist das reizendste Zelt und die bequemste Wohnung für einen Naturforscher, welche es geben kann. Man ist besser als in jedem anderen Zelt geschützt gegen die Unbilden des Winters und hat im Inneren nicht allein viel Platz, sondern auch hundertfach Gelegenheit, allerlei Sachen und Sächelchen aufzuhängen; die Teppiche auf dem Boden, und wären es auch nur Filzdecken, machen das Innere wohnlich, und die bewegliche Decke oben gestattet soviel Licht, als man braucht oder haben will, hereinzulassen.
Das Bild des Lagers ist ein sehr bewegtes. Vor uns liegt der See, hinter uns die Steppe in ihrer anmutigsten Gestalt, jetzt einem wahren Garten gleichend im vollen Blumen- und Blütenschmuck; zwischen den Jurten weiden die Pferde und Kamele, welche uns bis hierher gebracht und weiter bringen sollen, auch einige Schafe, über deren Haupt das Todeslos schon geworfen wurde; zwischen den Tieren treiben sich die Kirgisen und Kosaken umher, die, ohne es zu wollen, malerische Gruppen bilden. Einige Milane schweben, Bettlergelüste hegend, über dem Lager, Raben und Krähen lungern umher, und ein starker Flug Rosenstare findet sich von Zeit zu Zeit ein, angelockt durch das Vieh. Sie sind allerliebste Vögel, diese Rosenstare, sie betragen sich im wesentlichen ganz wie ihre Verwandten, unsere beliebten Herdenfreunde, laufen nickenden Ganges auf dem Boden umher, alles durchspähend, alles untersuchend, fliegen auch ganz ähnlich wie die Stare, einer über den anderen wegstreichend und dadurch ein lebendiges Bild gewährend, nur daß ihre Schwärme nicht so dicht geschlossen sind und die Bewegung selbst nicht so stürmisch ist wie bei jenen. Das Rosenrot macht sich übrigens beim Fliegen wenig bemerklich: Es erscheint eher schmutzig fahlweiß als rosenrot.
Nur einen Übelstand hat unser Lager: die Mücken. Sie sind bereits zum Leben erwacht, schwärmen nahe am See zu Millionen und kommen einzeln auch bis zu uns herauf und begleiten diejenigen, die am See waren, in dichtem Fluge, wie blutdürstige Bremsen die Pferde. Und doch ist die Plage erst im Beginn und mit dem, was der Sommer bringt, nicht zu vergleichen.
Unsere Kirgisen und Kosaken werden in Bewegung gesetzt, um für uns zu sammeln, sie gehen zur Jagd auf allerlei Kerb- und Kriechtiere aus. Vor Käfern und Schmetterlingen fürchten sie sich nicht, eine unschuldige Eidechse aber flößt ihnen das höchste Bedenken ein und wird nur mit äußerster Vorsicht gefaßt, mit dem lang über die Hand fallenden Ärmel oder mit der dicken Pelzmütze nämlich. Um am See zu fischen, wird ein aus einem Baumstämme gehauenes Boot instand gesetzt, die übrigens recht ergiebige Fischerei jedoch so betrieben, daß die ganze Mannschaft sich nackend auszieht und in den flachen See das Netz schleppt. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich der große Unterschied der Hautfärbung bei Kosaken und Kirgisen sehr deutlich: Erstere sind weiß, letztere gelbweiß, bräunlichgelb; das gebräunte Antlitz und die übrigen von der Sonne verbrannten Teile der Haut sind bei den Kosaken immer noch fleischrot, wogegen dies bei den Kirgisen kaum oder nicht zur Geltung kommt.
Der uns hier begleitende fromme Abin Dairoff betet regelmäßig seine fünf Gebete und trägt dadurch nicht wenig dazu bei, dem Lagerbild eine morgenländische Färbung zu geben.
Wir verließen unser Lager am See gegen drei Uhr nachmittags am 11. Mai und fuhren den vor uns liegenden Saiganbergen zu durch die bunte Steppe, welche schon etwas vom Gepräge der Hochsteppe an sich trägt. Sie ist jetzt, im Frühling, bunt wie ein Teppich, in welchem alle Schattierungen vom Dunkelgrün bis zum lebendigen Gelb vors Auge treten. Das vorherrschende Graugrün, welches durch die ungemein würzigen Hauptpflanzen, vor allem die Schafgarbe, hervorgebracht wird, erhält durch mehrere hervorstechende Gewächse hellere und dunklere Töne. Mehrere Gestrüpparten, von denen jetzt einzelne in voller Blüte stehen, treten als kleinere oder größere Flecke hervor. Als die wichtigste derselben mag der Koklük der Kirgisen, Bieli, das heißt weißer Karagan der Russen, bezeichnet werden. Er wird von allen Tieren gefressen, dient als vorzüglichstes Feuerungsmaterial und bildet, obgleich seine kleinen Blätter jetzt grün sind, dunkle Stellen zwischen dem Grau der Schafgarbe. Eine zweite Gestrüppart, kirgisisch Bai jalisch, von sehr struppiger Beschaffenheit, kommt in einzelnen, zuweilen in Gruppen stehenden, niedrigen Gebüschen vor und hat ungefähr die Färbung des Karagan. Die Schafgarbe bildet einzelne, aber stets in Gesellschaft stehende, auf weithin die Färbung bedingende graugrüne Büschchen. Alle lebhafteren Töne werden durch Kräuter hervorgebracht. Deren sind es namentlich drei Arten, welche überall in der Hochsteppe sich bemerklich machen: 1. Aksasür, das heißt Weißer Sasür der Kirgisen, bildet niedrige Stauden mit sechs bis zehn Stempeln und winklig sich zerteilenden Zweigen, sehr kleinen, paarweise einander gegenüberstehenden gelappten und gezackten Blättern und einer möhrenartigen Wurzel, wird von allen Tieren gefressen und tritt als dunkelgrüne Flecken in der Steppe hervor. 2. Karasasür, das heißt Schwarzer Sasür, Möhrenkraut der Russen, bildet dichtstehende Inseln und verleiht der Steppe einen großen Schmuck. Aber das Leben dieses Krautes währt nicht lange, im Verwelken gleicht es dem Schukur, wahrscheinlich dem wilden Rhabarber, dessen zwei breite Blätter sich dicht auf den Boden legen und nur bei vielem Regen sich so lange halten, bis die dickbuschige Blüte sich entwickelt, in der Regel aber, kaum ergrünt, schon dahingewelkt sind. Der Schwarzsasür verfällt meist demselben Lose, noch ehe er sich ordentlich entfaltet, und nur seine unverhältnismäßig großen Wurzeln, denen unserer Rüben vergleichbar, schützen ihn vor dem Vergehen. So schwindet der hellgrüne Schein eigentlich niemals aus der Steppe, allein dieses Gelbgrün ist von dem, welches die verdorrten Halme hervorrufen, wesentlich verschieden; denn die einzelnen Pflanzen sind zu groß, als daß sie nicht auch an und für sich zur Geltung gelangen sollten. Sie sind es, welche der Steppe die hellen Lichter einsticken und ihr das Ansehen eines Teppichs verleihen. Aus weiterer Ferne gesehen einigen sich freilich alle die einzelnen Farben zu einem fast gleichmäßigen Graugrün; in der Nähe aber kommt jede einzelne zu Gesicht. Dazu treten nun die unzähligen Blumen, welche jetzt verblüht sind und überall wenigstens einzeln, an allen niedrig gelegenen, feuchteren Stellen aber gruppenweise zusammenstehen, im Schatten der Gestrüppflanzen zu voller Pracht sich entwickeln und die ganze Steppe zu einem wahren Blumengarten stempeln. Namentlich Wickenarten und Zwiebelgewächse sind es, welche die Steppe hervorbringt, zumal die letzteren in einer Mannigfaltigkeit, daß man immer und immer wieder in Erstaunen versetzt wird. Wir begegnen vielen guten Bekannten aus unseren Ziergärten, aber auch sehr vielen Pflanzen, welche wir unseren Gärten wünschen möchten. Ein tüchtiger Gärtner würde hier eine ungemein reiche Ausbeute gewinnen und den Blumenschmuck unserer Gärten wesentlich vermehren.
Als Küchengewächse findet sich hier im wilden Zustande zum Beispiel unsere Zwiebel vor, und nicht sie allein, sondern verschiedene Arten, welche sämtlich gegessen werden können. Die Kosaken unterscheiden hauptsächlich drei Arten: die gemeine Zwiebel, den Knoblauch und eine andere Art, Saramsik genannt, welche sämtlich zur Würze der Speisen dienen und die auf den einsamen Ansiedelungen wohnenden Leute vor der Zahnfäule (Skorbut) bewahren oder von ihr befreien. Wahrscheinlich entstammt unsere Zwiebel gerade diesen Gegenden und ist von hier aus nach und nach verbreitet worden.
Es ist ein heißer Tag heute, die Luft schwül, der Himmel mit Gewitterwolken umzogen, welche jedoch nicht zur Entladung gelangen. In den lehmigen Boden hat sich der Weg tief eingedrückt; entsetzlicher Staub wirbelt hinter dem Wagen auf und hüllt Roß und Mann in eine dichte Wolke, zieht auch wie eine lang auf dem Boden sich fortwälzende Rauchsäule hinter den rollenden Rädern daher. So weit das Auge reicht, sieht man vom Vorhandensein des Menschen keine weiteren Spuren als die auf allen Erhebungen angelegten Gräber und Grabmäler, in Gestalt und Ansehen ganz den »Turab« oder »Khubbet« der Sudaner ähnelnd. Die Gegend ist zu wasserarm oder das vorhandene Wasser zu wenig trinkbar, als daß der wandernde Hirte zu einer anderen Zeit als im Winter, wo der geschmolzene Schnee Menschen und Vieh zur Tränke werden muß, sich hier aufhalten könnte. Wir fahren in ziemlich gerader Richtung, nur einzelnen Wasserlachen und einem kleinen Salzsee in weitem Bogen ausweichend, immer auf die Saiganberge zu. Eine einzelne Trappe zeigt sich in weiter Ferne, außer ihr bemerkt man, abgesehen von den alle Wasserlachen bevölkernden Sumpf- und Wasservögeln, nur Lerchen in der Steppe, diese aber in mindestens vier Arten (Al. arvensis, calandra, brachydactyla und pispoletta) [Feld-, Kalander-, Kurzzehen- und Stummellerche]; denn für sie ist die Steppe das einzige Wohngebiet. Sie verleihen ihr Sang und Klang. Ein Paar einer Art wohnt und lebt dicht neben der anderen, ihr Gesang erfüllt jetzt zu jeder Tageszeit die Luft; eine von ihnen sieht man stets am Himmel schweben, und sei es auch nur, daß der vorüberfahrende Wagen sie aufgescheucht und zu kurzem Sangfluge begeisterte. Schwer ist es, die einzelnen Arten am Gesang zu erkennen; denn hier, wo so viele Arten dasselbe Gebiet bewohnen, hat eine von der anderen gelernt und angenommen, so daß aller Gesang, soviel ich beurteilen kann, ein Mischmasch ist, aber doch tut dieser Gesang der Seele wohl und bietet neuen Reiz. {...}
Am 12. Mai erreichen wir gegen Sonnenuntergang die Stadt oder richtiger die »Staniza«, das heißt Kosakenniederlassung, Lepsa. Wir nehmen im Hause eines reich gewordenen, jedoch sehr freundlichen Kaufmannes Wohnung, wurden von ihm auch sehr liebenswürdig aufgenommen und entließen unsere Kosaken, nicht die allein, welche uns auf der Reise begleitet, sondern auch die, welche uns eine gute Strecke weit entgegengekommen waren, um uns das Ehrengeleite zur Stadt zu geben. Neugieriges Volk in Menge steht vor dem Haus, welches uns aufnahm.
[Postkarte]
Lepsa, am 16. Mai 76
Mein herzliebes Weiberl!
Nachträglich habe ich noch ersehen, daß unser Hochzeitstag an dem Tag war, an welchem ich Dir meine letzte Karte schrieb, am Sonntage nämlich. Ich habe noch an diesem Tage im stillen auf Dein Wohl getrunken, einen Wein, so gut wir ihn hier haben können. Welche Gefühle mich beseelten, habe ich Dir bereits geschrieben.
Heute nun wollen wir von hier abreisen, und zwar nach Bagdi, von wo aus wir einen kleinen Ausflug über die chinesische Grenze zu machen gedenken. Von dort aus wenden wir uns wieder nördlich und gelangen dann zeitweilig auch in Gegenden, in denen tagtäglich eine Post läuft. {...} Unsere Reise aber ist ja keine Reise, sondern eine Hetzjagd, bei welcher man immer und immer wieder bedauern muß, nicht mehr Zeit auf diese ebenso schönen als interessanten Gegenden verwenden zu können.
Ich kann außer Dir niemand schreiben; denn ich habe so viel mit meinem Tagebuch zu tun, daß ich auch da in Rückstand gekommen bin. Sei so gut, dies der Mutter und den Freunden zu sagen, und teile ersterer von Zeit zu Zeit etwas mit. Auch an Cabanis konnte ich noch nicht schreiben. Ich habe dazu buchstäblich keine Zeit. Oft finden wir auch tagelang keinen Tisch und können nur mit Bleistift schreiben.
Viele tausend Grüße und die allerherzlichsten Küsse den Kindern und Dir mein geliebtes Weib
von Deinem getreuen Alten.
Über die Staniza – der Ort Lepsa hat nur den Rang eines Dorfes – ist wenig zu sagen, oder was vielleicht richtiger, wir haben wenig in Erfahrung gebracht. Die Niederlassung wurde erst im Jahre 1853 gegründet, daher auch regelmäßig angelegt. Die Wohnung unseres bisherigen Begleiters, des Kreishauptmanns Friedrichs, die Kreiskasse, die Kaserne des regulären Militärs und das Haus eines Kaufmannes sind aus Stein gebaut, alle übrigen Häuser Holzbaracken, von denen schon viele im Verfall sind. Aus Holz besteht auch das kleine Kirchlein, recht hübsch auf einem freien, mit Bäumen bepflanzten Platz mitten in der Ortschaft gelegen. Die breiten Straßen, welche sich meist im rechten Winkel durchschneiden, gewinnen durch die vielen Bäume vor den Häusern ungemein, und es ist nur zu bedauern, daß man noch keine Versuche gemacht hat, anstatt der Birken, Espen und Faulbäume, welche man zum Schmuck der Häuser verwendet, auch Obst anzupflanzen. Der Ort hat eine Schule für Knaben und Mädchen, ein ziemlich gutes Lazarett, eine Apotheke und einen recht unbedeutenden Basar, auf welchem man aber doch noch viel mehr findet, als die ganz unansehnlichen Buden vermuten lassen. Lepsa wird fast ausschließlich von Kosaken bewohnt, abgesehen natürlich von den Familien der Beamten des Kreises und der verheirateten Soldaten. Zwischen dieser Bevölkerung leben auch einige Tataren, nicht aber Kirgisen. Nach Angabe des Kreishauptmanns beträgt die Anzahl der Bewohner 1700; zeitweilig steht eine Batterie hier. {...}
Der große Wasserreichtum der Umgebung mußte selbst die nicht für den Feldbau begeisterten Kosaken anspornen, Getreidebau zu treiben. Man findet schon jetzt in der Umgegend von Lepsa viele Felder angelegt, die meisten an den Gehängen der Berge und da, wo sie von Flüssen aus bewässert werden können, wenige dagegen in der Niederung, welche allem Anschein nach sich vortrefflich hierzu eignen würde. Man sagt schwerlich zuviel, wenn man behauptet, daß hier hundertmal mehr Land, Feld und Garten sein könnte, als gegenwärtig unter Pflug und Egge oder Spaten steht, wollte man nur arbeiten, um dem Boden seine reichen Schätze abzugewinnen. Zur einzigen Entschuldigung der Kosaken mag dienen, daß sie solchen Reichtum zur Zeit noch nicht zu verwenden wissen; denn der Feldbau, so wie er jetzt besteht, deckt den Bedarf, auch den einer in der Nähe befindlichen Branntweinbrennerei, reichlich, und eine lohnende Ausfuhr ist, jetzt wenigstens, kaum möglich. Lepsa ist ein kleines Paradies, in welchem der Mensch, der sich nur ein wenig anstrengen will, die Sorgen anderer Sterblicher kaum kennenlernt; ein Paradies nicht allein für das Auge, sondern ein solches in der Tat und Wahrheit; denn auch die heutzutage noch herrschenden Zustände sind paradiesischer Art. Wer Land wünscht, um es zum Feldbau zu benutzen, braucht dieses der Verwaltung des Kreises nur mitzuteilen, er erhält dann für sich und seine Familie 12 bis 15 Tissetinen oder Hektar der köstlichsten Schwarzerde zu freiem Eigentum, ohne dafür irgendwelche Zahlung zu leisten. Einstweilen machen die Kosaken noch wenig Gebrauch von dieser Vergünstigung, sondern fahren nach eigenem Ermessen und Belieben in die Berge, suchen sich eine ihnen geeignet erscheinende Stelle aus und pflügen und säen unbekümmert um Kreisverwaltung oder Kirgisen, denen sie oft die besten Weiden wegnehmen. Tritt nicht besonders anhaltende Dürre ein oder überfallen die bösen Heuschrecken nicht die neue Pflanzung, so bringt diese reichen Segen. Dicht standen die noch unverbrannten Steppengräser und Unkrautpflanzen, üppig die erst vor wenig Tagen dem Boden entkeimten Saaten auf den Feldern, welche wir gesehen; denn der Boden bringt alles überreif hervor.
Vielleicht bedeutsamer als der Feldbau ist die Bienenzucht, welche man hier betreibt. Die hiesigen Bienen sind die Nachkommen wilder, welche man einfing und zähmte. Der von ihnen gewonnene Honig zeichnet sich durch besondere Güte aus. Wieviel man erzielt, vermochte ich nicht zu erfahren, wohl aber so viel, daß einzelne Bienenväter bis zweitausend Stöcke pflegen. Die Bienengärten befinden sich sämtlich in den Vorbergen, und die Stöcke werden nicht, wie bei uns in den Alpen, von Zeit zu Zeit wieder herauf ins Gebirge geschafft, bleiben vielmehr jahraus, jahrein an Ort und Stelle. {...}
Am 15. wurde ein Ausflug nach dem Djasükal, zu deutsch »grüner See«, unternommen. {...}
Nach kurzer Fahrt begannen wir an einer Bergwand aufzusteigen und lernten dabei einen neuen Teil des Paradieses von Lepsa kennen. Wir ritten in einem wahren Garten dahin. Üppige Gräser und allerlei Kraut deckte die nicht mit Bäumen bestandenen Abhänge; Tausende von Blumen leuchteten überall daraus hervor: Wilde Apfelbäume, jetzt in voller Blütenpracht stehend, erheben sich mit Birken, Schwarzpappeln und Espen aus dem Dickicht, welches die hier zu Gebüschen erstarkten Gestrüppe bildeten. Mit Erstaunen erfuhren wir, daß diese Apfelbäume nicht bloß kleine und schlechte, sondern auch große und gute Früchte liefern. Die eine Art freilich bringt nur kleine und saure, die andere aber große und ungemein süße Äpfel hervor, welche recht gern gegessen werden. Es bedürfte also nur geringer Nachhilfe des Menschen, um hier Obst zu ziehen. Alle diese Baumgruppen wechseln mit herrlichsten Wiesen ab, den frischgrünen Matten der Schweiz vergleichbar. Frischer Gesang schallte uns entgegen: Grasmücken und Gartensänger ließen sich vernehmen, und die liebliche Lasurmeise hatte hier ihre Herberge aufgeschlagen: Sie war sehr häufig und belebte die Wäldchen oder Haine in anmutigster Weise.
In der halben Höhe, welche wir zu ersteigen hatten, ruhten wir in einem russischen Bauernhause und setzten von hier aus insgesamt unseren Weg zu Pferde fort. Einem kleinen Gebirgsbache folgend, gelangten wir in ein Alpental, denen der Schweiz oder Steiermarks vergleichbar, jedoch in jeder Beziehung von einem solchen unterschieden. Dünn mit Espen und Schwarzpappeln bestandene Berggehänge, zwischen ihnen nur hier und da gruppenweise einige sibirische Tannen eingesprengt, darüber grüne Matten und in der Höhe der Berge noch überall Schnee: Das war das Gepräge dieser Landschaft. Nach etwa einstündigem Ritt durch das Tal, dessen Wände von Felsenschwalben (Cotyle rupestris) umflogen wurden und aus deren Wäldern der Gesang der Misteldrossel herabklang, stiegen wir steil auf und gelangten auf die Matten von eigentümlicher Schönheit. Lilien und verwandte Blumen von außerordentlicher Mannigfaltigkeit und Pracht, herrliche Glockenblumen und ähnliche Gewächse blühten bereits in vollstem Schmucke: Alle Gehänge der Berge prangten in saftigstem Grün; kurz, es war eine Alpenlandschaft im vollsten Sinne des Wortes, in welcher wir uns bewegten. Auch der längliche, tief zwischen den Bergen versteckte, nur von einer Seite her zugängliche See glich ganz denen, welche man in unseren Alpen zu sehen gewohnt ist. Rechts und links von ihm steigen die Berge noch um mindestens zweitausend Fuß empor, und ihre Gipfel, auf denen Steinböcke und Königshühner hausen, wurden umflogen von Steinadlern, zu deren sicherem Gebiete nur im Hochsommer die Menschen emporsteigen. Brausend stürzen dem See von beiden Seiten her Bächlein zu, in seiner Tiefe sich klärend und im Verein mit dem oberen starken Zuflüsse ihm als ein starker, tobender, zwischen wirr übereinandergeworfenen Felsenmassen sich durchzwängender Waldbach wieder entströmend. Viel dichter als im Tale waren hier die Wälder, eigentliche Urwaldungen im vollsten Sinne des Wortes, in denen die Bäume wachsen und vergehen ohne Zutun des Menschen. Dicke Birken liegen vom Sturm geknickt neben- und übereinander, oft selbst dem Fußwanderer den Weg versperrend; um die alten Schwarzpappeln, welche auch hier noch wachsen, liegen die Trümmer der abgebrochenen Äste; im Wald gibt es hier und da förmliche Verhaue von übereinandergeworfenen Stämmen, alle modernd und verfaulend.
In einer für uns dicht am Ufer des Sees aufgeschlagenen Jurte hielten wir Rast. Ein Versuch, Fische zu fangen, fiel ungünstig aus und schien die Behauptung der Kirgisen, daß der »grüne See« keine Fische berge, zu bestätigen; es war jedoch wohl nur die Mangelhaftigkeit der Fanganstalten, welche dieses Ergebnis zur Folge hatten. Still wie der See waren übrigens auch die Wälder, in denen der Bär noch ziemlich häufig auftreten und der Maralhirsch nicht selten sein soll. {...}
Das Leben in unserer Jurte gestaltete sich, wie immer, zu einem recht bewegten und bunten. Auf einer nahen grünen Matte weideten die entfesselten Pferde zwischen einigen Kamelen, welche Jurte und Zubehör bis hierher geschleppt hatten; um ein rasch entzündetes und hell aufloderndes Feuer hockten Kirgisen in ihrer bunten und trotz der rohen ungeschickten Form malerischen Kleidung; vom Uferrande schallten die Schläge der Axt herauf; denn man fällte Bäume und zimmerte, um ein rohes Floß zu fertigen; gruppenweise hatten wir uns verteilt, die Ruhe suchend und findend nach dem immerhin anstrengenden Ritte. Der mitgebrachte Wein mundete trefflich, und auch die von den Kirgisen bereiteten Speisen fanden dankbare Esser. Erst ziemlich spät am Nachmittag traten wir den Rückweg an, erstiegen bei dem erwähnten Bauernhaus unsere Wagen wieder und fuhren nun auf den halsbrechenden Wegen langsam nach Lepsa zurück, erreichten daher den Ort erst in weit vorgerückter Nachtstunde. Der ganze Ausflug war vom Kreishauptmann geplant, ausgeführt und alle Kosten von ihm bestritten worden: Ein neuer Beweis der niemals endenden russischen Gastfreundschaft. {...}
Wir mir berichtet wurde, werden die Kirgisen und andere Hirtenstämme durch den Wasserreichtum dieser Gegend angelockt, im Sommer ihre beweglichen Häuser in der luftigen Höhe aufzuschlagen und die dann von Mücken und Fliegen wimmelnde Tiefebene zu verlassen. So ist während des Hochsommers das Gebirge reich belebt von weidenden Herden und ihren Hirten, wogegen der Winter den Menschen fast gänzlich von den Höhen verbannt. Feststehende Ansiedelungen in den Bergen, Dörfer nach unseren Begriffen oder auch nur einzelne Gehöfte gibt es nur hier und da, wo das Tal gestattet, Feldbau zu treiben, und die Russen sich bereits angesiedelt haben; denn die Kirgisen weiden auch da, wo sie selbst Felder anlegten, immer nur so lange, als die in wenige Wochen sich zusammendrängende Bewirtschaftung dieser Felder es verlangt, und treiben ihren Feldbau ebenso wie ihre Viehzucht von ihren Jurten aus. {...}
Auf der Weiterreise – wir verließen Lepsa zunächst auf demselben Wege, auf welchem wir gekommen waren – sahen wir, wie man überall beschäftigt war, das Feld zu bestellen. Oben an den Gehängen der Vorberge so wie in den mehr oder minder ebenen Taleinsenkungen zwischen den Bergen loderten die Flammen, um die Reste der vorjährigen Ernte, das auf den am Bach gelegenen Stellen üppig aufgeschossene Unkraut oder die Pflanzen einer bisher dem Pfluge noch nicht untertänig gemachten Bergwand zu vernichten; unten im Flußtale wurden die hier alle Felder tränkenden Wassergräben instand gesetzt oder gefüllt, da hier die Saat bereits dem Boden anvertraut worden war. Bemerkenswert war das Geschick der Kirgisen, die Wasserläufe anzulegen, das heißt nach dem bloßen Augenschein zu bestimmen, wohin und wie ein Graben gezogen werden mußte, bei allem Ungeschick in der Bearbeitung des Bodens selbst: Mit einem höchst einfachen Pfluge hatte man nur das Erdreich ein wenig aufgerissen, ohne regelmäßige Furchen zu bilden oder auch nur auf solche zu achten, die Körner gesät und dann mit einer Egge das Land einigermaßen geebnet; gleichwohl sproßte hier und da die Saat bereits lustig zwischen dem Gras und Kraut hervor, welches zu vernichten den guten Leuten gar nicht eingefallen war. Neben den Kirgisen arbeiteten russische Bauern, einem in den Tschebondabergen gelegenen Dorfe angehörig, nach gewohnter Art die Schwarzerde mit dem recht gut und zweckmäßig gebauten Pfluge tief aufwühlend und umwälzend, die Kunst der Bewässerung jedoch den Kirgisen entnehmend, da sie selbst in dieser Beziehung als gänzlich unerfahren sich erwiesen. Die Leute wohnten, da ihre Felder etwa dreißig Werst vom Dorfe entfernt lagen, einstweilen ebenfalls in Jurten, wie die ursprünglichen Herren des Landes, die Kirgisen. {...}
Gegen Mittag des 18. Mai gelangten wir an den letzten Fluß, den größten, welcher dem Alakul zuströmt, und fanden, daß sein Name, welcher soviel wie der »verrückte oder wütende, dumme« bedeutet, wohl gewählt ist. In wenigstens zwanzig, vielleicht mehr Armen strömt der Fluß jetzt dahin, mit seiner so vielfach geteilten, recht ansehnlichen Wassermasse einen beträchtlichen Teil des Tales erfüllend, unzählige Inseln und Werder zwischen den einzelnen Wasserläufen einschließend, welche jetzt um so lebendiger aus der Steppe hervortreten, als sie fast sämtlich mit Weiden und Tamarisken bestanden sind, deren frisches Laub sich eben zu entfalten begann.
Bevor wir den Fluß erreichten, waren wir von wenigstens vierzig uns entgegengekommenen Reitern begrüßt worden. Mit dem Sultan Abin Dairoff, unserem Reisebegleiter vom Alakulsee an, waren die angesehensten Kirgisen der Tscharbaktinskischen Gemeinde nicht allein, sondern auch Abgesandte des erst seit vier Jahren bestehenden russischen Dorfes Utsekaral (am rechten Ufer des Flusses gelegen) erschienen, um uns im festlichen Zuge nach dem Dorfe und der nahe demselben aufgeschlagenen Jurte des Sultans zu geleiten. Nach kurzem Ritt trennte uns nur der Fluß noch vom einstweiligen Ziele. Mehrere Arme wurden ohne Anstand überschritten, zwei oder drei jedoch waren so reißend, daß das ganze Gepäck der Tarantasse umgeladen werden mußte «und die bis zum halben Leib im Wasser gehenden Pferde den Wagen kaum gegen die Strömung halten konnten. Das Ausladen geschah einfach so, daß ein Gepäckstück nach dem anderen je einem Kirgisen aufs Pferd gereicht und von diesem auf das oder auf die jenseitigen Ufer befördert wurde; wir selbst blieben, den Wagen anklammernd und uns gegenseitig festhaltend, in der Tarantasse, deren Boden sich in der tiefsten Stelle des Flusses mit Wasser füllte und deren Räder bald über kleinere Rollsteine hinwegrumpelten. Unsere Lage war zwar keineswegs gefährlich, die Aussicht auf ein unfreiwilliges Bad aber doch so nahe gerückt, daß mich nicht einmal eine fast über dem Wagen umherschwebende Fischermöwe bewegen konnte, meine Hand zu lösen, um nach dem neben mir liegenden Gewehr zu greifen. Alles lief glücklich ab, und wir gelangten an das andere Ufer.
Hier, unmittelbar vor dem Dorfe, stand, den Dorfältesten an der Spitze, mehr als die halbe Gemeinde in einem dichtgescharten Trupp, entblößten Hauptes unserer harrend und uns beim Herankommen das auf weiß gedecktem Tisch aufgestellte Salz und Brot, die uralten Zeichen der Gastlichkeit und Freundschaft, entbietend. Jeder unserer Wagen wurde nach einem anderen Gehöfte geleitet und wir dort mit köstlicher Milch erquickt. Die Leute waren sämtlich im Sonntagsstaate; denn es war das erste Mal seit Bestehen des Dorfes, daß angesehene, aus so weiter Ferne kommende Fremde es besuchten. Die Zimmer des kleinen, aus Lehm erbauten Hauses, in welchem ich abgestiegen, waren mit Teppichen und Blumen geschmückt, alle Tische mit blendendweißem Leinen gedeckt.
Wir besuchten das in unmittelbarer Nähe des Dorfes gelegene Grabmahl eines kirgisischen Sultans, ein nur durch seine Größe die übrigen ähnlichen Grabmäler überragendes, jedoch von diesen durch die Verwendung gebrannter Ziegel sich unterscheidendes Denkmal einfachster Art, ruhten uns ein wenig in der für uns aufgestellten Jurte aus und setzten noch in der Hitze des Nachmittags unsere Reise fort, zwischen zwei, nur bei Hochwasser vereinigten Teilen des Sees unseren Weg nehmend.
Der Grund, welchen wir durchzogen, war eine Tiefsteppe in höchster Vollendung. Das Tschigras bildete einen nur durch mehr oder minder ausgedehnte offene oder mit Röhricht bestandene Sümpfe unterbrochenen Wald; die Sümpfe waren Brüche, in denen das Weidicht zu förmlichen Stämmen aufgeschossen; auch die Ufer eines flußartigen Wasserlaufes, über dessen Beschaffenheit ich mich nicht ins klare zu setzen vermochte, waren dicht mit Weiden bestanden, und aus ihnen hervor ertönte zu meiner nicht geringen Freude der volle Schlag eines auch verwöhnte Ohren befriedigenden Sprossers. Im Tschigras wie in den unabsehbaren Rohrwäldern trieben sich viele Rohrsänger umher; alle Sümpfe waren belebt von gewöhnlichen Uferläufern, die Brüche von Wildgänsen und Wildenten oder auch den an anderen Teilen des Sees beobachteten Enten. Auch Fischadler, Lach- und Schreimöwen sowie viele Löffelreiher wurden bemerkt. In der trockenen Steppe, welche wir heute morgen durchzogen hatten, waren alle Arten von Lerchen (die tatarische ausgenommen) ungemein häufig, auch Flughühner (immer Pterocles arenarius), Raken, Rosenstare und Weihen gewöhnliche Erscheinungen gewesen – hier, wenige Werst von jener Steppe, war die Vogelwelt eine durchaus verschiedene.
Das Flughuhn ist in den Steppen am Alakulsee recht häufig, findet sich jedoch immer nur an einzelnen Stellen. Die Nähe eines fließenden Wassers, zu welchem es täglich in den Vor- und späten Nachmittagsstunden kommt, um zu trinken, und dem Pfluge unterworfenes Feld scheinen Bedingungen zu sein. Es fliegt paarweise und in Flügen von vier bis zwanzig Stück, nach Art seiner Verwandten unter Ausstoßen seines Locktones; dieser aber ist von dem der Verwandtschaft gänzlich verschieden: Ein aus der Kehle kommendes, gleichsam verhaltenes »Girr, girr, girru« nämlich, welches mit dem »Rhata, gada« der innerafrikanischen Arten keine Ähnlichkeit hat. Der Flug ist sehr reißend, der Lauf trippelnd. Gern sucht es sich durch Niederdrücken auf den Boden dem Blicke des Jägers zu entziehen; im allgemeinen aber ist es auffallend scheu und vorsichtig. Mit anderen Vögeln hält es keine Gemeinschaft.
Unser Sultan, welcher uns noch eine Station weit geleitete, verläßt uns an der Lagerstatt »Schangis agatsch«, zu deutsch »ein Baum«. Wir fahren von dort erst mit Sonnenuntergang weiter; der mich und Friedrichs führende Wagen, bespannt mit des Zuges noch gänzlich ungewohnten Kirgisenpferden, bleibt in einer Lache stecken, und es bleibt kein anderes Mittel übrig, als noch etwa sechs Pferde mit den Schwänzen vor den Wagen zu binden. Darauf allgemeines Antreiben und kräftiges Ziehen der angeschwänzten Pferde, und der Wagen wird flott. In ziemlich vorgerückter Nachtstunde kamen wir an einem zum See fließenden Bächlein, unweit des Seespiegels selbst, an. {...}
Auf der Fahrt am 19. Mai verloren wir ein Rad von der Achse, und diese schleifte längere Zeit im Sande, so daß die Schmiere gänzlich abgerieben war. Auch für solche Fälle haben sich die Russen vorgesehen, indem sie – Speck mit sich führen. Von diesem wurden einige Scheiben abgeschnitten, die Achse damit umwickelt und die Reise fortgesetzt. {...}
Weiter ging die Fahrt in südöstlicher Richtung. Wir übernachteten in der Kosakenstation Urtschar.
[Postkarte]
Urtschar, am Fuße des Jarabaktsee,
am 19. Mai 76
Mein teuerstes Weiberl!
Da hier eine Posteinlage ist, schreibe ich Dir rasch einige Zeilen. Ich hatte mir am Arakulsee etwas Wechselfieber geholt und war ein paar Tage unwohl; der Aufenthalt am Gebirge hat mich aber ganz wiederhergestellt, und geht's mir jetzt gut. {...}
Bei der Art und Weise, wie wir reisen, ist es mir nur selten möglich, einmal zum Schreiben zu kommen; denn wo es auch einmal etwas Zeit gibt – viel ist es nicht –, so muß entweder etwas repariert werden, oder aber es fehlt an einem Tisch, oder es gibt sonst ein Hindernis. Ich denke tagtäglich und stündlich Euer, so daß ich schon in Verdacht gekommen bin, Heimweh zu haben. Hoffentlich geht es Euch allen recht gut und bringen mir nun bald Briefe darüber Nachricht.
Mit vielen tausend Grüßen und Küssen
Dein getreuer Alter
und kamen – nach kurzer Rast an der Haltestelle Makantschi –, bei bereits herabsinkender Nacht und nachdem die Pferde mit Finsch und dem Kirgisen Tammar Bai durchgegangen, am 20. Mai nach Bagti. {...}