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32. Kapitel

Langsam nur verrauchte die weißglühende Wut, die in dieser Nacht über Tucker Crosden Herr geworden war. Noch glimmten die letzten Funken des Wahnsinns in seinem Hirn, als er, die Flinte auf den Knien, auf der Schwelle seiner Hütte saß und sich grübelnd fragte, in welcher Richtung er wohl nach seiner Tochter zu suchen habe. Was er getan hatte, war ihm noch nicht voll zum Bewußtsein gekommen. Noch immer vermochte er nicht mit voller Klarheit zu denken. Nur so viel begriff er, daß Molly da draußen in der Winternacht in Lebensgefahr war, und daß er ein Mittel finden mußte, um sie zurückzubringen. Er beschloß, es zunächst mit der Gewalt seiner mächtigen Stimme zu versuchen. Er stand auf und sandte einen dröhnenden Ruf in die kalte Nachtluft hinaus.

»Molly! Molly!«

Er horchte gespannt, aber nichts war zu vernehmen, als das Echo, das die Bergwände in der Nachbarschaft ihm laut zurücksandten. Jetzt erst begriff er, wie schlimm es stand. Molly war weiter geflohen, als seine Stimme tragen konnte.

Eine Wirkung indessen hatte sein Ruf gehabt. Von den Bergen zurückrollend, hatte das Echo Schwarzwolf auf seiner Flucht erreicht. Er änderte die Richtung seines Laufes und schlug, immer noch halbblind vor Schmerz und Blut, einen Weg ein, der ihn quer über die Lichtung führte.

Tucker Crosden sah ihn und vergaß Molly. Dies war eine Begegnung, die er längst herbeigesehnt, aber auf die er nicht mehr gehofft hatte. Er riß das Gewehr an die Schulter und drückte ab. Schwarzwolf machte einen Luftsprung. Sein Todesgeheul hallte weithin durch die Nacht. Er stürzte zusammengekrümmt in den Schnee, schnappte noch einmal wütend nach der Stelle, wo die Kugel in seinen Körper eingedrungen war, streckte sich und verendete.

Tucker Crosden ging bis zu der Stelle, wo er lag und betrachtete in schweigendem Triumph den toten Feind. Tiefe Stille herrschte, bis es dem Fallensteller vorkam, als höre er, ganz schwach und in weiter Ferne, ein schrilles Bellen. Es klang genau so, wie wenn weit da hinten ein Hund den Ruf des Wolfes mit einer trotzigen Herausforderung beantwortet.

Tucker Crosden nahm sich nicht die Zeit, noch einmal hinzuhören. Aufgeregt, wie jemand, dem plötzlich eine unerwartete Freude widerfahren ist, schlug er den Weg nach Westen ein. Kaum war er eine viertel Meile weit gelaufen, als er haltmachte und in die Nacht hinausbrüllte: »King! Bist du da? King!«

Es kam keine Antwort, aber Tucker Crosdens Herz hörte nicht auf schneller zu schlagen. Er konnte sich nicht täuschen. Es gibt hunderterlei Arten Hundegebell, aber nur eine, die den Bullterrier kennzeichnet. Ein durchdringender, absurd dünner und hoher Laut. Und Tucker Crosden war sicher, daß der Nachtwind nichts anderes an sein Ohr getragen hatte.

Er lief jetzt, bis er stehenbleiben mußte, um Luft zu schnappen. Und wieder schickte er seinen Ruf dröhnend in die Nacht hinaus, bis ein Nachtfalke, der am Himmel seine Kreise gezogen hatte, herniederstieß und dann erschreckt die Flucht ergriff.

Wieder lauschte er. Und diesmal vernahm er eine Antwort, deutlich genug. Aber es war Molly Crosdens Stimme. »Daddy – Daddy Tucker, bist du's?« schrie sie gellend.

Dampfend vor Hitze erreichte er die Stelle und fand Molly, mit einem Ungetüm von Bullterrier in den Armen, im Schnee sitzen. Molly verschwand vor seinen Augen wie in einem Nebel. Das einzige, was er klar erblicken konnte, war der schimmerndweiße Körper des Hundes und die furchtbaren roten Striemen der Wunden, die ihn bedeckten.

»Der King!« rief Tucker Crosden. Die Freude ließ ihn taumeln. Er wollte auf die Gruppe zustürzen, als ihn ein mörderisches Knurren unvermutet zum Halten brachte.

Denn Weißwolf hatte seine Zweifel. Einmal schon in dieser Nacht hatte er dieses Kind, dessen Hände so sanft zu streicheln wußten, vor dem Tod bewahrt und er hatte keineswegs Lust, sie dem ersten besten zu überlassen. Gewiß, das war das Menschenungeheuer und obendrein hatte es ein Gewehr in der Hand, aber er schlug sämtliche Warnungen La Sombras in den Wind, entschlossen, das Feld zu behaupten, entschlossen, diesem Untier die Stirn zu bieten.

»Er kennt mich ja gar nicht«, sagte Tucker Crosden. Es war ein Wunder, das über sein Begriffsvermögen ging. »Er kennt mich nicht, Molly! Und wenn er zu mir zurückgekommen ist – wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Molly. »Aber das eine weiß ich – daß er mich gegen den schwarzen Wolf verteidigt und ihn in die Flucht geschlagen hat. Er hat mir das Leben gerettet. Gott segne ihn dafür! Oh, Dad, wie ein richtiger Held hat er gekämpft. Und jetzt hat er die ganze Zeit, zahm wie ein Lämmchen, auf meinem Schoß gesessen und mich warm gehalten.«

Tucker Crosden lag längst auf den Knien im Schnee, um das Wunder aus nächster Nähe zu bestaunen. Weißwolf knurrte nicht mehr. Die Witterung derselben Höhle hing an dem Menschenungeheuer und an dem Kind, wie seine Nase ihn jetzt deutlich lehrte. Wäre es nicht der reine Irrsinn gewesen, den Vater von seinem Jungen fernhalten zu wollen? Aber da immerhin seine Zweifel nur langsam schwanden, zog er es vor, das Feld nicht allzu leicht zu räumen und zeigte stillschweigend ein bißchen die Zähne, um anzudeuten, daß er durchaus zu einem Strauß bereit sei.

Tucker Crosdens Wildheit war dahin. Sein Hirn war wieder klar. Die Verblüffung hatte es gereinigt. Eine rauhe Faust hatte all die tollen Hirngespinste, mit denen er sich getragen hatte, zerfetzt. Er hatte das Gespenst eines Hundes zu sehen geglaubt, und er hatte sein armes Kind angeklagt, das Tier verscheucht zu haben und nun mußte er es erleben, daß der Hund Molly als Herrin anerkannte und ihn nicht! Gleichzeitig aber wurde auch der erfahrene Züchter in ihm wach. Sein geübter Blick belehrte ihn, daß es nach Wuchs und Größe der King nicht sein konnte. Das Tier war, an King gemessen, ein Riese, ein wahrer Krieger.

Tucker Crosdens Herz preßte sich bei der Entdeckung schmerzlich zusammen. Die letzten Illusionen verflogen, aber es tat ihm wohl. Mit klarem Kopf kniete er neben Molly nieder und befreite ihr Bein von der Falle, deren Zähne sich in ihr Fleisch gefressen hatten. Er schob die Arme unter das Kind und hob sie vom Boden auf.

»Molly«, sagte er. »Das ist nicht der King. Das Wunder ist nicht geschehen. Aus dem Grab kommt nichts zurück. Aber ich bin ein Narr gewesen, und ich hab' mich zu dir benommen wie ein Vieh. Wirst du mir je verzeihen können?«

Sie lag an seiner breiten Brust und blickte ihn mit einem schwachen Lächeln an.

»Ich weiß nicht«, sagte Molly. »Dir zu vergeben ist nicht schwer, Dad, aber ich weiß nicht, ob's nicht doch ein Wunder ist. Denn mir ist's beinah, als wenn Gott ihn mir geschickt hätte.«

»Er läuft uns nach«, sagte Tucker Crosden. »Schau doch, wie er mitkommt! Gott, Gott, wie der Wolf ihn zugerichtet hat! Tut dir dein Bein sehr weh, Liebling?«

»Ich bin so selig, ich spür' gar keinen Schmerz. Aber, Dad, nicht wahr, der Hund ist doch zu mir gekommen, der ist doch mein Hund?«

Ihr Vater tat einen tiefen stöhnenden Atemzug. Auf jedes Anrecht an diesen prachtvollen Riesen zu verzichten, war für ihn, wie auf sein Anrecht am Paradies zu verzichten.

Aber schließlich brachte er heraus: »Was macht's schon für einen Unterschied? Ich hab' ihn nicht gezüchtet – mein Werk is' er nicht. Gewiß gehört er dir, Molly. Und ein nobler Hund ist es.«

Er eilte weiter. Aber längst ehe er die Hütte erreichte, hatten Erschöpfung, überstandene Angst und Kälte und die Schmerzen, denen sie so tapfer widerstanden hatte, wie die Freude über die endliche Erlösung, Mollys körperliche Energie überwältigt. Leise vor sich hin weinend, lag sie an Tucker Crosdens Schulter und als er endlich zu Hause anlangte, phantasierte sie.

In fieberhafter Eile machte er sich daran, ihre Wunde zu reinigen, die erfrorenen Gliedmaßen zu massieren und ihr einen dicken, weichen Verband anzulegen. Dann flößte er ihr einen Schluck Kaffee ein, schwarz wie die Nacht und stark wie Lauge, und mit einemmal schien sie wieder zur Besinnung zu kommen. Erleichtert richtete er sich auf und blickte lächelnd zu ihr hinunter. Und sie lächelte zurück, tiefe Freude in den Augen.

»Hast du arg auszustehen, Molly?«

»Nein, Daddy, nur, daß mir das Herz zerspringen könnt, so selig bin ich. Und sieh doch, wie er uns zuschaut, er versteht jedes Wort!«

Der Terrier kam ein bißchen näher. Er knurrte sanft und zutunlich und wedelte aus Leibeskräften mit dem Schwanz. Dies mochte heißen: »Dir geht's jetzt besser? Glaub nicht, daß ich nicht weiß, was es heißt, wenn der Frost sich in tiefe Wunden frißt! La Sombra pflegte mir meine Wunden zu lecken, bis sie heilten – aber der Mensch weiß noch ein besseres Mittel!«

»Ein nobles Vieh!« sagte Tucker Crosden. »Ein verdammt nobles Vieh! Und ich will blind sein, wenn er nicht genau so den Kopf trägt und dreinschaut wie der King. Siehst du's nicht?«

Sie nickte: »Ich seh's!«

»Das kann doch kein Zufall sein? Aber wie kommt Kings Blut hierher in die Wildnis?«

Molly schoß ein Gedanke durch den Kopf.

»Dad, in Nellys Wurf war ein Tier, das du damals nicht hast finden können, als du zurückkamst.«

Er starrte sie an. Er verstand sie nicht. »So ein kleines, hilfloses Geschöpf. Wie hätt' das am Leben bleiben können?«

»Ich weiß auch nicht«, sagte Molly. »Aber Kings Blut war in dem Wurf und hier siehst du King noch einmal leibhaftig vor dir stehen, nur daß er größer ist und schöner. Wo sollte er sonst herkommen?«

Logik findet ihren Weg schließlich auch in die dicksten Schädel.

»Wohl, wohl,« sagte Tucker Crosden, »aber wie ist's bloß möglich, daß es am Leben geblieben ist, wenn's keine Mutter hatte?«

»Na, und wenn's eine gefunden hätte?« sagte Molly.

»So'n kleines Wesen, wer soll das bemuttern? Es hört sich kaum natürlich an.«

Lange hatte La Sombra auf die Rückkehr ihres Pflegesohns gewartet. Sie war ihm von der Höhle bis an den Fuß des Berges entgegengegangen. Sie war sogar auf das andere Ufer des Bachs hinübergehinkt, schließlich war ihre Geduld zu Ende. Sie ließ sich nieder, streckte die Nase nach dem Mond und sandte ein langes, zitterndes Geheul durch die Wälder.

»Der Wald ist heute nacht voll Wölfe«, sagte Molly und schauderte in der Erinnerung an ihre Erlebnisse.

»Ah, es ist wundervoll, hier in der Wärme daheim zu sein. – Aber schau doch, Dad!«

Der Terrier war geräuschlos an die Tür geglitten. Jetzt pflanzte er sich auf sein Hinterteil und streckte die Schnauze in die Luft. Sein sich sträubendes Rückenfell glitzerte im Lampenlicht. All dies sahen Molly und ihr Vater mit an. Und dann brach der langgezogene, heulende Ruf aus seiner Kehle und stieg und rollte hinaus und schien noch lange von Echo zu Echo zwischen den Baumwipfeln zu vibrieren.

»Ich höre dich, aber ich kann nicht kommen, La Sombra!« bedeutete dieser Ruf.

Es war kein vollendeter Wolfsruf, daran war kein Zweifel, aber für die Ohren der beiden in der Hütte glich er dem melancholischen Schrei des Bergwolfs, wie ein Ei dem andern.

»Von denen, die ihm das beigebracht haben, ist er vielleicht auch großgezogen worden, Dad«, meinte Molly Crosden. »Hältst du's nicht für wahrscheinlich?«

»Großgezogen von 'nem Wolf? Großgezogen von 'nem Wolf?« wiederholte Tucker Crosden mit verschleierter Stimme. »Wenn ich's je glauben sollte, Liebling, nie wieder würd' ich 'nem Wolf 'n Haar krümmen! Aber ist's denn nur im geringsten möglich?«

»Nimm mal an, das Kleine hat sich flüchten können, und außer dem schwarzen Wolf war noch eine Wölfin in der Nähe, die ihre Jungen verloren hatte, sag Dad, ist's nicht mehr als wahrscheinlich?«

Wahrheit hat einen Klang, den falsche Münze niemals nachahmen kann. Und die Wahrheit, die Molly in diesem besonderen Fall herausgefunden hatte, faßte rasch und leicht Wurzel in Tucker Crosdens Hirn.

Wenn das Tier wirklich aus Nellys Wurf stammte und durch ein Wunder vor dem Schicksal der übrigen bewahrt worden war – welch ungeheure Freude bedeutete das für ihn. Es berauschte und blendete ihn, und er sah nichts mehr als den Richterring auf der Ausstellung in Madison Square Garden im fernen New York, die Gesichter der Zuschauer, die sich ringsherum weit über die absperrenden Stricke beugten, einen weißen Riesen, der alle anderen Bullterrier um Haupteslänge überragte und die Verblüffung, die sich auf dem Gesicht des Preisrichters malte.


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