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29. Kapitel

Dies war für Molly Crosden ein trauriger Tag gewesen. Am Morgen hatte ihr Gannaway Lebewohl gesagt.

»Ich habe deinem Vater gesagt, daß ich ins Flachland hinabgehe, um besseres Wetter abzuwarten,« sagte Gannaway, »aber unter uns gesprochen, geh' ich hinunter, um mich zu vergewissern, ob er juristisch wirklich in einer so schlechten Lage ist, wie er glaubt. Es kann sein, es ist längst nicht so schlimm, Molly. Man kann nie wissen. Wenn einem Mann die eigene Tür durch einen Kerl verwehrt wird, der gar kein Recht hat, ihm in den Weg zu treten, und wenn er dann diesen Kerl niederschlägt, nicht aus Vorbedacht, sondern nur um sich Bahn zu schaffen – ich weiß auch nicht. Sicher kann es kein so fürchterliches Verbrechen sein, vorausgesetzt, daß im Strafgesetzbuch auch nur eine Spur von gesundem Menschenverstand steckt. Ich werde an einer Stelle anfragen, wo man mir genau Bescheid sagen kann, und bei der Gelegenheit werde ich auch herausbekommen, ob dein Vater den langen Arm des Gesetzes überhaupt so sehr zu fürchten hat, das heißt, ob wirklich seine Verfolgung mit so fieberhaftem Eifer betrieben wird. Ich glaube es nicht. Aber, was auch geschehen mag, Schaden kann es keinen anrichten, wenn ich mir Klarheit darüber verschaffe, wie der Fall deines Vaters nach juristischer Auffassung liegt. Und wenn er die Möglichkeit hätte, unbehelligt heimzukehren – du glaubst nicht, daß er's tun würde, Molly?«

»Ich weiß bestimmt, daß er heimgehen würde«, sagte Molly Crosden.

»Ich möchte dich gern überreden, mit mir zu kommen,« fuhr Gannaway fort, »aber ich habe eingesehen, daß Worte dich nicht dazu bringen, ihn im Stich zu lassen, was du dir als deine Pflicht in den Kopf gesetzt hast. Übrigens wird es keine zehn Tage dauern, bis ich wieder hier bin. Und ich hoffe, er wird keinen neuen Anfall haben, solang ich weg bin. Oder hast du Angst, Molly?«

Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen.

»Der Gedanke, daß ich hier mit ihm allein bleiben muß, ist nicht halb so gruselig als der, daß ich ihn im Stich lassen soll, ohne einen Menschen zur Gesellschaft. Also lebt wohl, Mr. Gannaway. Ihr habt mir einen Haufen Gutes getan und ich werd' Euch nicht vergessen.«

Gannaway ergriff ihre beiden Hände und drückte sie fest.

»Molly,« sagte er, »alle anderen Frauenzimmer können sich vor dir verstecken. Aber warum redest du so, als ob ich nicht im Handumdrehn wieder hier wär'? Herrjeh, Kind, ich bin doch wieder zurück, eh' du bis drei zählst!«

Sie blickte an ihm vorbei, sie schien nur in ihr Inneres zu blicken, und dort mußte sie etwas gesehen haben, das ihr Tränen in die Augen trieb. Aber sie sagte nichts. Gannaway bewunderte im stillen dieses Kind, das die innere Kraft und Beharrlichkeit einer gereiften Frau sein eigen nannte.

»Wenn Ihr mein Vater wär't, würde ich ein Stück mit Euch gehen, wenn Ihr aufbrecht«, sagte sie.

»Dann geh' doch ein Stück mit und unterwegs kannst du mir anvertraun, was dich am meisten quält.«

Aber so weit sie ihn auch begleitete, sie ließ kein Wörtchen fallen. Schließlich machte sie halt und reichte ihm die Hand.

»Sieh mich an, Molly«, sagte Adam Gannaway. »Hol's der Teufel, aber es zerreißt mir geradezu das Herz. Armes kleines Ding, sag aufrichtig, ängstigst du dich nicht zu Tode bei dem Gedanken, daß du jetzt hier mit ihm allein bleiben mußt?«

Von einem der Bäume löste sich ein Klumpen Schnee und hüllte die beiden in einen funkelnden, weißen Sprühregen.

»Wenn's bestimmt ist, daß was geschehen soll,« sagte Molly, »dann kann man nicht dagegen an. Hab' ich nicht recht? Und wenn's nicht so bestimmt ist, braucht man sich den Kopf nicht schwer zu machen. Freilich – ich werd' schon mächtig froh sein, wenn Ihr wieder da seid, Onkel Adam!«

*

Noch lange dachte Adam Gannaway an das zarte traurige Gesicht, das zu ihm aufgeblickt hatte, und während er das Tal der Sieben-Schwestern hinuntermarschierte, war es ihm durchaus nicht wohl ums Herz. Er hatte das Gefühl, sie schutzlos im Stich gelassen zu haben. Wenn sie seine eigene Tochter gewesen wäre, hätte das Gefühl nicht tiefer sein können. Was zu tun sei, um das schwierige Problem zu lösen, wußte er selbst nicht. Aber er hatte die feste Überzeugung, daß ein wirklich energischer Mensch fähig gewesen wäre, einen Ausweg zu finden und Molly vor den Gefahren zu retten, die ihr von dem verdunkelten Verstand ihres Vaters drohten.

Sein Weg nach dem Unterland führte ihn an der Hütte der Brüder Loftus vorbei, die er seit geraumer Zeit nicht zu Gesicht bekommen hatte. So machte er halt vor der verschlossenen Tür. Dan Loftus öffnete einen schmalen Spalt und spähte heraus. Er hatte einen Revolver in der Hand.

Er forderte Gannaway nicht auf, näherzutreten, und während er ihn erregt und finster anstarrte, spielten seine Finger mit dem Kolben der Waffe.

»Nanu? Was ist denn nicht in Ordnung?« sagte Gannaway.

»Hab' ich gesagt, 's wär was nicht in Ordnung?« entgegnete Loftus. Der Blick, mit dem er seinen hochgewachsenen Besucher musterte, verriet keinerlei Freundschaft.

»Herrjeh, Mann,« sagte Gannaway, »ich habe haltgemacht, um just einen Gruß mit Euch zu wechseln. Ich gehe nach dem Flachland hinunter. Ist das eine Art, mit 'nem Menschen zu reden? Wo ist Euer Bruder?«

»Bei seiner Arbeit«, sagte Dan Loftus. Mit einem plötzlichen Funkeln in den Augen fügte er hinzu: »Ihr verlaßt Crosdens Hütte? Seid Ihr Euch mit dem ungeschlachten Kerl in die Haare geraten?«

Gannaway lächelte.

Nichts Derartiges sei vorgefallen. »Und der weiße Wolf?« erkundigte er sich dann.

Dan Loftus' Blick verdüsterte sich nur noch mehr.

»Das verdammte Vieh ist nirgends zu sehen,« knurrte er, »aber hier und da haben wir im Tal seine Fährte ausgemacht und wir erwischen ihn doch noch. Adjüs!«

Damit machte er Gannaway die Tür vor der Nase zu.

Wohl oder übel stapfte Gannaway weiter, schob die schwere Rolle mit seinen Decken bald auf die eine, bald auf die andere Schulter, um sich die Last zu erleichtern und wünschte fluchend alle rüpelhaften Filze der Welt zum Teufel.

Am Mount Spencer fand er eine windgeschützte Mulde, die ihm genügend Obdach für die Nacht bot. Zum Frühstück behalf er sich mit einer Scheibe kalten Rauchfleisches, zog im übrigen seinen Gürtel um ein Loch fester und schritt tapfer aus.

Er hielt sich etwas zur Seite des eigentlichen Passes und er hatte gute Gründe, denn in der Paßsenke lag der Schnee drei, ja fünfmal so hoch als auf den Höhen. So kam es, daß er sich um ein beträchtliches Stück vom geradesten Weg über die Berge entfernt hatte, als er im Morgenlicht eine Gruppe von fünf Reitern ziehen sah.

Er wollte sie erst anrufen, aber er kämpfte das Gelüst rasch nieder. In den Bergen ist es weitaus vorzuziehen, sich seine Leute etwas genauer anzusehen, ehe man sie anruft. Gannaway schnallte seinen scharfen Feldstecher los und nahm die Gruppe aufs Korn, die sich zu einer langen Reihe auseinandergezogen hatte. Vor allem richtete er das Glas auf den Vordermann, der den übrigen etwas vorausritt.

Sofort konnte er feststellen, daß dieses verkniffene Gesicht ihm bekannt war, obwohl es zum Teil durch den aufgestellten Mantelkragen verborgen wurde. Es war Tom Loftus, der sein Gewehr schußbereit quer über den Sattelbogen gelegt hatte.

Was hatte Tom Loftus an der Spitze einer solchen Kavalkade zu suchen? Gannaway brauchte sein Gehirn nicht übermäßig anzustrengen, um sich darüber klarzuwerden, daß Loftus' Ritt nicht gut etwas mit der Jagd auf den weißen Wolf zu schaffen haben konnte. Es handelte sich wohl auch kaum um eine andere Jagd. In den Bergen und um diese Jahreszeit jagte man nicht zu Pferde.

Er musterte die andern Reiter, wie sie der Reihe nach in den Gesichtskreis seines scharfen Glases kamen. Die starke Vergrößerung erzeugte unwillkürlich in ihm ein Gefühl, als ob dort unten lauter Riesen ritten. Er sah lauter grimmig entschlossene Gesichter und sämtliche Reiter waren bis an die Zähne bewaffnet. Sie hatten Gewehre und Revolver mit. Gannaway sagte sich, daß es für eine derartige Expedition nur eine Erklärung gab, eine Erklärung, die selbst ein Kind finden konnte.

Waren sie auf der Flucht vor dem Arm des Gesetzes? Doch dies war in Anbetracht der Jahreszeit um so weniger wahrscheinlich, als die wenigen Pässe, die ins Gebirge führten, mit Leichtigkeit abgeriegelt werden konnten. Viel wahrscheinlicher dagegen war es, daß diese Reiter im Namen des Gesetzes unterwegs waren. Diese Erklärung deckte sich auch überraschend mit den Befürchtungen, die in Gannaways Brust wachgeworden waren, als er am Tag vorher Tom Loftus' Gesicht gesehen hatte. Zwischen den Brüdern Loftus und dem gewaltigen Crosden herrschte kein Überschwang an Liebe. Sehr wahrscheinlich aber war es, daß einer von den Brüdern sich ins Flachland hinabgeschlichen hatte, in der Absicht, dort etwas über die Persönlichkeit Crosdens in Erfahrung zu bringen, vor allen Dingen aufzuklären, was den Riesen bewogen haben konnte, sich als einsamer Trapper, fern von allen Menschen, niederzulassen. Und er hatte die Antwort mitgebracht – fünf entschlossene Reiter, die kamen, um im Namen des Gesetzes Hand an Tucker Crosden zu legen. Sehr wahrscheinlich war es, daß dann ein paar Silberlinge als Belohnung in die schwieligen Hände der beiden Wolfsjäger glitten.

Es war eine logische Erklärung und sie konnte nicht falsch sein.

Gannaway dachte nicht mehr daran, den Marsch durch das weit sich hinziehende Sumpfland aufzunehmen, das er jetzt zu passieren hatte. Den Gedanken, ins Flachland hinabzuwandern, hatte er aufgegeben. Er machte auf der Stelle kehrt. Zweifelnd fragte er sich, ob es möglich sein könne, unter Aufgebot aller Kraft einen gewissen Vorsprung vor den Reitern zu erreichen, deren ermüdete Gäule schwerfällig durch den Schnee stolperten – um rechtzeitig Crosden vor der kommenden Gefahr zu warnen.

Er hatte keine Ahnung davon, was für seltsame Dinge sich inzwischen im Blockhaus abgespielt hatten, Ereignisse, die daran schuld waren, daß Tucker Crosden jede Erinnerung an den Mann, den er glaubte erschlagen zu haben, jede Erinnerung an die Macht des Gesetzes, ja an die Welt überhaupt, vergessen hatte.


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