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34. Kapitel

Als Drew sein Schlafzimmer wieder betrat, war Doktor Young gerade dabei, das Fieberthermometer in sein Etui zurückzulegen. Er hatte den Rock ausgezogen und die Hemdärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Eigentlich sah er eher wie ein Mann aus, der Holz hacken will, als wie ein Gelehrter, der sich anschickt, einen Menschen dem Tod abzuringen. Aber seine Art war unbedingt die richtige – auf alle Fälle für Eldara.

Eine eigentümliche Krankenstubenatmosphäre herrschte bereits in dem Raum. Teils kam das wohl von den medizinischen Gerüchen, die aus der Handtasche des Arztes aufstiegen, teils von dem gedämpften Licht, das durch die herabgelassenen Vorhänge drang. Auch der Doktor selbst wirkte jetzt ganz anders als vorher. Die große Hornbrille, die er auf dem Nasenrücken trug, gab ihm das Aussehen einer riesigen, klugen Eule.

»Nun, wie steht's?« fragte Drew flüsternd.

»Sie können ruhig etwas lauter sprechen!« antwortete der Arzt. »Es stört ihn kaum – er deliriert.«

»Und was denken Sie?«

»Vorläufig gar nichts. Die Zeit, zu denken, ist noch nicht gekommen ... Sie sollten sich übrigens jetzt lieber etwas hinlegen! Ich werd' Ihnen was Niederschlagendes geben.«

»Unsinn – ich bleibe hier!«

Young zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Patienten zu. Dessen Fieberphantasien beschäftigten sich ausschließlich mit den Ereignissen der letzten Stunden.

Drew, der sich auf einen Stuhl am Fußende des Bettes gesetzt hatte, lauschte angestrengt den unzusammenhängenden Worten. Immer ferner und ferner klangen sie, schließlich verstummten sie ganz ...

Als gegen Mittag der Doktor das Thermometer wieder einlegte, war das Fieber bedeutend gefallen.

»Ich stehe vor einem Wunder – er scheint's tatsächlich zu schaffen!« sagte er kopfschüttelnd.

Drew preßte seine Hand so stark, daß er fast aufgeschrien hätte.

Da die kritischen Nachmittagsstunden auch keine Temperaturerhöhung brachten, überließ der Farmer den Patienten der alleinigen Fürsorge des Arztes, zumal dieser sich jetzt für eine Wiedergenesung verbürgte. Auf den Zehenspitzen schlich er sich aus dem Krankenzimmer, eilte in den Stall, sattelte eigenhändig seinen riesigen Rotfuchs und jagte nach Eldara.

Die Flut des Saverack war über Nacht rapid gefallen – das Wasser ging dem Reiter selbst in der Mitte des Flusses kaum bis an die Knie. Er konnte also den kürzesten Weg nehmen und erreichte noch am Abend die Stadt. In seinem Amtszimmer traf er den Richter nicht an. Man verwies ihn jedoch nach Murphys Kneipe, wo er ihn auch tatsächlich fand.

»Die Sache ist in Ordnung, Glendin!« rief er ihm schon von weitem entgegen. »Ben, der Patient, hat die Krise überwunden, Doktor Young hat mir bestätigt, daß keine Lebensgefahr mehr besteht ... Die Pferdefrage ist auch erledigt: mein Grauer ist einfach ein Ersatz für das Tier, das Nash dem Bard erschossen hat. Es liegt also kein Grund mehr zu irgendwelchen gesetzlichen Maßnahmen gegen ihn vor!«

»Sie kommen leider zu spät!« erwiderte der Richter achselzuckend.

»Wieso zu spät?!«

»Ich habe bereits ein Aufgebot gegen ihn erlassen.«

»Wieviel Mann?«

»Nash, Conklin – sieben im ganzen.«

»Conklin?! ... Sind Sie denn wahnsinnig geworden?!«

»Wenn man schnell Leute braucht, kann man sie sich nicht immer aussuchen.«

»Aber sieben Meuchelmörder gegen einen einzelnen!«

»Er ist nicht allein – Cilly Fortune, die er bei sich hat, gilt mindestens zwei Mann.«

»Das Mädel ist bei ihm? Gott sei Dank, dann ist ja noch nicht alle Hoffnung verloren!«

Damit eilte er zur Tür hinaus. Glendin starrte ihm bestürzt nach. Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, als sei das »Aufgebot« gegen Anthony Bard die letzte Handlung seiner glorreichen Amtszeit gewesen ...

Drew hatte in seinem ganzen Leben weder sich noch andere geschont – noch niemals aber war er so unerbittlich und mitleidlos gegen seinen braven Rotfuchs gewesen wie jetzt. Kaltblütig berechnete er die Kräfte des Tieres sowie die Entfernung bis zu seinem alten Haus, und richtete das Tempo seines scharfen Rittes so ein, daß das Exempel restlos aufging. Es war klar – das Pferd würde am Ziel tot zusammenbrechen. Doch es handelte sich ja um mehr – um ein junges, hoffnungsvolles Menschenleben! ...

Cilly und Anthony hatten den ganzen Tag über ihre Belagerer in Schach zu halten verstanden. Sie waren von einem Fenster zum anderen geschlichen, um so das Feuer nach allen Seiten hin zu erwidern. Für die »Helden« des Aufgebots, die die nächsten Anhöhen besetzt hielten, wäre ein Sturm, bei dem sie eine ziemlich weite Strecke deckungslos hätten passieren müssen, bestimmt nicht ohne Verlust abgegangen. So hatten sie denn beschlossen, die Nacht abzuwarten, um den entscheidenden Vorstoß zu machen. Auch die beiden Belagerten harrten sehnsüchtig auf den Einbruch der Dunkelheit. In ihrem Schutz hofften sie, ungesehen bis zum See zu gelangen. Ihn wollten sie dann durchschwimmen, um am jenseitigen Ufer irgendeine Farm zu erreichen, wo sie neue Pferde für ihre weitere Flucht kaufen könnten. Jedenfalls waren sie entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen, da sie fühlten, daß sie von Nash und Conklin keine Gnade zu erwarten hätten.

Unglücklicherweise ging der Mond, der beinah voll war, schon ziemlich früh im Osten auf. Der Himmel war wolkenlos – es würde also eine völlig klare Mondnacht geben. Daran hatten die beiden nicht gedacht. Der immer heller werdende Schein machte einen bösen Strich durch ihre Rechnung. Es war völlig aussichtslos, den geplanten Versuch zu wagen.

Schweigend sahen sie sich an.

»Was nun?« fragte Cilly zwischen zwei Schüssen, deren Knall sich dumpf an den Felsen brach.

Anthony zuckte die Achseln. Merkwürdigerweise hatten die Belagerer seit einigen Minuten ihr Feuer ganz eingestellt. Wahrscheinlich bereiteten sie den Sturm vor ...

Da kamen sie! ... Aus dem Schatten der letzten Erdhügel löste sich eine Gestalt und trat auf die freie Ebene hinaus. Anthony hob die Waffe, doch Cillys Hand legte sich rasch auf seinen Arm. Über dem Kopf des Näherkommenden sah sie etwas Weißes flattern: das überall geltende Zeichen des Waffenstillstandes. Offenbar wollten die Belagerer verhandeln.

Bard sprang auf: sein scharfes Auge hatte die aufgereckte Erscheinung erkannt.

»Es ist Drew!« flüsterte er. »Der Mann, den ich gesucht habe!«

»Um Gottes willen – was wollen Sie tun? Er trägt doch die weiße Flagge, Anthony!«

Krampfhaft hielt sie sein Handgelenk umspannt.

»Aber er hat meinen Vater getötet!«

»Doch nicht aus dem Hinterhalt?«

»Nein – er hat ihn zwanzig Jahre lang gesucht, und als er ihn gefunden hatte, in den Garten hinausgerufen und vor meinen Augen niedergeschossen.«

»Dann war's also ein ehrlicher Kampf!«

»Das ändert nichts!«

Er hatte sich losgerissen und hob die Waffe. Blitzschnell setzte sie ihm ihren Revolver an die Schläfe.

»Wenn Sie auf einen Mann schießen wollen, der die weiße Fahne trägt, schieß' ich Sie nieder! Wir haben hier unsere Ehrbegriffe, so gut wie ihr im Osten ... Ich dulde nicht, daß Sie ein Verbrechen begehen!«

Entgeistert starrte er sie an.

»Hier, nehmen Sie!« sagte er keuchend und hielt ihr seinen Revolver hin. »Nehmen Sie! Ich kann sonst nicht für mich bürgen!«

Er drängte ihr die Waffe auf, trat vom Fenster zurück und schlug die Hände vors Gesicht.

»Was tut er?« fragte er gepreßt.

»Er kommt den Weg herauf – er bleibt stehen ... an dem alten Grab.«

»Anthony!« rief jetzt eine tiefe Stimme von draußen. »Anthony, komm heraus zu mir!«

»Genau so hat er meinen Vater gerufen! ... Gib mir meinen Revolver wieder!«

»Nein! ... Er kommt nicht, um zu kämpfen – die weiße Fahne flattert noch über seinem Kopf!«

»Anthony!« klang's wieder durch die Nacht.

»Sie müssen erst ruhiger werden!«

Cilly hielt ihn zurück, doch er riß sich los und eilte hinaus.

Hoch aufgerichtet stand Drew vor dem Grab. Seine riesige Gestalt zeichnete sich scharf gegen das mondbeglänzte Gebirge ab.

»Anthony!« sagte er feierlich. »Ein ganzes Menschenalter hab' ich auf diesen Augenblick gewartet!«

»Ich zwar nur wenige Wochen!« erwiderte Bard grimmig. »Aber sie sind mir auch wie Jahre vorgekommen! ... Jetzt sind wir allein – endlich können wir abrechnen!«

»Wir sind nicht allein!« antwortete Drew ruhig.

»Doch – die anderen sind so weit – ehe die kommen können ...«

»Wir sind nicht allein, Anthony – deine Mutter liegt hier zwischen uns!«

Damit zeigte er auf das Grab, das sie voneinander trennte.

Anthony glaubte zu träumen. Entgeistert starrte er auf den zersprungenen Grabstein, dessen Inschrift sich ihm so genau eingeprägt:

»Juana, Ihre Frau – ist meine Mutter?« fragte er tonlos.

»Ja – und ich bin dein Vater! ... John Bard hat dich als kleines Kind mir geraubt, weil du das Ebenbild deiner Mutter warst, die er einst geliebt hat – wie ich!«

Ein Aufschrei ließ sie zusammenfahren. Cilly Fortune, die an der Tür stand, hatte die Worte verstanden.

»Darum haben Sie mit ihm abgerechnet? ... Aber – kann ich Ihnen glauben? Ist's wahr, was Sie sagen?«

»Es ist wahr, Anthony – beim Andenken an sie schwöre ich es dir!«

»Mein Gott, mein Gott – dann hat mein Vater meinen Vater erschossen!«

»Im ehrlichen Kampf ist John Bard gefallen – Anthony Drew – um ihrer Ruhe willen. Auf dem Totenbett hatt' ich's ihr geschworen ...«

Fassungslos begann Anthony zu schluchzen. In Tränen verrann sein trotziger Zorn. Ruhig ließ er's geschehen, daß zwei riesige Arme sich um ihn schlangen und ihn zärtlich an ein wildklopfendes Herz drückten. Zögernd folgte Cilly Fortune dem Wink des Alten und trat näher.

Das »Aufgebot« hatte mit offenen Mäulern von der sicheren Höhe aus die Entwicklung der Dinge beobachtet. Stephan Nash wandte sich jetzt ab und ging zu seinem Pferd, das mit den übrigen in einiger Entfernung zwischen den Bäumen graste.

»Nanu?!« rief Conklin ihm empört zu. »Was ist denn los? Willst du vielleicht den ehrenhaften Auftrag, den Richter Glendin dir gegeben hat, nicht zu Ende führen?«

»Die Sache ist zu Ende! ... Siehst du denn nicht, daß Drew und Bard sich versöhnt haben?«

»Was ändert das an unserer Aufgabe? Zumal der eine ein Greenhorn und der andere waffenlos ist – hier liegen ja seine Revolver!«

»Schafskopf – wenn die zwei zusammenhalten, wird's Zeit, daß wir verduften! ... Kommt, Jungens!«

 

Ende

 


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