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7. Kapitel

Als Anthony Woodbury war er neben dem Sterbenden niedergekniet – als Anthony Bard stand er jetzt auf, den Toten in den Armen, der jedoch selbst für seine ungewöhnlichen Kräfte eine zu schwere Bürde war. Mühsam und wankend schleppte er ihn den Abhang hinauf, über die Terrasse, ins Haus hinein.

Auf seinen Ruf erschien Peters, dessen faltiges Gesicht beim Anblick seines toten Herrn vor Schreck weiß wurde. Als korrekter Diener stellte er jedoch keinerlei Fragen, sondern faßte zu und half den schweren Leichnam auf das Bett zu heben. Während Anthony sich anschickte, dort die Totenwache zu halten, ging Peters die Polizei und – für alle Fälle – den Arzt zu rufen ...

Dem alten Landgendarmen erzählte Anthony dann eine einfache, leichtverständliche Lüge. Sein Vater sei, da der Abend so mild und schön gewesen war, in den Garten hinausgegangen, und als er – Anthony – ihm dann später gefolgt, habe er ihn in den letzten Zügen gefunden. Wie er zu Tode gekommen sei, habe der Sterbende nicht mehr zu sagen vermocht ...

»Der Fall wundert mich gar nicht!« meinte der Gendarm bedächtig. »Ein reicher Mann – und das Anarchistengesindel heutzutage! ... Kann ich mich irgendwo hinsetzen – ich will meinen Bericht schreiben.«

Anthony führte den Graubart in die Bibliothek.

Als er sich später von ihm verabschiedete, sagte der würdige Beamte:

»Ich habe Herrn Woodbury nur vom Hörensagen gekannt – aber ich weiß, daß er ein ganzer Mann war. Nehmen Sie nochmals mein aufrichtiges Beileid zum Verlust eines solchen Vaters, junger Herr!«

Ergriffen schüttelte Anthony dem Braven die Hand. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ging er zu dem Geheimzimmer.

Obwohl der Schlüssel leicht ins Schloß glitt, öffnete er es langsam, zögernd, klopfenden Herzens. Erstaunt blickte er in einen kleinen, grau gestrichenen Raum mit einer gewölbten Decke, der bis auf einen Lehnsessel in der Mitte vollständig leer war. Eintretend entdeckte er dann noch drei Dinge: zwei Bilder, die an der Wand hingen, und eine kleine Schachtel, die auf einem Eckbrettchen im Winkel stand. Einigermaßen verblüfft und enttäuscht starrte Anthony vor sich hin. Die drei Sachen würden ihn schwerlich darüber aufklären, was ihm am meisten am Herzen lag. Jetzt interessierte ihn nur: wer war der Mörder seines Vaters, wo konnte er ihn finden, und warum hatte er ihn umgebracht? ...

Zunächst öffnete er die Schachtel. Sie enthielt etwas beschmutztes Werg und eine kleine Ölkanne. Sofort war ihm klar: hier hatte sein Vater den Revolver aufbewahrt, den er wahrscheinlich Jahre hindurch immer frisch geölt und saubergehalten hatte für den Fall, der heute abend eingetreten war. Darum war er hier hineingegangen, nachdem er den Ruf draußen im Garten vernommen hatte. Er war also darauf vorbereitet gewesen, daß dieser Ruf eines Tages kommen mußte. Das erklärte manches, auch im Charakter des Verstorbenen – nur eines nicht: das Motiv des unbekannten Täters ...

Anthony hatte sich in den Lehnstuhl gesetzt und grübelte. Plötzlich befiel ihn das seltsame Gefühl, als ob jemand ihn beobachte. Es rann ihm kalt über den Rücken, und es dauerte eine Weile, ehe er sich getraute, den Kopf zu wenden. Vorsichtig sah er über seine Schulter zurück. Natürlich war seine Empfindung Unsinn gewesen – er war allein ... Als er jetzt jedoch den Blick zur Wand hob, fuhr er entsetzt zusammen. Im ersten Moment dachte er, er selbst sei es, der da aus dem Rahmen herabschaue. Das Bild hatte dieselben dunklen Augen, dasselbe schwarze Haar, beinah die gleiche Adlernase und das gleiche ovale Gesicht – nur, wie er jetzt sah, ins Weibliche transponiert und im Ausdruck etwas verfeinert. Aber sogar der spöttische Zug um die Lippen war da, wenn auch abgeschwächt und gemildert ... Das mußte seine Mutter sein, nach der jener Mann ihn gefragt hatte!

Verlangend breitete er ihr die Arme entgegen – da erst ward er sich bewußt, daß das ja nur ein Schatten sei, ein totes Ding, ein Stück bemalter Leinwand ...

Ernüchtert wandte er sich dem zweiten Bilde zu. Es war kein Gemälde, sondern offensichtlich nur die Vergrößerung einer Photographie. Es zeigte im Hintergrund zwei hohe Bergspitzen, deren Gipfel schneebedeckt waren, ganz im Vordergrund eine mächtige Kiefer mit tief herabhängenden Zweigen, dahinter ein Farmerhaus und neben diesem, noch weiter zurück, die glatte Fläche eines Sees.

Niedergeschlagen wandte er sich ab und hatte schon die Tür erreicht, als ihm einfiel, sich die Photographie noch einmal näher zu betrachten. Waren da nicht irgendwo die Gestalten zweier großer grauhaariger Männer zu sehen, beide gleich breitschultrig und hünenhaft? ... Vergeblich suchte er die ganze Fläche ab.

Wo mochte dieses Haus liegen? ... Zweifellos im fernen Westen, woher der fremde Mann im Madison-Square-Garden gekommen war, und woher offenbar auch sein Vater, John Bard, stammte. Wenn er den finden wollte, der ihm den Vater erschlagen hatte, dann mußte er die beiden Berge suchen; – deren scharfe Zacken, die sich da schneegekrönt in den Himmel bohrten, waren der ruhende Pol, nach dem er zu steuern hatte ...

*

Ein fester Vorsatz ist für einen Mann, was die Maschine für ein Schiff. Wenn man sich einen Schiffsrumpf auf dem Wasser liegend vorstellt, so mag er noch so gut konstruiert sein, vollendet in jeder Linie – er bleibt eine tote, träge Masse. Erst die Maschine, die man in ihn einbaut, gibt ihm seinen Wert, macht seine schlanken Linien und seinen scharfen Bug sinnvoll ...

Ein solcher Schiffsrumpf ohne treibende Maschine war Anthony bisher gewesen. Jetzt hatte sein Leben Zweck und Ziel bekommen, und zielbewußt war alles, was er tat ...

Nachdem er den Leichnam seines Vaters auf dem höchsten Hügel seiner Besitzung, von dem man weit die Wogen des Meeres schäumen sah, beigesetzt hatte, betrat er wieder den geheimen Raum.

Seinen früheren Namen Anthony Woodbury hatte er offiziell abgelegt, denn seit jenem Augenblick, da er den Ruf vernommen »John Bard, komm heraus zu mir!« fühlte er sich nur als Anthony Bard. Dieses kurze, harte, fast brutale »Bard« schien ihm auch besser zu dem neuen Leben zu passen, das er zu führen gedachte ...

Mit einer gewissen Feierlichkeit öffnete er die Schachtel in der Ecke, in die er seines Vaters Revolver zurückgelegt hatte. Jetzt holte er ihn wieder heraus und schob ihn in die Tasche. Lange verweilte er dann vor dem Bilde jener Frau, die seine Mutter sein mußte. Er versuchte, in diesen dunklen, schwermütigen Augen zu lesen, in ihnen eine Billigung dessen zu entdecken, was er plante. Doch sie blieben starr und unbeweglich wie die Sterne am Himmel ...

Er wandte sich ab und schnitt rasch mit dem Messer die Photographie des Hauses, das am Fuß der schneebedeckten Bergriesen träumte, aus ihrem Rahmen und rollte sie sorglich zusammen. Sie packte er dann in seinen Koffer, fuhr zur Stadt, löste sich ein Billett und bestieg einen Zug, der ihn nach dem Westen bringen sollte ...


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