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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Wenn Alcatraz den Kopf wandte, so konnte er weit hinter sich die Verfolger sehen, die ihre Pferde anspornten, die letzten Kräfte herzugeben. Er paßte sich ihrer Schnelligkeit an und hielt sie ohne jede Anstrengung in genügender Entfernung. Sein ganzes Bestreben war darauf gerichtet, den leichtesten Weg auszusuchen und spitze Steine oder scharfe Wendungen zu vermeiden, die den Reiter gefährden konnten. Er wußte nicht, warum und weshalb, aber er fühlte den überwältigenden Trieb, der in jedem Vollblutpferde lebt, das gewaltige Verlangen: zu dienen. Ein Mustang wäre eines solchen Verhaltens nicht fähig gewesen, aber in Alcatraz pulste das reine Blut seiner arabischen Vorfahren, das auf das Geschlecht der alten Wüstenpferde zurückging, und auf eine Zeit, in der die Pferde im Zelt ihres Herrn als die geliebtesten Mitglieder der Familie lebten. Ein dumpfes Bewußtsein von Dingen war in Alcatraz, die er selbst niemals erlebt hatte, doch aus seiner Abstammung heraus empfand er das Bedürfnis nach der Liebe und Treue des Menschen ebenso, wie ihm das kühne Herz des Rennpferdes angeboren war. Nun kannte er das Entzücken des Dienens bis zum letzten, da er das Leben eines hilflosen Menschen in seiner Obhut wußte.

Er legte ein Ohr zurück, um die schmerzliche Stimme besser hören zu können, die in sein Ohr sprach. Sie wurde schwächer und schwächer, ebenso wie der Halt der Beine nachließ; die Hände griffen weniger fest in die Mähne, aber nun schimmerten bereits die hellen Gebäude der Ranch durch die Bäume. Sie ritten durch den Stacheldrahtzaun und hörten weit hinter sich die Hufschläge der verfolgenden Pferde, die dem Hengst sagten, daß jede Hoffnung auf Entkommen nun endgültig begraben war. Aber immer noch zeigte ihm der Mann auf seinem Rücken den Weg durch einen Wirrwarr von Witterungen der Menschen und menschengerittenen Pferde. Die Last auf seinem Rücken schwankte jetzt bei jedem Galoppsprung von einer Seite zur anderen. Dann tauchte das Ranchhaus selbst vor ihnen auf, und die fast versagende Stimme erhob sich für einen Augenblick zu einem heiseren Freudenschrei. Weit hinten klang ein triumphierendes Echo wider. Nun war die Falle geschlossen, und der einzige Schutz vor den Männern, die da hinten ritten, war das halbtote Wesen auf seinem Rücken.

Aus dem Torbogen des Hofes lief ein Mädchen; sie taumelte gegen die Wand zurück und hob eine Hand, als ob sie ein Wunder, eine Vision erblickte. Alcatraz fiel in einen Trab, der den kraftlosen Körper auf seinem Rücken hin und her schüttelte, und ging dann widerstrebend im Schritt weiter, denn der Reiter wandte seine letzte Energie auf, um ihn nahe an das Mädchen heranzubringen. Nun stieß diese einen schrillen Schrei aus, und durch den dunklen Torbogen schwang sich die Gestalt eines großen Mannes auf Krücken, der ebenso vor Erstaunen aufschrie, wie es das Mädchen getan hatte.

Oliver Jordan war über den seltsamen Brief seines Inspektors doch stutzig geworden und war schnell zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu sehen. Aus der Erzählung seiner Tochter hatte er dann mehr als genug erfahren.

Obgleich Alcatraz zitterte, weil die beiden Menschenwesen ihm so nahe waren, durchschritt er, getrieben von der schwachen Stimme und den leitenden Händen, den Torbogen. Nun befand er sich wieder – und für immer – in der Gewalt der Menschen!

Der schwache Körper glitt langsam zur Seite von seinem Rücken herunter. Alcatraz sah, wie das Torgitter sich schloß, er sah, wie das Mädchen mit einem Schrei herzulief und die blutende Gestalt des roten Jim in ihren Armen auffing, er sah, wie der Mann auf den Krücken sich herbeischwang und rief: »– und sogar ohne Zügel! Marianne, er muß das Pferd hypnotisiert haben!«

»Vater«, klagte das Mädchen, »wenn er stirbt – wenn er stirbt –« Perris lag auf den Fliesen und öffnete müde die Augen.

»Ich werde leben – ich kann nicht sterben! Aber Alcatraz ... Schützt ihn vor dem Schlächter Hervey ... Schützt ihn ...«

Dann trafen seine Blicke Oliver Jordan, und seine Augen wurden vor Erstaunen weit.

»Es ist mein Vater«, sagte Marianne. Sie schnitt jetzt das Hemd auf, um die Wunde bloß zu legen.

»Er!« sagte Perris leise.

»Lieber Freund«, sagte Oliver Jordan und beugte sich auf seinen Krücken über den Verwundeten, »wir wollen ruhen lassen, was geschehen ist.«

»Hm«, machte Perris und lächelte schwach. »Wenn Sie ihr Vater sind, dann will ich diese Spur nicht mehr verfolgen. Marianne, gib mir die Hand – ich werde wieder ohnmächtig ... Schütze Alcatraz ...«

Dann schlossen sich seine Augen.

Marianne und die Köchin brachten die kraftlose Gestalt unter die Arkade, als Hervey und seine Leute vor das geschlossene Gitter des Hofes sprengten. Der Inspektor parierte sein Pferd in einer Staubwolke und fluchte vor Überraschung, als er Oliver Jordan erblickte.

Die Gruppe im Hof und die glänzende Gestalt des Hengstes erklärten alles. Die Pläne des Inspektors waren im letzten Augenblick kurz vor dem Triumph zunichte geworden. Es war kaum noch nötig, daß er die Stimme Jordans hörte, der sagte: »Ich habe Sie gebeten, einen brutalen Raufbold zu erledigen, und Sie haben versucht, einen Mann zu ermorden. Hervey, verlassen Sie unser Tal und kommen Sie nie wieder zurück, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!«

Und Hervey ging.

 

Für Alcatraz folgte eine sonderbare Zeit. Er ließ sich nicht vom Hofe wegführen. Man hätte ihm Stricke um jedes Bein legen und ihn so hinausziehen müssen, aber Marianne wollte nicht, daß die Cowboys Gewalt anwendeten. So lief er Tag um Tag in dieser sonderbaren Koppel herum, während Menschen kamen und ihn durch das starke Gitter des Tors anstarrten. Doch niemand wagte, den Innenraum zu betreten, in dem das Wildpferd war, außer Marianne allein, und auch sie durfte ihn nicht berühren.

Es war alles sehr seltsam. Das schlimmste aber war, wenn das Mädchen aus der Tür trat, durch die man den Herrn hindurchgetragen hatte, auf Alcatraz blickte und weinte. Jeden Abend kam sie und konnte dem ängstlichen Wiehern, mit dem Alcatraz nach Jim rief, keine Antwort geben.

Seltsam war auch das Schweigen, das über dem Hause lag. Sogar die Cowboys sprachen nur leise, wenn sie an das Gitter kamen. Aber der Herr erschien immer noch nicht wieder. Zwei Wochen vergingen, lange Wochen des Wartens, ehe sich die Tür des Hauses öffnete und sie ihn auf einer Tragbahre herausbrachten: eine blasse, eingefallene Gestalt, neben der das Mädchen und der Mann auf den Krücken und ein halbes Dutzend Cowboys standen, die lachten und durcheinandersprachen.

»Tretet jetzt alle zurück«, befahl Marianne, »und paßt auf, was Alcatraz tut.«

Sie zogen sich unter die Arkade zurück, und Alcatraz hörte die schwache Stimme des Herrn, die ihn leise rief.

Es war nicht gut, daß die anderen so nahe dabei waren. Konnte nicht ein Lasso fliegen oder eine Waffe plötzlich aufblitzen? Aber immer noch rief die Stimme, und Alcatraz ging mit ängstlich widerstrebendem Schnauben langsam vorwärts, bis er am Ende der Bahre stand und, während er die entfernt Stehenden ängstlich ansah, seine Nase ausstreckte, um die Hand des roten Jim zu beschnuppern. Die Hand drehte sich und streichelte ihn sanft. Da wandte Alcatraz den Blick von den andern und senkte ihn in die Augen dieses einen Mannes, in diese geheimnisvollen Augen, die so viel verstanden.

»Ein einsamer Weg ist nur eine Zeitlang schön, mein alter Junge«, sagte der rote Jim, »aber schließlich brauchen wir Freunde, Mann und Frau, und Pferd und Mann.«

Alcatraz fühlte, wie die Fingerspitzen ihm sanft über das samtweiche Maul strichen, und war ganz derselben Meinung.

*

 


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