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Siebzehntes Kapitel

Alcatraz warnte vom Kamm des Hügels aus die Stuten mit einem Schnauben. Die Stuten hoben, eine nach der anderen, ihre schönen Köpfe; nur die Graue trabte, wie sie es in Augenblicken der Gefahr oder der Unentschlossenheit zu tun pflegte, an die Seite des Leithengstes und blickte über das hügelige Gelände, das sich unter ihnen ausbreitete. Sie faßte sofort ihren Entschluß, schüttelte den Kopf, wandte sich zur Seite und begann, den Hügel nach links hinunterzutraben. Alcatraz rief sie mit einem neuen Schnauben zurück; er kannte genau so gut wie sie die Bedeutung des schwachen Geruches, den der Ostwind mit sich brachte. Es war die Witterung des Menschen, ganz unverkennbar die des »großen Feindes«; aber während der letzten fünf Tage hatte der Geruch immer hier oder dort in der Luft gehangen. Trotzdem war in dem ganzen meilenweiten Gebiet, das er überblicken konnte, kein Zeichen eines Menschen oder ein Ort zu finden gewesen, an dem sich ein Mann hätte verstecken können. Es gab keine Bäume, auch keine alten gefallenen Stämme oder Baumstümpfe. In der ganzen Gegend lag kein Stein, der so groß gewesen wäre, daß auch nur ein Kaninchen dahinter Schutz finden konnte. Aber dennoch schwebte geheimnisvoll die Menschenwitterung in der Luft.

Alcatraz stampfte ungeduldig den Boden und schüttelte ärgerlich den Kopf zur Antwort, als die graue Stute wieherte. Es ärgerte ihn, sie als Warnerin, die noch dazu immer recht hatte, neben sich zu haben; außerdem schämte er sich ein bißchen, daß er ihren Rat manchmal einfach notwendig hatte. Gewiß konnte er besser beurteilen, was im Gebirge zu sehen oder zu wittern war, als die Halbblutstuten; aber wenn er auch fünfzig Jahre alt werden würde, wäre er doch niemals imstande gewesen, die Fülle an Erfahrung zu sammeln und die unfehlbare Sicherheit von Auge, Ohr und Nase zu erwerben, wie es der wilden, grauen Stute möglich gewesen war. Sie schien manchmal so weit sehen zu können wie die hochfliegenden Bussarde, denn sie erriet es geradezu, welche Wasserlöcher trocken und welche gefüllt waren, obwohl sie meilenweit entfernt lagen. Sie wußte, welche Pfade infolge steiler Abstürze sich als ungangbar erwiesen, und ahnte, wo neue Pfade gebrochen oder gefunden werden konnten. Sie war sich sofort klar, wann es ratsam erschien, Schutz vor einem herankommenden Sandsturm zu suchen, sie kannte die Gegenden, in denen das dickste und saftigste Gras auf entfernten Hügelabhängen wuchs. Und so besaß sie einen unausschöpfbaren Schatz an unentbehrlichen Kenntnissen.

Alcatraz fühlte, daß er nur in einer Beziehung seine Rivalin überträfe, und zwar in der allerwichtigsten: in der Kenntnis des »großen Zerstörers«. Die Stute kannte den Menschen nur aus der Entfernung, während Alcatraz die gefürchtete Witterung ganz in der Nähe eingesogen hatte.

Nein, es gab ganz bestimmt hier keinen Ort, an dem ein Mensch versteckt sein konnte: der Geruch mußte eine Täuschung sein, die ihn narrte. Natürlich gab es andere, kaum weniger bequeme Wege zur Wasserstelle, aber warum sollte er sich Tag für Tag gerade vom leichtesten Wege durch diese haltlose Warnung abbringen lassen? So begann er den Hügel hinunterzutraben.

Die graue Stute folgte ihm sofort mit ängstlichem Wiehern. Obgleich sie ihn im vollen Galopp ein über das andere Mal umkreiste, hielt er seinen Lauf nicht an, und als sie versuchte, ihm den Weg zu versperren, hob er den Kopf und stieß sie mit der Wucht der Schultern und der Brust beiseite. Darauf gab sie es auf, ihn mit Gewalt zu überzeugen, und folgte ihm still. Manchmal blieb sie stehen und wieherte traurig hinter dem hartnäckigen Führer her, so daß auch die Stuten, die sonst blind zu folgen pflegten, Furcht bekamen und sich in einer Gruppe auf halbem Weg zwischen Alcatraz und der grauen Stute zusammendrängten. Es kränkte den stolzen Hengst sehr, daß sie in ihrem Vertrauen schwankten. Zweimal mäßigte er sein Tempo und rief ihnen zu, sich zu beeilen. Als sie nur mit einem ängstlichen Trabe antworteten, sah er sich genötigt, seine Ungeduld zu verbergen. So fiel er in Schritt und rupfte ab und zu imaginäre Gräser vom Boden, um die andern zu bewegen, ihm näher zu kommen.

Die Witterung war stärker geworden und schien mit dem Ostwind näher am Boden zu schweben. Immer wieder hob Alcatraz den Kopf und sah sich aufmerksam um; aber er mußte jedes lebende Wesen im Umkreis von hundert Metern sehen können, während der Geruch von einem Menschen sprach, der nicht weiter als einen Sprung entfernt war. Einmal schien es seiner erregten Einbildungskraft, als er den Kopf senkte, um an einem Büschel trockenen Grases zu schnuppern, daß er das Atmen eines Menschen vernähme.

Er wies den törichten Gedanken von sich. Nachdem er sich durch einen Blick überzeugt hatte, daß seine Gefährtinnen ihm folgten, trat er mutig gerade dahin, wo die Witterung aufzusteigen schien. Nun war die Erscheinung örtlich durch seinen Geruchssinn so deutlich für ihn bestimmt, daß es Alcatraz schien, als könne er genau den Platz auf dem Hügelabhang ausmachen, an dem hinter einem schmalen Felsen das geisterhafte Wesen liegen müsse. Er hielt es indessen für unter seiner Würde, vor der leeren Luft zu flüchten, und trotzdem sein Herz heftig schlug, hob er den Kopf und schritt mutig vorwärts. Der gefährliche Ort lag schon zur Linken hinter ihm, als ein ängstliches Quieken der grauen Stute weit hinten Alcatraz plötzlich wie eine Katze zur Seite springen ließ.

Wie durch Zauberei wuchsen aus dem Sand hinter dem kleinen Felsen der Kopf und die Schultern eines Mannes hervor, dessen Schatten über den sonnigen Abhang huschte. In der Hand schwang er eine sich schnell verlängernde Seilschlinge. Als sein Arm zurückfuhr, streifte er ihm den Hut ab und ließ einen Schopf roter Haare sehen. Das alles nahm Alcatraz wahr, während er den Bruchteil einer Sekunde lang vor Furcht unfähig war, sich zu bewegen. Sosehr er die Erscheinung des Menschen selbst fürchtete, flößte ihm die durch die Luft sausende Schlinge noch mehr Angst ein. Hatte er nicht in der Hand Manuel Cordovas das tote Ding ein schlangengleiches Leben bekommen sehen. Der erstarrende Schreck ließ nach, und der Sand stob unter dem Schlag der Hinterhufe in die Höhe, als sich Alcatraz vorwärts warf. – Wäre der Grund unter ihm fest gewesen, hätte er der Gefahr entrinnen können, aber so wie es war, hörte er das lebendige Seil in der Luft über seinem Kopf sausen.

Er stemmte die Vorderbeine gegen den Boden, brach die Wucht seiner Vorwärtsbewegung und warf sich zur Seite. Hätte der Grund nicht nachgegeben, würde er die Bewegung mit Erfolg durchgeführt haben; aber jetzt flog die Schlinge über sein Ohr. Als das Seil seinen Hals berührte, schien es Alcatraz, als ob jede Wunde, die ihm die Hand des Menschen zugefügt, plötzlich wieder schmerzte und blutete. Die Haut an seinen Flanken zitterte, wo die Sporen Cordovas immer und immer wieder die Haut aufgerissen hatten. Auf Schultern, Bauch und Hüfte meinte er brennende Streifen zu spüren, wo die Gerte ihre Schwielen hinterlassen hatte. Am schlimmsten aber war, daß er im Maule den Geschmack von Eisen und den seines eigenen Blutes zu spüren glaubte, wo das spanische Gebiß seine Lefzen aufgerissen hatte. Aus den Tagen seiner Jugend hätte er sich an die erste und bitterste Lehre entsinnen können, nämlich, daß es Torheit ist, sich gegen den Zug eines Seiles zu stemmen; aber jetzt sah er nur die fliehenden Gestalten der sieben Stuten und seine eigene Freiheit vor sich, die mit diesen verschwand. Als er sich mitten im Sprunge befand, zog sich das Seil zusammen, grub sich in einem brennenden Kreis in das Fleisch unten an seinem Halse ein, und er stürzte auf die Erde. Keines Mannes Kraft hätte ihn so schnell zu Boden bringen können, aber der tückische Feind hatte eine Seilschlinge um die Spitze jenes tief in der Erde steckenden Steines gewunden. Als er stürzte, verlor er die Besinnung nicht; im Gegenteil, der Chok befreite ihn von seiner maßlosen Furcht und gab ihm seine alte Klugheit wieder, zugleich mit jener wilden Wut, vor der sich Cordova gefürchtet hatte, nur daß diese jetzt zehnmal furchtbarer war, seitdem er in der Freiheit lebte und seine volle Kraft wiedergefunden hatte. Die Wucht des Falles selbst benutzte er dazu, um wieder auf die Füße zu rollen, und als er stand, wußte er, was er zu tun hatte. Es war immer Wahnsinn, gegen die Werkzeuge des Menschen zu kämpfen, und brachte nur Schmerzen ein. Wie ein guter Feldherr entschloß er sich, den Kampf durch einen Angriff auf die gefährlichste Stelle selbst zu beenden, fuhr auf den Hinterbeinen herum und ging auf Jim Perris los.

Der erste Sprung enthüllte ihm das Geheimnis, das die Gegenwart des Mannes für ihn gebildet hatte. Dieser hatte hinter dem Felsen, der an sich kaum Schutz für seinen Kopf geboten hätte, eine Grube gegraben, die groß genug war, seinen ganzen liegenden Körper aufzunehmen. Der Sand, den er ausgehoben, war über den Abhang verstreut worden, so daß auch das wachsamste Auge nichts Verdächtiges hatte erblicken können. Nun war er aus seinem Versteck gesprungen und damit beschäftigt, die um den Felsen gelegte Seilschlinge zu lösen. Als er damit fertig war, drehte sich Alcatraz gerade um, und nun sah Perris dem Angriff mit dem Seil in der Hand entgegen. Was konnte er tun? Es gab nur einen Ausweg, und der Hengst sah, daß der schwere Revolver, ein glänzendes Stück Metall, gerade auf ihn gerichtet war. Er wußte, was dies zu bedeuten hatte und daß die einzige Hoffnung im schnellen Angriff lag. Nach einem zweiten Sprung konnte er über dem schwachen Menschenwesen sein, um es mit seinen Zähnen zu zerreißen und mit seinen Hufen zu zerschmettern. – Und dann geschah ein Wunder. Der Revolver flog beiseite, beschrieb einen glänzenden Bogen durch die Luft und berührte mit dumpfem Klang den Sand. Perris wollte lieber sein Leben aufs Spiel setzen, als den Kampf mit einer Kugel beendigen, bevor er recht begonnen hatte. Er bückte sich über das Seil, als ob er sich entschlossen habe, die Wucht des Angriffs zu erwarten. Aber das hatte er nicht im Sinn. Als der Hengst auf ihn losfuhr, wich er nach der Seite aus, so daß der Vorderhuf, mit dem Alcatraz nach ihm schlug, nur im Rücken sein Hemd aufriß.

Eine Finte hatte ihn gerettet, doch Alcatraz war kein Stier, der zweimal blindlings angreift. Er brachte sich selbst so plötzlich zum Halten, daß er eine dichte Sandwolke aufwirbelte, aus der er sich wütend drehte, um den Kampf zu beendigen. Trotzdem riß das schwache, törichte Geschöpf vor ihm nicht aus, sondern hielt seine Stellung. Der Mann nahm seltsame Dinge mit dem Seile vor, das er in schnellen Spiralen dicht über den Boden gleiten ließ. Mochte er tun, was er wollte, seine Tage hatten ihr Ende erreicht. Alcatraz entblößte seine Zähne, legte die Ohren zurück und griff von neuem an. Ein anderes Wunder! Als sein Vorderfuß den Boden gerade mitten in einem von jenen Seilkreisen berührte, sprang der rothaarige Mann zurück, der Kreis flog wie ein lebendes Wesen in die Höhe und legte sich zwischen Fessel und Huf um beide Vorderbeine. Als Alcatraz den nächsten Sprung versuchte, brachen seine Vorderbeine unter ihm zusammen. Gerade vor Perris stürzte er in den Sand.

Noch einmal versuchte er, sich herumzuwälzen, um auf die Füße zu kommen, aber als er auf dem Rücken lag, sauste das Seil wieder über ihn hinweg, die Hinterbeine waren in der Schlinge gefangen, und Alcatraz lag strampelnd und schnaubend, aber vollkommen hilflos auf der Seite.

Plötzlich hörte er auf zu kämpfen. Um den Hals und alle vier Hufe lag der brennende, so bitter vertraute Griff des Seiles: der Mensch hatte ihn wieder zum Sklaven gemacht. Alcatraz ergab sich in das Unvermeidliche. Nun würde er eine schnelle Folge von Flüchen, dann das Sausen der Peitsche hören und ihren Biß fühlen. Oder nein, bei einer so günstigen Gelegenheit würde der Mensch einen großen derben Stock nehmen und ihm damit über die Rippen schlagen. Warum nicht? Dieser Mann mit den flammend roten Haaren würde ihn ebenso behandeln, wie es Cordova getan hatte, dem er in einer Beziehung außerordentlich glich; auch er beeilte sich nicht, sondern nahm erst seinen Revolver auf und steckte ihn in den Halfter, nachdem er den Sand so gut wie möglich von der Trommel geblasen hatte. Dann setzte er seinen heruntergefallenen Hut auf, trat zurück, während er die Hände hängen ließ, und sah den Gefangenen an. Zum erstenmal sprach er, und Alcatraz schauderte beim Klang einer Stimme, die ebenso sanft war wie die Cordovas und denselben wohlbekannten Ton jubelnder Freude in sich hatte.

»Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott! So ein Pferd kann es ja gar nicht geben. Jim, du träumst. Reib dir deine dummen Augen und wach auf!«

Nun begann er, in einem Kreise um sein Opfer herumzugehen, und Alcatraz fing an zu zittern, als der Sieger hinter ihm war. Das war Cordovas Art gewesen: an einen Platz zu gehen, wo er nicht gesehen werden konnte, und dann plötzlich grausam zuzuschlagen. Zur grenzenlosen Überraschung des Hengstes lehnte sich Perris über ihn und setzte sich dann ruhig auf die Schulter des Fuchses nieder. Zwei Gedanken blitzten durch den Kopf des Hengstes: er konnte eine krampfhafte Anstrengung machen, um sich zu erheben, und versuchen, den unverschämten Satan zu erdrücken, oder er konnte den Kopf herumwerfen und Perris mit den Zähnen fassen. Ein dritter und besserer Gedanke aber folgte sofort, nämlich daß er, gebunden wie er war, nur wenig Aussicht hätte, dieses geschickte Irrlicht von einem Menschen zu erwischen. Er konnte es nicht verhindern, daß ein Schauder über seinen Leib flog, aber darüber hinaus bewegte er sich nicht.

Der Sieger nahm sich andere Freiheiten heraus, an die Cordova auch in den tollsten Momenten niemals gedacht haben würde. Neugierige und zarte Fingerspitzen fuhren über die langen Schultermuskeln und über den oberen Teil der Vorderbeine. Das kitzelte ihn und war ihm nicht einmal unangenehm. Wieder begann die Hand oben am Hals, streichelte unter der Mähne entlang, und zu gleicher Zeit murmelte die Stimme: »O du schönes Tier, du schönes Tier!« Alcatraz' Herz weitete sich, er hatte zum erstenmal eine Liebkosung gespürt.


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