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Sechstes Kapitel

Alcatraz flüchtete in der Richtung der Adlerberge, die sich wie blauer, vom Winde getriebener Rauch erhoben, sprang über die Zäune zwischen den kleinen Feldern bei Glosterville und erreichte endlich die weiteren Gebiete am Fuße der Hügel. Hier, wo das Gelände sich zu erheben anfing, blieb er zum erstenmal stehen und sah zurück.

Die in der Hitze zitternde Luft ließ Glosterville nur undeutlich erkennen, aber der Wind trug ihm von einem Hause, versteckt zwischen den Hügeln, den Geruch des Rauches von einem Holzfeuer zu; er mischte sich mit der greulichen Witterung des Menschen. Manche alte Sporennarbe und manche beißende Peitschenspur begann den Hengst zu schmerzen; doch wie aus einem Hintergrund von Schmerz blühte das neue Entzücken auf, die Freiheit gewonnen zu haben.

Gleich als ob die neue Freiheit zugleich mit der Freude auch seine Muskeln schwellen ließ, schien der Körper des Hengstes fülliger zu werden, sein Hals bog sich, und in seine Augen kam das Feuer, das kein Mensch beschreiben kann und das man »Leuchten der Wildnis« nennen muß.

Gewiß empfand der Hengst noch Furcht und würde sie auch noch weiterhin empfinden, denn die Gedanken an den Menschen folgten ihm wie ein Rudel galoppierender Pferde, aber das war nur ein kleiner Schatten in der sonnigen Helle seines neuen Daseins! Er hatte die Bitterkeit der Gefangenschaft genossen, seitdem ihn Cordova als Teilzahlung für eine in der Trunkenheit gewonnene Spielschuld als schwächliches Fohlen einer alten Vollblutstute annehmen mußte. Der Vater war unbekannt, und Cordova, dem es höchst unangenehm war, dieses klägliche Stückchen Pferdefleisch an Stelle von Geld annehmen zu müssen, hatte erst einmal den sechs Monate alten Hengst tüchtig geschlagen und dann auf die Weide gelassen. Eine kurze glückliche Zeit im Freien folgte; aber als das neue, kurze, dicke, süße und unter den Zähnen knirschende Gras wuchs, kam Cordova auf die Weide und sah zu seiner Verwunderung, wie der Jährling in gestrecktem Galopp die schnellsten der älteren Pferde hinter sich ließ. Einen Augenblick lang lehnte er sich an den Zaun und sah mit glitzernden Augen zu; dann versank er in Träume. Als er aus diesen erwachte, nahm er Alcatraz von der Weide und stellte ihn in den Stall. Alcatraz hatte dies empfunden wie Hiob sein erstes Unglück; es bedeutete den Anfang der Kümmernis, die er drei Jahre und länger wahrlich nicht sanft, vielmehr mit verzehrendem Haß erduldet hatte. Denn großer Haß gibt große Stärke. Der Haß gegen Cordova stärkte das Herz des Hengstes, durchzuhalten. Er hatte gelernt, seine Tage mit der Geduld eines Luchses zu leben, der wartet, bis das Stachelschwein seine Stacheln einzieht, oder mit der Geduld einer Katze, die stundenlang vor dem Mauseloch liegt. So hielt auch Alcatraz aus. Einmal im Monat, vielleicht nur einmal im Jahre, fand er Gelegenheit, nach seinem Herrn auszuschlagen oder zu steigen und dabei die Vorderhufe nach ihm zu schmettern oder wie ein Wolf nach ihm zu schnappen. Wenn er sein Ziel verfehlte, so wurde er gleich geschlagen, wenn er traf, erst etwas später. So war der sehnsüchtige Traum in ihm gewachsen, einmal diesen Menschen unter seine Hufe zu bekommen. Noch jetzt, auf dem Gipfel des Hügels, zitterte jeder Nerv seiner Vorderbeine, wenn er sich daran erinnerte, daß das lebendige Fleisch unter seinen stampfenden Hufen gelegen hatte.

Man hat manchmal gesagt, daß ein Sieg in schwerem Finish eines Rennens den Pferden das Herz weitet, während eine Niederlage es ihnen brechen kann. Alcatraz, der so viele Niederlagen erlitten hatte, war endlich Sieger. So war der Triumph doppelt süß. Es war kein Zufall gewesen. Mehr als einmal hatte er die Stärke des alten Halfterseiles heimlich probiert, wenn niemand zusah, hatte gemerkt, wie es sich streckte und unter dem Gewicht seines Körpers nachgab; aber der Hengst hatte längst gelernt, daß es nichts nützte, den Strick zu zerreißen, solange ihn Stallwände oder hohe Koppelzäune umgaben. Einen Augenblick kurzer Freiheit bedeutete nichts; so hatte er gewartet, bis er den hohen Himmel über sich hatte und das freie Land vor sich sah. Das war der Lohn für seine Geduld.

Das kurze abgerissene Ende des Stricks hing unter seinem Kinn herab; sein Hals brannte, wo ihn der Strick wundgescheuert hatte. Aber das waren nur kleine Leiden, und die Freiheit heilte alles. Später würde er schon den Halfter abstreifen, wie nur er allein es vermochte. Der Wind drehte sich scharf nach Norden und nach Westen; er brachte den Duft der Wälder von den Hängen der Adlerberge, und Alcatraz machte sich auf den Weg zu ihnen. Er wäre gerne geblieben, wo er war, um zu rasten, aber er wußte, daß die Menschen nicht so leicht etwas aufgeben. Was dem einen mißlingt, versucht eine ganze Horde von neuem. Und was noch mehr heißt, die Menschen verstehen es, zu überraschen und sich mit unendlicher Schlauheit heranzupirschen. Wenn sich Alcatraz im Stall gerade recht sicher fühlte und mit gesenktem Kopfe fraß, so daß er durch die Krippe am Sehen behindert war, suchte der Mexikaner sich gerade diesen Augenblick aus, um ihm, oft genug, irgendeinen grausamen Streich zu spielen. Alcatraz' Lippe zog sich von seinen Zähnen zurück, als er daran dachte. Eine Lehre war mit den Buchstaben des Schmerzes in seine Seele gegraben: wenn es am friedlichsten zu sein scheint, nimm dich vor den Menschen in acht!

An diesem Tage lief Alcatraz in der Richtung der Berge weiter. In der Nacht wählte er sich den höchsten Hügel, den er finden konnte, und ruhte sich dort aus, da ihm die weite Aussicht die Sicherheit gab, ihn vor jeder Gefahr zu warnen; mochte er auch noch so fest schlafen. Der schreckliche Geruch von Menschen, die sich näherten, würde ihn schnell auf die Füße bringen.

Tausend leise Geräusche beunruhigten Alcatraz, denn die Freiheit gab der Nacht für ihn ein neues Gesicht. Manchmal wachte er erschrocken auf und glaubte, daß die Sterne die brennenden Laternen von vielen Menschen seien, die nach ihm suchten. Manchmal hob er im Liegen den Kopf hoch und lauschte auf das unheimliche Schweigen der Berge und der pulsenden Nacht. Immer und immer flüstert und wispert etwas in der Ferne. Menschen, die gejagt wurden, haben das gehört. Für Alcatraz war es zugleich voller Süßigkeit und Schrecken. Er wußte nicht, woher es kam; auch die Menschen können es nicht verstehen. Vielleicht ist es der Ruf der wilden Tiere, den man kaum noch vernimmt. Dieser Grundton der Berge beunruhigte und erschreckte Alcatraz während der ersten Nacht seiner Freiheit, später lernte er ihn sehr lieben.

Mit der Morgendämmerung erhob er sich, um sich nach Futter umzusehen, und fand Büschelgras. Er war so völlig an Stallfütterung gewöhnt, daß diese Nahrung für ihn neu war. Seine Nase überzeugte ihn immer wieder, daß er das Gras wirklich fressen könne, aber seine Augen betrachteten die staubigen, acht oder zehn Zentimeter breiten und halb so hohen Büschel, über die ein paar längere Halme mit den Samenkapseln hinausragten, argwöhnisch. Als er sich endlich entschloß, es zu versuchen, fand er es köstlich. In der Tat ist es wohl eins der feinsten Gräser der Welt.

Er fraß langsam, denn er unterbrach sein Grasen, indem er immer wieder in die Richtung der Berge blickte. Das Adlergebirge wuchs aus der Dämmerung, wurde purpurn und dann blau, während der zarteste Lavendelduft in den Tälern und rosiges Licht auf den Gipfeln ruhte. Endlich schlug der volle Morgen mit einemmal über den Himmel, Tageswind erhob sich und ließ des Hengstes Mähne flattern.

Alcatraz beobachtete diese Veränderungen mit freundlichem Auge, ungefähr wie einer, der noch nie einen Sonnenaufgang gesehen hat. Und geradeso wie er immer die Koppel, auf der er stand, als sein persönliches Eigentum betrachtet hatte, und es für jedes andere Wesen gefährlich gewesen wäre, sie zu betreten, so wandte er sich nun dem Abhang der höhergelegenen Hügel und den hohen Erhebungen des Gebirges zu, die sich über die Hügel und Vorberge mit ihrem sanften Abfall zur Ebene hin erhoben; denn es schien Alcatraz, daß auch dies eine große Koppel sei, die ihm allein gehöre. Der Horizont bildete ihren Zaun; was in seinem Umkreis lag, war sein Besitztum. Er blieb auf einem höheren Hügelgipfel stehen und gab seinem Herrschergefühl in einem Wiehern Ausdruck, das hoch in die Luft stieg und sich den Abhang hinuntersenkte. Dann wandte er den Kopf und lauschte. Ein Stier brüllte Antwort, nicht stärker erscholl sie als ein entfernter Vogelruf. Und da war noch ein anderer Klang, den er gerade noch hören konnte. Alcatraz kannte ihn nicht, aber er jagte ihm einen Schauer über den Leib. Bald sollte er ihn als das Geheul eines streifenden Wolfes erkennen, des grauen Geistes, der als Mörder durch die Gebirge schweift.

So schwach die Klänge auch waren, überzeugten sie Alcatraz doch, daß seine Ansprüche auf unbeschränkte Herrschaft heftig umstritten werden würden. Aber was ist Besitz schließlich wert, wenn es sich nicht lohnt, für ihn zu kämpfen? So lief er den Hügelhang hinunter und ging von Grasbüschel zu Grasbüschel. Während der ganzen Zeit suchte er mit seinen feinfühligen Nüstern nach dem Geruch von Wasser und hob alle Augenblicke den Kopf, um die darüberliegenden Gerüche zu prüfen und gerüstet zu sein, wenn sie ihm eine Gefahr anzeigten. Endlich brachte ihm der die Hügel aufwärtsstreichende Wind den Geruch einer Wasserstelle, und er galoppierte freudig auf diese los. Es war ein sumpfiger Platz, den ein Abhang aus grünlicher, sonnengetrockneter Erde auf allen Seiten umgab. Alcatraz stand am Rand, atmete angewidert den schalen Geruch ein und strich leise mit der Oberlippe über die Wasserfläche, bevor er sich zum Trinken entschließen konnte. Das Wasser schmeckte indessen gar nicht so schlecht; auch hing ihm nichts vom Menschen an. Etwas weiter abwärts war ein Reh gelaufen, dessen zierliche Fußtapfen sich in dem ausgedörrten Schlamm abzeichneten; außerdem führte die breite Schleiffährte eines Stieres zum Wasser.

Alcatraz stieg tiefer hinein. Das Gefühl der Kühle war angenehm, als sie über seine Hufe und die empfindliche Haut der Fesseln stieg. Wieder trank er in kräftigen Zügen, während er seine Nase ganz ins Wasser steckte, wie es ein gutes Pferd tun soll, und das Wasser in sich hineinsog. Als er wieder herauskam und den Schlamm von seinen Füßen stampfte, war er ein anderes Wesen: er hatte in seiner neuen Heimat geschlafen, gefressen und getrunken.

Später bummelte er müßig durch die Hügelgegend, fraß viel, trank oft und war bemüht, in wenigen Wochen die langen Hungerjahre unter der Herrschaft des Mexikaners auszugleichen. Das wirkte erstaunlich auf seinen Körper. Sein Fell wurde glatt, sein Leib rundete sich, an seinem Hals strafften sich neue Muskeln, sogar die Mähne und der Schweif verschönten sich. Nun wurde er das Pferd, von dem er vorher nur die Karikatur gewesen war. In vieler Beziehung war es ein einsames Leben, aber gerade die Einsamkeit war dem Hengst sehr willkommen. Außerdem hatte er viel zu lernen und sein im langen Kampf gegen den Menschen trainiertes Gehirn nahm die Lehren, die ihm die Wildnis gab, mit wunderbarer Schnelligkeit auf. Wäre nicht der »große Feind« dazwischengekommen, so hätte er sich wahrscheinlich unbegrenzte Zeit in der angenehmen Gegend der Hügel aufgehalten.

Aber der Mensch fand ihn. Es war einige Wochen später, während er eines Tages mit großem Interesse eine Meute von Präriehunden betrachtete. Die kleinen Tiere saßen an den Löchern ihrer Erdbehausungen und kläfften. Alcatraz war so tief in den Anblick versunken, daß er die Annäherung eines Reiters gegen den Wind nicht bemerkte, bis der Kies hinter ihm unter den schlagenden Hufen eines anderen Pferdes aufspritzte und der tödliche Schatten des Seiles über ihm schwebte. Schrecken erstarrte ihn einen Augenblick, der ihm unter dem Schwingen des Seiles endlos erschien. In Wahrheit war sein Seitensprung schnell wie der einer Wildkatze, und der Fluch des unglücklichen Cowboys dröhnte in seinen Ohren.

Alcatraz schoß mit der Geschwindigkeit eines geschleuderten Steines vorwärts. Die Verfolgung dauerte nur fünf Minuten, die aber dem Hengst wie fünf Jahre vorkamen, während der Mann hinter ihm laute Rufe ausstieß. Als er flüchtete, fühlte er alle seine alten Narben, und wieder taten ihm alle Knochen von den Schlägen des Mexikaners weh. Aber nach fünf Minuten war Alcatraz dem Bereich des Cowboys entrückt, der auf den höchsten Gipfel galoppierte, nur um dem Flüchtling nachzublicken. Solange er den Hengst gewahren konnte, mäßigte dieser sein wildes Tempo nicht, und der Cowboy sah ihm zu, während er einen Kloß in der Kehle spürte. Denn es träumte ihm, auf diesem Hengst zu sitzen, den kein Pferd im Gebirge überholen, dem kein Pferd im Gebirge entwischen konnte. Sicherheit auf der Flucht, stetes Gelingen bei der Verfolgung – man wäre, in gewisser Weise, ein Gott.

Als Alcatraz im Dunst des Horizontes verschwand, senkte der Cowboy mit einem Seufzer den Kopf. Er sah ein, daß ein solches Wesen nicht für ihn bestimmt war. So wandte er sein Pferd und ritt traurig zur Ranch zurück. Als er nach Hause kam, erzählte er zum erstenmal von dem wilden, roten, wunderbaren Fuchs, der schnell war wie ein Adler. Er sprach voll Sehnsucht und mit dem Feuer von Männern, die Pferde lieben. Nicht seine Worte, aber seine Art war es, welche die Zuhörer überzeugte. Noch ehe die Geschichte zu Ende war, leuchteten aller Augen. In diesem Augenblick begann der Anfang vom Ende, das Alcatraz' Freiheit finden sollte. Vom Augenblick an, in dem ihn Menschen gesehen und begehrt hatten, waren die Tage seiner Freiheit gezählt. Doch der Kampf, bevor er sich ergab, sollte ein gewaltiger werden.


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