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Die Aphorismenkrankheit

Seit einigen Tagen leide ich an einem Übel, das sehr schmerzhaft und quälend ist – aber allerdings weniger für mich als meine gemarterte Umgebung. Ich habe plötzlich die Aphorismenkrankheit bekommen, die sich in der Sucht äußert, jede noch so gleichgültige Gesprächsäußerung mit einer wohlweisen Anmerkung und einer überspitzten Sentenz zu beantworten. Der Patient, der an diesem Übel leidet, gibt den ganzen Tag Lebensweisheit in kleinen Brocken von sich. Aus seiner Kehle lösen sich beständig Gedankensplitter. Es ist eine Art von epigrammatischer Überernährung, verbunden mit dauerndem Sprechreiz – Und da über die Therapie und Pathologie dieser Krankheit noch keine Untersuchungen angestellt worden sind, so will ich wenigstens ihre Entstehungsgeschichte nach eigenen Beobachtungen aufzeichnen.

*

Zu der literarischen Sommerfracht, die ich mit ins Gebirge genommen hatte, gehörte auch Oskar Wildes Roman: »Dorian Grays Bildnis«. Der Hauptsprecher in diesem sonderbaren Buche ist Lord Henry Wotton, der von dem Dichter mit der Aufgabe betraut ist, alle seine Notizbücher und Zettelkästen vor dem Leser in krausem Durcheinander auszuschütten. Vergebens bestrebt sich Oskar Wilde, seinem Sir Henry durch einige mühsam ersonnene persönliche Linien eine entfernte Ähnlichkeit mit einem lebendigen Menschen zu geben. Umsonst! Sir Henry ist und bleibt mir ein gut gearbeiteter Aphorismenzerstäuber, der in alle Ecken und Winkel des Buches geistreiche Mots zu spritzen hat. Es ist, als wenn Oskar Wilde den emsigen Sammlern hätte vorarbeiten wollen, die einst Lichtstrahlen aus seinen Werken in einem Breviarium herauszugeben wünschen könnten. Lord Henry Wotton redet nichts andres als Lichtstrahlen. Die Sentenzen tropfen von ihm ab, wie die Nässe von einem regenschweren Baume. Man braucht nur ein wenig an ihm zu schütteln, und sofort steht man unter einer Traufe von Weisheit.

Der Dichter selbst hat es gefühlt, daß er diesen aus Zetteln und Zettelchen zusammengesetzten Papiermenschen vor dem kritischen Leser entschuldigen müßte; und er hat die geistreichste Form der Entschuldigung gewählt – die Selbstanklage. »Du zerschneidest das Leben in kleine Stücke mit deinen Epigrammen,« läßt er gelegentlich seinem Sir Henry ins Gesicht sagen – und sich selbst zeichnet Oskar Wilde, wenn er von seinem Sprecher berichtet: »Er spielte mit dem Gedanken und wurde übermütig. Er warf ihn in die Luft und drehte ihn um. Er ließ ihn entschlüpfen und fing ihn wieder. Er ließ ihn in allen Farben der Laune irisieren und beflügelte ihn mit Paradoxen« – Schnell wird man ermüdet von dieser beständigen Feuerwerkerei des Esprits, von diesem wirbelnden Fangballspiel mit Witz und Weisheit – und nur ab und zu wird man wieder aufmerksam, wenn sich aus dem Sentenzengetümmel einige leuchtende Spitzen hervorheben oder wenn die witzige Bosheit frei von allen Perversitäten ergötzlich zu Worte kommt. Wir fühlen uns belustigt mitten in das Nachtischgespräch eines englischen Rauchzimmers versetzt, wenn wir Bemerkungen wie die folgenden lesen:

»Es ist nicht gut, mit einem Skandal anzufangen. Den muß man sich aufheben, um sich für das Alter interessant zu machen.«

»Mit den Liberalen muß man stimmen, aber mit den Tories dinieren.«

»Die Welt glaubt ungern etwas Schlechtes von einem Mann, der einen guten Koch hat.«

»Die Jugend möchte treu sein und kann's nicht. Das Alter möchte untreu sein und – kann's auch nicht« –

Zu verweilendem Nachdenken laden uns andre Worte ein, in welchen die Wehmut der Erfahrung sich verkapselt hat und die uns bisweilen mehr sagen, als es ihr Urheber hat voraussehen können:

»Der Zuschauer seines eigenen Lebens werden, heißt den Schmerzen des Daseins entgehen.«

»Es gibt nur ein Mittel, um seine Jugend wieder zu erlangen: Man muß seine Torheiten wiederholen.«

»Gute Vorsätze sind Schecks auf eine Bank, bei der man kein Guthaben besitzt.«

»Die Beichte, nicht der Priester absolviert« –

Weitaus zahlreicher aber als solche nachdenklichen Worte sind die paradoxen Einfälle, in welchen der Dichter durch den Mund Sir Henry Wottons ein Blouffspiel mit seinen Lesern treibt. Das Unerwartete der Wendung soll allein schon für Geist gelten. Jeder Satz will gefallsüchtig in einer Eigenfarbe glitzern, die nur ihm gehört. Der Scheinwitz und die Scheintiefe feiern üppige Feste in Bemerkungen, wie den nachstehenden, die man auf jeder Seite des Buches findet, wo man es auch aufblättern mag:

»Der Unterschied zwischen einer ewigen Liebe und einer Laune? Es gibt nur einen. Die Laune dauert etwas länger.«

»Die Sinne müssen durch die Seele, und die Seele muß durch die Sinne geheilt werden.«

»Schlimm, wenn man von einem Künstler spricht! Und nur eins ist schlimmer: Wenn man nicht von ihm spricht.«

Und in dieser sich immer wiederholenden Melodie durch vierhundert Seiten – »Die Witzmaschine arbeitet Stich um Stich«, wie Paul Schlenther einmal von einem andern Werke sagte – bis man endlich nicht mehr fähig ist, mit unterscheidender Kritik diese Sentenzenmasse zu sichten und nur noch mit einer frostigen technischen Neugier die Arbeit an der Gedankendrehbank beobachtet. Und endlich kommt der Augenblick, wo man unwillkürlich selbst anfängt, zu drehen! Der Geist Lord Wottons, der ja nur der pseudonyme Vertreter von Oskar Wilde ist, fährt dem Leser in die eigene Haut. Man beginnt, die Wörter zu Einfällen zusammenzuschieben wie die Steine bei dem amerikanischen Boz-Puzzlespiel. Die Aphorismenkrankheit kommt plötzlich zum Ausbruch. Man wirft ruhelos Ein- und Zweizeiler aus –

*

Bei mir hat sich das Übel unmittelbar nach der Beendigung der Lektüre in später Abendstunde angekündigt. Meine Frau, die mir an meinem Schreibtisch gegenübersaß, gerade als ich das letzte Blatt des Romans umgewendet hatte, fragte mich: »Nun, wie hat dir dein Dorian Gray gefallen? Man bat ja das Buch auch in Deutschland gepriesen!«

Ich erwiderte:

»Bücher, die von fremdländischen Autoren verfaßt sind, werden in Deutschland immer gepriesen. Sogar, wenn sie gut sind.«

»Immerhin,« fuhr meine Frau fort, »scheint er auf dich lebhaft gewirkt zu haben!«

Ich antwortete mit gesteigertem Nachdruck:

»Starke Bücher wirken auf uns, wie starke Stimmen auf das Grammophon – sie sprechen weiter aus uns in ihrer eigenen Tonart.«

Meine Frau wurde schon stutzig, aber die Neugier legte ihr noch die Frage auf die Lippen:

»Ist denn der Roman wirklich so unmoralisch wie mir erzählt worden ist?«

Diesmal entgegnete ich mit Oskar Wildes eigenen Worten!

»Es gibt keine moralischen oder unmoralischen Bücher. Es gibt nur Bücher, die gut oder schlecht geschrieben sind.«

Jetzt machte meine Frau schon ein ängstliches Gesicht:

»Du sprichst ja heute in lauter Aphorismen! Willst du das noch eine Weile so fortsetzen!«

Ich orakle die Antwort:

»Der Mensch tut nicht, was er will. Er tut nur, was er muß.«

»Du, das wird aber bedenklich! Dieses Sentenzengedrechsel scheint mir ja noch schlimmer zu sein, als das überwundene Gesellschaftsspiel mit den Schüttelreimen.«

»Die Aphorismen,« erwidere ich feierlich, »sind die Schüttelreime des Geistes.«

»Mag sein, aber du brauchst mir gegenüber gar nicht so krampfig geistreich zu sein. Hebe dir das für andre Frauen auf.«

Ich antworte:

»Es gibt keine andern Frauen. Man findet nur immer dieselbe.«

»Jetzt habe ich aber genug,« sagte meine Frau etwas unsanft, »und ich wünsche dir gute Nacht.«

Aber noch durch die Tür rief ich ihr nach:

»Es gibt keine Nacht! Was wir so nennen, ist nur ein Tunnel zwischen zwei Tagen« –

Und da die Aphorismenspule einmal in Bewegung gesetzt war, so hat sie sich automatisch weiter abgewickelt. Auf ein Blatt Papier warf ich im Fluge eine Anzahl von Sätzen, aus welchen sichtlich der Geist Sir Henrys aphoristelt:

»Narren heißen die Leute, welche die kleinen Torheiten begehen – im Gegensatz zu den Weisen, welche die großen machen.«

»Die Dezenz ist die Tugend des Lasters.«

»Jede süße Täuschung endigt mit einer bitteren Erfahrung.«

»Die Verehrer des Mammons wundern sich immer wieder darüber, daß auch ein vielfacher Millionär nur ein einfacher Mensch ist.«

»Die Autoritäten von gestern werden niemals die Wahrheiten von morgen ertragen.«

»Leute, die schreiben können, heißen Schriftsteller, Leute, die nicht schreiben können, heißen ebenso.«

»Es sind nur die kleinen Geister, welche die großen Worte lieben« –

Und so weiter bis ins Unendliche! Man kann Dutzende von solchen Sentenzen auf dem kältesten Wege und ohne geistige Unkosten aus der Figur der Antithese und durch die mechanische Zusammenkuppelung von Gegensätzen beinahe formelmäßig erzeugen. Ermessen Sie jetzt die Schwere meines Übels? Ein Blick in viele Wochenschriften und Bücher beweist es, daß es das Leiden vieler schriftstellerischer Zeitgenossen ist. Ich werde voraussichtlich erst vollständig davon genesen sein, wenn es mir durch ein weiteres Studium des englischen Dichters klar und immer klarer geworden ist, daß es auch eine Mechanik des Einfalls gibt und daß – um noch einmal in der Tonart Sir Henrys zu reden – auch Gedankenblitze künstlich mit Kolophonium hergestellt werden können.


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