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Das Denkmal im Gebirge

Wollt ihr die Geschichte eines schlichten Mannes hören? Eines schmucklosen Helden, dem seine Heimatgenossen ein Denkmal in den Bergen gesetzt haben? So lade ich euch ein, mich auf einer Fahrt ins Tännengebirge zu begleiten. Doch keine modische Hetzreise soll es werden, sondern eine gemächliche Wanderung, bei der wir mit bewundernden Augen alles umfassen wollen, was die Felsen mit ihren faltenreichen Steinmänteln umschließen.

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Otto Julius Bierbaum hat von einer Automobilfahrt, die er von Berlin nach Neapel in verständig sanftem Tempo und mit vorsichtiger Eile zurückgelegt hat, ein Wort mit heimgebracht, das sich mir unwillkürlich ins Gedächtnis gekerbt hat: »Lerne zu reisen, ohne zu rasen!«

Das Wort ist merkenswert und wurde zur rechten Zeit gesprochen. Ich möchte es in das Giebelfeld jedes Bahnhofs mit steinernen Lettern eingemeißelt sehen. Ich wünschte es als Motto jedes Kursbuchs und jedes kombinierten Fahrscheinheftes, auf dem Titelblatt jedes Reiseführers, über der Tür jedes Einkehrhauses zu finden – denn es ruft uns eine Mahnung zu, die in unserer Zeit der Geschwindreisen nicht oft genug wiederholt werden kann. Reisen wir denn überhaupt noch? Es will mir scheinen, daß das gewohnte Wort, in welchem ursprünglich etwas von der Wanderpoesie der Karawane mitgetönt hat, jetzt kaum mehr am Platze ist. Wir lassen uns befördern, aber wir reisen nicht mehr. Das Ziel wird auf Kosten des Weges erreicht. Was an den Fenstern des Eisenbahnwagens an landschaftlichen Schönheiten vorüberzieht, von flatternden Rauchwolken überschleiert, gibt kaum einen schattenhaften Allgemein-Eindruck. Bisweilen bohrt sich die Straße, die wir durchmessen, in den Bauch der Felsen. Die Umgebung verschwindet völlig unseren Blicken, und wir werden genötigt, in dem herrlichen Bilderbuch, das die Natur vor uns aufschlägt, manche der schönsten Seiten zu überblättern. Oder wir durchjagen die Erde auf dem Automobil und glauben, eine Heldentat vollbracht zu haben, wenn wir in jeder Stunde 60 km mit Benzindüften überstänkern. Was wir unterwegs an Naturschönheiten gesehen haben – könnten, das erfahren wir erst später zu Hause aus den Ansichtskarten, die wir von jeder einzelnen Station vorsorglich an unsere Freunde gesandt haben –

»Auf der Erde Rücken rührt' ich mich viel,« sagt Wagners Wotan. Für unsere Geschwindreisenden ist das Wort nicht gesprochen. Freilich sparen sie unendlich viel Zeit – aber wenn sie nur wüßten, was sie mit diesen Ersparnissen beginnen sollen! Für die meisten ist die ersparte Zeit, wie das ersparte Geld, ein totes Kapital, das durch den Verlust an Freuden erkauft wird. Die Stimmen mehren sich, die sich aus dem Fiebertempo unserer heutigen Blitzreisen nach der verweilenden Gemächlichkeit der Postkutschenzeit zurücksehnen, und für die Epikuräer des Wandertriebs wird die Wagenreise immer mehr die Bahnfahrt verdrängen. Die Eisenbahnwagen stampfen die Erde platt, über die ihre Räder rollen. Die Eigenart fremden Volkstums zeigt sich unverkrüppelt nur in den abseits gelegenen stillen Orten, in welche noch keine Lokomotivenpfiffe hineingellen.

Aus diesen Erwägungen heraus habe ich schon seit Jahren in mein regelmäßiges Sommerprogramm irgend eine Reise neben den Schienen aufgenommen – eine größere Distanzfahrt, für welche von Anfang an die Abschaffung der Eisenbahn beschlossen ist. Ich setze mich dann in ein leichtes Steirerwägelchen, das mit seinen erhöhten Sitzen einen freieren Ausblick gestattet, und vertraue mich meinem bewährten Rosselenker an, der auf viele Meilen in der Runde Weg und Steg kennt und durch den Scharfsinn seiner Wetterprognosen jeden Meteorologen beschämt. Irgend eine Überhastung habe ich von ihm nicht zu befürchten. Denn die Gäule, die er mir stellt, sind zwar selbst auf gebuckelter Straße und auf steil ansteigenden Bergwegen ausdauernd und zuverlässig, aber jedes Strebertum liegt ihnen fern; und ich darf sagen, daß sie in unserer Zeit des Karrierenfiebers eine rühmliche Ausnahme bilden. Das ist das richtige Tempo für eine Fahrt, bei welcher sich die Augen begierig in alle Verborgenheiten und stillen Reize versenken wollen, die das Gebirge mit seinen steinernen Wellen umschließt und die in den Klüften des Gewändes oft überraschend hinter einer Felspalte aufsteigen. Was ich an alpinem Volkstum kennen gelernt, was ich von dem frischen Brunnenrauschen der Gebirgssprache belauscht habe, ich verdanke es diesen Wagenausflügen. Und ich verdanke ihnen zuletzt die Kenntnis eines Denkmals in den Bergen, das auf der Paßhöhe von Lueg einem schlichten und tapferen Manne errichtet ist und das, von den Abhängen des Tännengebirgs umschlossen und auf übereinander getürmten Felsblöcken emporgerichtet, in der Großnatur der Berge einen Sockel gefunden hat, wie er nur selten einem Denkstein gegönnt war.

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Das Ziel meiner dreitägigen Distanzfahrt war diesmal das liebliche Zell am See, von welchem ich zum Kesselfall-Alpenhaus und dann zum Moserboden emporsteigen wollte, der von dem weithin gestreckten Schneerücken des Kitzsteinhorns und den Schroffen des Wiesbachhorns überwölbt wird und uns ohne sonderliche Wegmühe einen unmittelbaren Einblick in die Eiskapellen der Gletscher gestattet. Von weitem winkt das Haupt der Glocknerin mit dem leuchtenden Stirnband.

Mein Weg führte mich zuerst durch das Gosautal, dessen einförmige Stille erst belebt wird, wenn plötzlich bei einer Biegung der Straße von den Donnerkogeln, die den überraschenden Talschluß bilden, einer nach dem andern die spitzen Felsenfinger hoch emporspreizt, bis die ganze vielzackige Felskette vor den erstaunten Blicken sich entblößt hat und mit ihren scharfkantigen Türmen etwas von dem herben Formenreiz der Dolomiten in den Frieden der Landschaft hineinträgt. Im übrigen schien es mir bestimmt zu sein, auf diesem Weg die Mannigfaltigkeit zu bewundern, mit welcher die Natur das Wassermotiv im Gebirgsbild mit erfinderischer Kunst verwertet und immer neu wendet. Bald hängt sie dünne Wasserfäden wie ein feines Gespinst an eine Felskuppe und läßt sie das Gestein wie mit einem zarten Schleier überrieseln; bald streicht sie die Fluten zu einem großen hellgrünen Stromband glatt, das die Landschaft in zwei künstlerisch gegliederte Hälften sondert, wie der farbige Strich auf der Landkarte. Ich sah gluckernde Rinnsale über Kiesel plätschern, und temperamentvolle Wildquellen, die plötzlich und unvermutet zwischen Farrenwedeln und Geröll entsprudeln. Ich stieg bei Abtenau in die Lammerklamm hinunter und sah den Fluß wie eine Blindschleiche durch die Krümmen der engen Felsgasse gleiten. Ich bestaunte bei Golling das große Naturwunder dieses Orts und das Wanderziel vieler Neugierigen: Die mächtigen Gollinger Fälle, die in drei Stürzen aus unheimlicher Höhe zu Tal poltern und ihre blitzenden Tropfensäulen wie die Strahlen eines Kunstbrunnens immer neu emporschleudern.

Und als ob es der nassen Schauspiele noch nicht genug gewesen wäre, stieg ich endlich am Eingang zum Paß Lueg zu den vielberühmten Salzachöfen hinunter und beobachtete das merkwürdige Schauspiel, wie sich ein Strom, der erobernd aus den Bergen entsprungen, den Weg in das Tal erzwingt, das mit seinen Felswänden wie mit Festungswällen verteidigt ist. Aber es gibt keine Wehr gegen die Urgewalt dieses Eroberers, die im Gestein tiefe Mulden auswäscht und breite Furchen in die Felsen reißt, bis er endlich wie ein fröhlicher Sieger durch eine breite Einfallspforte ins Tal schreitet, aus dem ihn nun keine Menschengewalt mehr vertreiben kann –

Zögernd riß ich mich los von diesem Schauspiel. Gemächlich stieg ich zur Paßhöhe wieder empor, und als ich den letzten Schritt getan hatte, stand ich plötzlich und überrascht vor einem so schlichten wie herzbewegenden Kunstwerk. Einen schönen Hirtenknaben sah ich in der alten Tracht des Pongauer Landes, der mit der einen Hand seinen breitkrämpigen Hut wie schützend über das Salzburger Landeswappen hält und mit der andern die Edelraute, den Lorbeer der Berge, zum Bildnis Josef Strubers emporstreckt, das in den höchsten Block einer Felspyramide eingefügt ist. »Den Landesverteidigern des Pongaus im Jahre 1809 und ihrem Führer Josef Struber« – so lautet die phrasenlose Inschrift. Und wenn es wahr ist, daß die Steine reden, so war's mir, als ob dieser Denkstein im Dialekt redete – in der heimatlichen Mundart der Alpen, die gerade für norddeutsche Ohren etwas so unwiderstehlich Gewinnendes hat. Kein großes Heldenepos ist es, das uns von dem Denkmal schlecht und recht erzählt wird. Es ist nur die Geschichte eines von vielen, und ihr Held ist einer jener bäuerlichen Krieger und Sieger, welche ihren Namen in die Geschichte der österreichischen Befreiungskämpfe stark und froh eingeschrieben haben.

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Man braucht es nicht ausführlich wieder zu erzählen, wer Josef Struber gewesen ist und wie er dem hereinstürmenden Franzosenheer mit einer kleinen Schar von todesmutigen Schützen den Übergang über den Paß Lueg erschwert hat. Wer Genaues über die blutigen Tage erfahren will und über die strategische Bedeutung der Kämpfe im Tännengebirge, lese die treffliche Schrift, die der Oberst Gideon v. Maretich über Josef Struber veröffentlicht hat, oder das knapper gefaßte, mit volkstümlicher Frische und Wärme geschriebene Lebensbild, in welchem Ferdinand Lentner die Züge eines tapferen Mannes festgehalten hat. Wie Andreas Hofer war auch dieser Volksheld ein Gastwirt im Gebirge. Am südlichen Übergang der Paßschlucht, hinter einem Mauerwall von unzugänglichen Felsen, wie in einem Kerker eingeschlossen, lag seine Gastwirtschaft zu Stegenwald. Damals fuhren, wie sein Biograph berichtet, in nahezu ununterbrochener Reihe über diese wildromantische Bergstraße die Postkutschen und Botenfuhrwerke, die Gasteiner Kaleschen, die Ochsengespanne der Katschtaler, welche Weine, Südfrüchte und Öl bis weiter nach Salzburg verfrachtet. Beim Struberwirt kehrten sie gern ein, denn sein Haus galt noch als eine der gastlichen Herbergen zwischen der Tiroler Landeshauptstadt und dem Salzburger Landl, wo ein guter Labetrunk und verständiger Rat zu finden war.

In den Zeiten der Fremdherrschaft waren diese versteckten Gebirgshäuser wichtige Zufluchtsstätten für Zagende und für Wagende. Hier entzündete sich an der Klage der Einen der Trotz der Andern. Freiheitsdrang und Bauernlist gaben sich in diesen felsumschlossenen Gebirgswinkeln ein Stelldichein, und der kriegskundige, waffenstarke Kapuzinerpater Joachim Haspinger tat damals den Ausspruch: »Ein gutes Wirtshaus ist mir lieber, als eine schlechte Festung.«

Josef Struber war einer der Tapferen, die in den Tagen der Gefahr am freudigsten ihr Leben für die Freiheit wagten. Ihm wurde die Aufgabe, am Bartholomäustage des Jahres 1809 die Volksbewegung mit anzufachen, die bald das ganze Pongau wie ein fressendes Feuer ergriff und endlich den großen Sieg auf der Paßhöhe von Lueg ermöglichen konnte. Bäuerliche Helden haben eine eigenartige Munition zur Verfügung. Das Land, das ihnen alles in die Hände wachsen läßt, was sie brauchen, gibt ihnen auch die Verteidigungsmittel für ihre Freiheit. Aus dem Gestein der Berge reißen sie ihre fürchterlichen Waffen. Und als nach dem Rupertustage der Generalsturm beschlossen wurde und in der Frühe des 25. September die Schützen beim Verhau der Aschauerbrücke das verabredete Signal von zwölf Schüssen abgaben, da war es – so erzählt Ferdinand Lentner – als seien die alten Felswände des Gebirges lebendig geworden. Von den steilen und als unerklimmbar scheinenden Felsgraten, auf welche Josef Struber die Seinen auf nur ihm bekannten Wegen geführt hatte, stürzte eine Lawine von Felstrümmern und Baumstämmen auf die feindlichen Truppen nieder, und in der Länge des ganzen Straßenzuges fielen diese Katapulte des Gebirgskrieges mitten unter die Kolonnen und Munitionsgespanne. Es war ein grausamer Tag der Bauernrache, die sich wie eine lange zurückgepreßte Explosion in fürchterlichen Verheerungen entlud, und der in die Felsen tief eingewühlte Flußlauf der Salzach mischte sich damals mit strömendem Menschenblut. Als aber die Verwirrung in den Reihen der Feinde am größten war, stürmte Josef Struber mit den Seinen durch Dickicht und Geröll auf das Kampffeld hinunter, und nun begann unter Führung des tapferen Mannes ein Heldenkampf von Mann gegen Mann, der mit dem Rückzug der Feinde endigte.

Auf die Tragödie folgte auch diesmal das Satirspiel. Es begann in dem Augenblick, als nach der Wiederherstellung des Friedens dem Generalkommissariat in Werfen die Zahlungsanweisungen vorgelegt wurden, die Josef Struber den Verkäufern von Blei und Pulver gegeben hatte. Amtsdünkel und Pedantengrillen haben hier eine lustige Rolle gespielt, und in einer köstlichen Entscheidung des Generalkommissariats findet sich der hübsche Satz, daß dem wackeren Matthias Rechreiter, Pulvermacher in Golling, für seine Lieferung an Josef Struber nur dann eine Zahlung geleistet werden könnte, »sofern er würde nachweisen können, daß die Abgabe des Pulvers an die Tiroler und Werfener auf Verlangen des Landgerichts oder unter Gutstehung der Ausschüsse geschehen sei –« Und nun denke man sich einen Truppenführer, der in den Stunden der Not erst nachzuforschen hätte, ob ihm die Munition, die er braucht, »auch unter Gutstehung der Ausschüsse verkauft wird –«

Josef Struber hat auf die großen Stunden seines Lebens noch manchen bitteren Tag folgen sehen. Gefangenschaft, Körperpein, Vermögensverfall – nichts Menschliches ist ihm erspart geblieben. Aber er erlebte auch den Tag der Belohnung. An der gleichen Stelle der Paßhöhe, die er mit seiner tapferen Schar verteidigte, wurde ihm im Jahre 1818 durch den Grafen zu Welsperg-Raitenau im Namen des Kaisers Franz das Ehrenkreuz auf die Brust geheftet und eine Urkunde übergeben, die ihn durch einen lebenslänglichen Gnadengehalt von jeder Sorge befreit hat. Und an eben dieser Stelle wurde 1898 das Denkmal enthüllt, um welches die Berge einen so mächtigen Rahmen spannen.

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In der Tat eine Skulptur im Volkston. Ein in die Felsen gehauenes Trutzlied, quellenrein und gebirgsfrisch und eben deshalb auch für denkmalmüde Augen von so erobernder Eigentümlichkeit. Der Künstler, der es geschaffen, Hubert Spannring, hat seine volkstümliche Aufgabe richtig erfaßt und jede Heldenpose, jede versteinerte Phrase vermieden. Ein Wahrzeichen der Heimatliebe, hebt sich das Monument aus dem Immergrün der tiefdunklen Wälder und bringt uns sofort in eine persönliche Beziehung zu dem Manne, den es feiern will. Josef Struber hat nicht das Nachweltsglück von Andreas Hofer gehabt. Die Aureole der Volkstümlichkeit umstrahlt ihn nicht so hell, wie den Tiroler Kämpfer, der noch heute in Wort und Lied wie gegenwärtig unter uns atmet. Aber er war, wie dieser, einer jener einfachen Volkshelden, wie sie uns in der Neuzeit der Burenkrieg wieder menschlich so nahe gebracht hat – eine jener entschlossenen Naturen, die in der entscheidenden Stunde alles an alles setzen und jede Opfertat mit einem stillen Gradsinn, mit einer lautlosen Selbstverständlichkeit vollbringen, die ihnen in nicht allzu weiter Entfernung einen Platz neben den großen Menschen sichert.

Gern ließ ich mir von meinem Reisegenossen die Taten und die Kämpfe Josef Strubers berichten. Bewegten Herzens streute ich eine Handvoll Gentianen vor das Denkmal. Aber als mein Wagen schon die Paßhöhe überschritten, zwang es mich, noch einmal zurückzuschauen – und als ich mit einem letzten Blick den frischen Burschen streifte, der mit seiner Edelraute zum Knauf der Felsen emporzudeuten schien, da quollen mir unwillkürlich die Schiller-Worte ins Gedächtnis, die den ganzen Freiheitsmut des Hochlands atmen und wie aus dem tiefsten Edelkern des Gewändes geschürft sind: »Was Hände bauten, können Hände stürzen – dies Haus der Freiheit hat uns Gott gebaut.« – Und mir war's, als winkte mir der Pongauer Knabe den Gruß der Berge nach: »Pfird' di Gott!«


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