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Baron Nikis Selbstmord

Lieber Doktor! Es ist wirklich schade, daß Sie heute abend nicht, wie es nach mancher schweren Sitzung im Klub Ihre Gewohnheit war, noch in später Stunde bei mir vorgesprochen haben, um einen Henessy zu trinken und eine Beruhigungszigarre zu rauchen. Sie würden, wenn Sie vor einer Viertelstunde eingetreten wären, einen wunderlichen Anblick gehabt haben. Am Kamin ein Häuflein verbrannter Papiere. Die Fächer meines Schreibtisches alle weit aufgesperrt. Auf der Tischplatte rechts ein Stoß unbezahlter Rechnungen. Links ein Haufen unbeantworteter Mahnbriefe – alle von dem verklärenden Schein meiner elektrischen Schreibtischlampe beinahe poetisch überleuchtet. Als Erklärung dieses Stillebens nicht weit davon eine geladene Pistole. Ich selbst aber am Telephon in ein Streitgespräch verwickelt, wie Sie es ohne Zweifel nicht allzu oft belauscht haben werden. Ich hatte meinen alten Sanitätsrat angerufen – Sie kennen ja diesen wiederlich herzlosen Egoisten, der mir sogar den Champagner und die Trüffeln zu einem Zeitpunkt verboten hat, wo ich zum erstenmal in die Lage gekommen war, sie bezahlen zu können. Es machte mir heute ein diabolisches Vergnügen, den alten Quälgeist aus dem ersten Schlaf zu wecken und ihn – doch ich kann Ihnen ja das ganze Gespräch nahezu wörtlich mitteilen:

»Wie? – Was? – Sie können jetzt nicht zu mir kommen, weil Sie sich bereits aufs Ohr gelegt hätten? Aber wenn ich Ihnen doch sage, Sanitätsrat, daß es sich um eine unaufschiebbare Frage handelt – Wie meinen Sie? Die Geschäfte, die ich hätte, seien niemals unaufschiebbar? – Oho, alter Herr, diesmal doch! Ich will mir nämlich, unter uns gesagt, ein bißchen das Leben nehmen, und zwar kurz vor Zwölf – Was, Sie lachen? Bei einer so düster tragischen Mitteilung! Das wäre nicht mein Ernst? Das wäre nur ein schlechter Scherz von mir? Aber mein voller Ernst, versichere ich Sie! Und es ist sehr unrecht, daß Sie mir dabei Ihren ärztlichen Beistand verweigern. Wie leicht kann einem bei so einem Selbstmord etwas geschehen! Und da wollte ich gern einen Arzt in der Nähe haben. Was? – Wie? – Bis morgen früh vertagen? – Unmöglich! Geht absolut nicht! Aus ganz besonderen Gründen – abgesehen davon, daß die Selbstmorde vor Mitternacht die gesündesten sind – Was meinen Sie? Ich soll mich an die Freiwillige Rettungsgesellschaft wenden? Auch noch schlechte Scherze in einer so ernsten Stunde? Also schön! Wenn Sie durchaus nicht wollen, dann muß ich im Gegensatz zu andern Kranken versuchen, ohne ärztliche Hilfe ins Jenseits zu kommen – Nein, nein, bitte, kein Wort mehr! Ich bin ernstlich böse. Schluß. Bitte abzuklingeln!«

Und da sehen Sie mich nun, liebster Doktor, in einer wirklich verzweifelten Situation. Denn kann es eine schlimmere Lage geben, als wenn jemand einen Selbstmord begehen will und sich vergebens nach einem Bekannten umsieht, der ihm davon abrät? Ja, wenn man nahezu vierzig Jahre gewohnt war, zu existieren, so kann man diese Gewohnheit nicht so plötzlich ablegen. Jetzt bin ich in dieser wichtigen Stunde auf mich selbst angewiesen und sehe gar keine andre Möglichkeit, als an Sie diesen Brief zu richten, der gewissermaßen ein Selbstgespräch mit der Feder sein soll. Ich weiß es ja, Monologe sind nicht mehr modern. Aber schließlich ist es eine gewichtige Entschuldigung für jedes Selbstgespräch, wenn man keinen andern findet, der einem zuhört. Überdies sind Sie ja Schriftsteller und können vielleicht meine Geständnisse einmal literarisch verwerten. Ich bevollmächtige Sie dazu ausdrücklich und bitte, diese Erlaubnis als ein Legat zu betrachten. Wie andre Selbstmörder ihren Kadaver der Anatomie vermachen, so vermache ich meine menschliche Wesenheit Ihnen, damit Sie mich eines Tages mit der Feder sezieren. Setzen Sie sie nur schonungslos an – es wird mir gewiß nicht mehr weh tun.

*

Sie erlauben zunächst, daß ich mich Ihnen etwas genauer vorstelle, als es bei unseren flüchtigen Begegnungen im Klub, im Theater und auf den Rennplätzen möglich war. Fürchten Sie aber keine lange Beichte. Meine Selbstbiographie wird ebenso knapp wie inhaltsleer sein. Ich, Dietrich Maximilian Nikolaus von Gemmingen, kann meine Lebensbeschreibung mit dem nämlichen Satz beginnen, mit dem Graf Rostopschin, der Verteidiger von Moskau, die seinige eingeleitet hat:

»Ich wurde eines Tages geboren, ohne zu wissen warum, und meine Eltern dankten bei dieser Gelegenheit dem Himmel, ohne zu wissen wofür.«

Sie sehen in mir den letzten Nachkommen eines altadligen Geschlechts, das sich immer durch fröhlichen Leichtsinn und lachende Daseinslust ausgezeichnet hat, ohne irgend eine andre Auszeichnung zu erstreben. Einer meiner Vorfahren hat, wie urkundlich erwiesen ist, bereits zu den Zeiten des ersten Kreuzzuges seine Zahlungen eingestellt. Durch die strengste Vermeidung jeder Mißehe und eine vielhundertjährige Inzucht ist das bißchen Verstand, das uns die Natur mitgegeben hat, noch beträchtlich verkümmert. Als der letzte Sprosse dieses fröhlichen Geschlechts habe ich schon in meiner frühesten Jugend zu keinerlei Erwartungen berechtigt. Mein späteres Leben entsprach diesen Erwartungen voll und ganz –

Soll ich Ihnen dieses Leben erst in breiten Worten zu schildern versuchen? Eine überflüssige Mühe. Sie kennen's ja aus eigener Beobachtung. Sie wissen, aus wieviel üppigen Torheiten es sich zusammensetzt, und Sie können von mir die beruhigende Versicherung empfangen, daß ich von allen Dummheiten, zu denen ich jemals die Gelegenheit gefunden, nicht eine einzige ausgelassen habe. Keine noch so kostspielige Verwegenheit im Spiel oder in der Liebe, zu der ich nicht leicht zu überreden gewesen wäre! Es gibt nach meiner Ansicht nichts, was einen epikuräischen Lebenskünstler so entstellen könnte, wie falsch zu sparen und richtig zu rechnen – und dank diesen Grundsätzen sind mir die Tausendmarkscheine mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch die Finger geglitten. Von dem Augenblick an, da ich großjährig wurde, glich mein ganzes Leben einer Fahrt im Blitzzug. Fiebergeschwind allen Genüssen nachgejagt! Jeder fröhlichen Augenblickslaune ohne Nachdenken und Zaudern gehorcht! Jede reizende Überflüssigkeit herbeigerafft, die das Leben schmückt und unseren so episodischen Aufenthalt auf dieser Erde erst wohnlich machen kann. Die Freuden der Gastfreundschaft habe ich ausgekostet wie kaum ein andrer. Die Einladungen zu den kleinen Lustfahrten auf meiner Jacht wurden von den Freunden stets mit Begeisterung angenommen, und die Herrendiners in meinen Jagdhäusern waren besonders durch die Damen berühmt, die daran teilnahmen. Sie haben ja ihre Bilder in dem großen Paravent gesehen, der neben meinem Kamin steht und mit den Photographien aller meiner anmutigen Freundinnen überfüllt ist. Das ist der zierliche Buchschmuck für den Roman meines tollen Lebens. Hier können Sie mit einem Augenaufschlag meine Abenteuer, meine Torheiten, meine Sünden überschauen – und in dieser ernsten Stunde schwöre ich Ihnen, daß ich nicht eine einzige unterlassen haben möchte.

Dieser gesinnungstüchtige Leichtsinn aber, den ich von meinen Vorfahren geerbt habe, ist leider endlich an der Vergänglichkeit des irdischen Besitzes gescheitert. Schon vor einem Jahre machte mich mein Bankier darauf aufmerksam, daß ich mit einem zifferschweren Scheck mein Guthaben »überzogen« hätte, wie der entsetzliche technische Ausdruck lautet, mit dem er mich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal bekannt gemacht hat. Ich müßte neu »auffüllen«, fügte er hinzu, und das war so ein zweiter Kunstausdruck, der mir vollkommen neu gewesen ist. Nun, ich habe aufgefüllt, soweit es eben ging. In aller Stille habe ich mich von einigen meiner Lieblingsgemälde getrennt und mit Hilfe eines diskreten Malers gute Kopien an ihre Stelle gehängt. Meine Jacht habe ich unter dem Vorwande, daß sie nicht mehr seetüchtig ist, verkaufen lassen; in Wirklichkeit war ich selbst nicht mehr seetüchtig. Sogar von meinem Automobil habe ich mich getrennt. Trotz des gesetzlichen Verbotes habe ich mich entschließen müssen, diesen Wagen zu nullen. In meiner falschen Scham habe ich allerlei Ausflüchte gesucht, um meine Lage zu verdecken. Daß sie trotzdem unter meinen Klubfreunden bekannt geworden ist, habe ich an vielen kleinen Zeichen bemerkt. Besonders auffallend war es mir, daß in den letzten Wochen bald der eine, bald der andre mich beiseite zog und die Frage an mich richtete, ob ich ihm nicht mit einigen braunen Scheinen aus einer Verlegenheit helfen könnte? Offenbar wollten es die schlauen Herren auf diese Weise nur vermeiden, daß ich die gleiche Frage an sie selbst richtete. Und wenn ich vollends über meine Situation in der Gesellschaft noch im Dunkeln gewesen wäre, dann hätte mich ein Brief darüber aufgeklärt, den ich von meinem Vetter Waldemar bekommen habe. Das ist nämlich ein unheimlich korrekter Mensch, der immer im richtigen Augenblick das richtige Wort findet. Ich glaube, er hat statt eines Herzens eine Registrande in der Brust mit lauter numerierten Empfindungen, die er nach Bedarf pünktlich verwendet. Ohne viele Redensarten und Umschweife hat er mir den ehrenvollen Antrag gemacht, auf seinem Rittergut Nieder-Göhrsdorf in der Mark die Verwaltung seiner Forsten zu übernehmen. Und dabei hat er mit einschmeichelnder Beredsamkeit hinzugefügt:

»Natürlich wirst du dabei vollkommen vergessen müssen, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung wir stehen. Es ist das korrekte Verhältnis des Verwalters zu seinem Gutsherrn, das für unsern Verkehr in erster Reihe maßgebend sein muß –«

Und das war der Moment, wo ich das Pistölchen geladen habe, das in diesem Augenblick neben mir liegt.

*

Ich lese jetzt in Ihren wohlwollenden Mienen die Frage, die Ihnen freundschaftliche Besorgnis nahe legt, ob es nicht noch irgend ein andres Auskunftsmittel gibt? Und wenn ich Ihnen noch einen Augenblick Zeit lasse, so werden Sie mich sicherlich auf den allgemein für so gangbar gehaltenen Weg der Arbeit verweisen. Etwas tun – Etwas werden! – Sehr hübsch! Etwas verdienen – noch viel hübscher! Wenn das nur nicht alles schon im Zuschnitt verdorben wäre! Was kann denn unsereiner nach so einem Feiertagsleben noch werden? Vielleicht der Trainer irgend eines reich gewordenen Börsenmannes, der sich einen Stall hält. Gestütsdirektor irgend eines Protzen. Ein Leben voll Stallgeruch! Und es ist merkwürdig, daß fremde Ställe soviel schlechter riechen, als unsere eigenen. Nein! Das hat nichts Verlockendes. Man hat mir die Aussicht eröffnet, einen luxemburgischen Schaumwein in Deutschland einzuführen. Haben Sie schon einmal luxemburgischen Schaumwein getrunken? – Ja? – Nun, dann werden Sie begreifen, daß ich in eine solche Propaganda zur Verbreitung des Magenkatarrhs schon aus Menschenfreundlichkeit nicht eintreten will. Oder nach Amerika auswandern? – Gegen diesen Erdteil habe ich ein entschiedenes Mißtrauen. Wenn man in dem Land ohne Geld leben könnte, dann würden die vielen Kassierer, die herüber gehen, doch nicht die Vorsicht gebrauchen, immer die Kasse mitzunehmen – Bleibt eigentlich nur noch übrig, daß ich militärischer Sachverständiger für ein liberales Blatt werde – aber dazu könnte ich mir selbst nicht raten.

Der Kommerzienrat Finck, der zartfühlende Vorsitzende unseres Klubs, hat mich neulich in eine Ecke genommen und mir die Frage vorgelegt, ob ich ihm nicht einen neuen Intendanten für den Klub empfehlen könnte? Aber es müßte eine möglichst dekorative Persönlichkeit sein. Ich habe es ihm angemerkt, daß das nur eine schonende Form war, um mir selbst die Annahme dieser Stellung nahezulegen. Ganz unmöglich! Wo ich einst Herr gewesen bin, jetzt Diener sein? Wenn der Bediente auch Intendant heißt – Nein! Lieber Holz hauen, als moralisch so vor die Hunde gehen. Soll ich vielleicht erleben, daß die liebenswürdigen Humoristen unseres Klubs sich den Scherz leisten, mich eines Tages »Herr Ober« zu nennen? Wenn sich die Armut auch sonst ertragen ließe, in dieser Umgebung würde sie mich erdrücken.

»Aber Nieder-Göhrsdorf in der Mark?« Ich höre diese Frage wieder und wieder von Ihnen, und wenn Sie jetzt neben mir saßen, ich bin gewiß, daß Sie mich überreden würden. Das ist ein demütigendes, aber reinliches Leben, daß mir da Vetter Waldemar anbietet. Schade, daß er nicht auf einem Thron geboren ist. Er würde unter dem Namen »Waldemar der Korrekte« sicherlich in die Weltgeschichte übergehen. Auf der Klitsche da draußen würde es natürlich zum Frösteln einsam sein, aber schließlich bleiben mir doch meine schönen Pürschgänge durch die stillen Waldwege, auf denen ich mich selbstquälerisch mit dem letzten Rätsel beschäftigen kann, das mir das Leben noch aufgibt: Wie es hätte anders kommen können? – Und abends, wenn die Winde durch die Scheiben blasen, bleiben mir meine Bücher. Sie wissen ja, daß ich immer gern und viel geschmökert habe. Sogar Ihre eigenen Schriften, Herr Doktor! Obwohl Sie mich freundschaftlich davor gewarnt haben – Ja – ja – es wäre ein recht lautloses Leben, in das ich da hinunterglitte, ohne Klang und Farbe, aber es hätte den Vorzug der Verborgenheit. Zwischen den Föhren von Nieder-Göhrsdorf brauche ich wenigstens nicht zu befürchten, daß ich Freunden begegne, die plötzlich kurzsichtig werden, wenn ich ihnen in den Weg trete. Im Grunde wär's nur eine langsamere Form des Selbstmordes, aber ich kann mir nicht helfen, so ungeduldig ich auch sonst bin – bei einem Selbstmord scheint mir die langsamere Methode als die angenehmere. Es ist toll, daß man sich von der schlechten Gewohnheit, zu atmen, so schwer frei machen kann! In mir schreit eine Stimme: »Leben! – Nur leben! – Meinethalben wie ein Hund leben, aber doch leben!« Und überlege ich's genau, so ist der Unterschied nicht gar so groß zwischen dem, was ich tun wollte, und dem, was ich tue. Denn wenn ich das Gehölz von Nieder-Göhrsdorf erreicht habe, dann bin ich nicht mehr der gleiche, der ich gewesen bin. Ich bin der Nachkomme meiner selbst geworden und denke an den seligen Baron Niki v. Gemmingen nur noch mit der lauen Pietät, die man einem seiner Urahnen schuldet –

*

Mein Gespräch mit Ihnen ist zu Ende. Sie haben mich vollkommen von der Stichhaltigkeit Ihrer Argumente überzeugt. Ich habe meine Pistole soeben entladen. Aber ich konnte mir eine letzte Bosheit gegen den Sanitätsrat nicht versagen, der mich durch seine hartgeschmiedete Selbstsucht so oft gekränkt hat. Ich habe ihn wieder telephonisch aus dem Schlafe gerüttelt und ihm mit der Pistole in der Hand zugerufen:

»Sanitätsrat, es ist so weit – Ich zähle bis drei und dann geht's los! Eins – zwei – und drei –«

Und dabei habe ich mit der Pistole in die Luft geschossen. Den Schreck mußte ich ihm noch in die Glieder jagen, und ich freue mich kindisch, wenn ich ihm morgen früh so springlebendig entgegentrete. Sie aber, lieber Doktor, bitte ich, wenn Sie mir in den nächsten zweiundzwanzig Jahren noch eine Mitteilung zu machen haben, sie an die Adresse zu richten: Nieder-Göhrsdorf in der Mark, Post Trebbin! – Angenehmes Örtchen, wie? – Aber was hilft's? Ich bin nun einmal gegen die Lockungen der Lebenslust wehrlos – und gegen einen Wehrlosen darf man nicht die Waffe richten.

Herzlichst Ihr Niki.


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