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Eine Frauenbeichte

Als Fräulein Kamilla Waitz, die Vorsitzende einer ethischen Gesellschaft, welche den Kampf gegen alle sittlichen Vorurteile auf ihre Fahne geschrieben hat, kürzlich ihren Briefeinlauf durchmusterte, fand sie auch ein Schreiben ihrer Freundin Melanie Brückner, das sich über vier Briefbogen verteilte. Sie las dieses umfangreiche Manuskript staunend zu Ende, zündete sich dann eine neue Zigarette an und reichte es mir schließlich mit den Worten:

»Das ist ja eine vollständige Frauenbeichte.«

»Auf die Rundfrage bezüglich, die Sie im Namen der ethischen Gesellschaft versandt haben?«

»Ja.«

»Und Sie werden den Brief in Ihrer nächsten Sitzung zugleich mit den andern Antworten zur Verlesung bringen?«

»Nein! Daran verhindern mich die ernsten Vertraulichkeiten, die er enthält, und die bösen Spottworte, mit denen er uns überschüttet. Aber Sie selbst, mein Lieber, mögen ihn immerhin lesen. Vielleicht wird er auch Sie etwas nachdenklich machen.«

Und ich las mit wachsender Aufmerksamkeit den ehrlichsten Frauenbrief, der mir jemals in die Hände gekommen ist.

*

Meine liebe Kamilla! Aber bist du denn ganz und gar verrückt geworden? Ich bin ja von dir allerhand Abenteuerlichkeiten gewöhnt, seitdem du in Zürich den philosophischen Doktortitel erworben und kurz darauf eine ethische Gesellschaft begründet hast, um an Stelle der alten Moral, die mir übrigens noch ganz gut erhalten vorkommt, eine neue zu setzen, die auf »freier und schöner Menschlichkeit« sich aufbauen soll – so lautet ja wohl das tönende Schlagwort? Ich kenne, wie du siehst, die Statuten deiner Gesellschaft auswendig. Ich habe es gelesen, daß wir Frauen nicht mehr länger »die Hörigen verjährter Weltanschauungen« bleiben dürfen und daß »die richtig verstandene Sittlichkeit sich nur auf der richtig verstandenen Freiheit aufbauen darf« – Ein Wort, das mir übrigens so bequem und elastisch vorkommt, wie ein gut gearbeiteter englischer Faltenkoffer: Man kann alles mögliche hineinpacken –

Ich wundere mich nicht, daß du mit diesem Schlagwort eine Anzahl reifer Mädchen um dich vereinigt hast, die aus den Schriften von Margarete Beutler und Dorothea Gäbeler ihre Ansichten von Leben und Liebe geschöpft haben. Das Dogma von der heiligen Mutterschaft, die auch mit Ausschluß des Standesbeamten verehrungswürdig bleiben soll, ist mir ausreichend bekannt. Ich habe mit Staunen beobachtet, daß alle solche Forderungen, die noch vor wenigen Jahren für parodistische Verfratzung gehalten wurden, inzwischen in vollem Ernst diskutiert werden. Aber trotz aller dieser Beobachtungen hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß du nunmehr mit einer Rundfrage selbst an das Frauengeheimnis rühren willst, das am ängstlichsten gehütet und von der Schuld oder von der Schamhaftigkeit mit unzerbrechbaren Siegeln verschlossen wird – Und immer wieder lese ich kopfschüttelnd den Text deiner Frage:

»Unter der Zusicherung der strengsten Verschwiegenheit ersuchen wir Sie, um eine Lücke der Moralstatistik mit wissenschaftlicher Gründlichkeit auszufüllen, wenn auch ohne Namensunterschrift, die Frage zu beantworten: Haben Sie, verehrte gnädige Frau, das Gelöbnis der Treue, das Sie einstmals in konventioneller Fügsamkeit abgelegt haben, unverbrüchlich gehalten? Und wenn es der Fall ist: Geschah es aus Grundsatz oder aus Zufall? Aus einem Überschuß an Tugend oder aus einem Mangel an Gelegenheit?«

Im Ernst, Kamilla, das ist der Gipfel der Indiskretion! Eine Enquete über die Frauentreue – eine Statistik des Wankelmutes – eine Art von ethischer Volkszählung – Ich suche vergebens nach einem Gleichnis, um dir in drei Worten die Ungeheuerlichkeit deiner Frage klar zu machen, die wie ein Perkussionshammer an verschlossene Frauenherzen klopft, und ich wundere mich nicht, daß du bisher nur schnippische und ironische Antworten erhalten hast. Ich finde es sehr begreiflich, daß dir eine Frau die Rundfrage mit der Gegenbemerkung zurückgesandt hat: »So fragt man die Leute aus!« und daß eine andre sich mit dem Epigramm an dir rächte: »Ich halte es für so unbequem, einen Mann zu betrügen, daß es beinahe noch bequemer ist, ihm treu zu sein.« Du wirst noch eine ganze Anzahl ähnlicher Zuschriften empfangen, aber jedenfalls wird die überwältigende Mehrheit der Frauen, die überhaupt antworten, dir die Versicherung geben, daß sie niemals auch nur mit einem sündhaften Gedanken die eheliche Treue verletzt haben, und ich höre es schon, wie du deiner ethischen Gesellschaft eines Tages als das Ergebnis deiner Rundfrage die wehmütige Mitteilung machen wirst, daß die Tugend heutzutage das verbreitetste von allen Lastern zu sein scheint.

Und ich selbst, Kamilla? Sieh, meine Liebe, mich setzt die Gewissensfrage, die du an mich gestellt hast, auch nicht einen Augenblick in Verlegenheit. Ob ich meinem Gatten, dem Dachpappenfabrikanten Moritz August Brückner, in der Zeit unserer fünfzehnjährigen Ehe immer treu geblieben bin? Ich antworte dir mit einem lauten und vernehmlichen: »Ja – ja – und nochmals ja! –« Aber du brauchst deshalb nicht schlecht von mir zu denken! Es soll keine Tugendprotzerei aus meinem Bekenntnis sprechen. Mit meiner Treue hat die Moral nichts zu schaffen: Weder die alte, die dir so bitter verhaßt ist, noch die neue, die ihr einstmals auf den Statuten der ethischen Gesellschaft aufbauen werdet. Und gerade mir hätten vielleicht auch strenge Richter einen gelegentlichen Schritt vom Weg nicht allzu übel genommen. Denn der Dachpappenfabrikant Moritz August Brückner ist ja in der Tat nicht der Mann, der ein Frauenherz durch anderthalb Jahrzehnte mit überlegener Sicherheit beherrschen könnte. Ich gebe es ohne weiteres zu, da wir uns ja hier unter vier Augen sprechen, daß er zu den Männern gehört, die man zwar nicht um ihrer selbst willen heiratet – aber man läßt sich bisweilen um ihrer selbst willen von ihnen scheiden –

Warum es trotzdem bis heute noch nicht dazu gekommen ist? Ich will's dir beichten. Und vielleicht wirst du aus meinen Geständnissen die überraschende Tatsache erfahren, daß man bisweilen einen Mann nur deshalb nicht betrügt, weil man – einem andern treu ist.

*

Das klingt paradox. Und doch habe ich dir, meine liebe Kamilla, mit diesem einzigen Wort das erste und das letzte Geheimnis meines Lebens entschleiert. Jawohl! Auch durch meine Mädchenzeit ist ein Traum geschlüpft, ist eine verführerische Männerstimme geklungen, ist eine heiße und zärtliche Hoffnung gewandert, die mir noch heute das Blut wärmer macht. Und diese Hoffnung trug eine blaue Marine-Uniform mit goldenen Tressen. Der Seeoffizier war damals noch nicht in unserem Gesellschaftsleben eine so alltägliche Gestalt, wie es heute der Fall ist. Für mich witterte etwas wie die Romantik des fliegenden Holländers um den jungen Marineleutnant, der immer nur für kurze Urlaubswochen in der hauptstädtischen Gesellschaft auftauchte – und du wirst es mir nachfühlen, wie sehr es mein jugendliches Blut aufrühren mußte, daß dieser stille, ernste und stolze Mann meiner siebzehnjährigen Unbedeutendheit soviel Beachtung schenkte.

Ich will dir nicht den verjährten Roman wieder erzählen. Er ist mir noch heute ein Unberührbares geblieben. Ich vertraue dir nur das eine, daß ich in der ersten Abschiedsstunde mein Herz an ihn für immer verloren habe. Worte des Abschieds haben eine unwiderstehliche kupplerische Gewalt, und noch heute klingt's mir im Ohr, wie er mit schwermütiger Beredsamkeit zu mir sagte:

»Lassen Sie mich eine letzte Bitte wagen. Wir Seeleute haben manchmal in sternenlosen Nächten, wenn der Ozean in seiner unermeßbaren rätselvollen Einsamkeit vor uns liegt, schmerzliche Stunden, wo das Heimweh uns Wundmale in die Seele brennt. Geben Sie mir Ihr Bild mit auf die weite Fahrt! Es soll mir Heimat und Vaterland wiedergeben, wenn eine solche Stunde unerträglicher Sehnsucht kommt.«

Und er küßte zuerst das Bild, das ich ihm willig gab, und dann das Urbild, das sich ihm nicht zu entziehen vermochte, und damals brannten meine ersten Liebesküsse auf seinen Lippen –

Noch dreimal kehrte er von seinen Fahrten in die Hauptstadt zurück – zu flüchtigen Begegnungen, die immer wieder in einer Abschiedsstunde von leidenschaftlichem Ungestüm ihren Abschluß fanden. Von unterwegs kam ab und zu einmal irgend eine exotische Seltsamkeit, die meist aus der reichen Schatzkammer der japanischen Volkskunst genommen war, und diese Bibelots, die den andern so wenig und mir so viel sagen, sind noch jetzt der einzige Schmuck meines Boudoirs geblieben. Aber seltener und immer seltener wurden die Zeichen liebevollen Gedenkens, die über das Meer ihren Weg fanden, und endlich kam die Nachricht, die allem ein Ende machte. Der junge Offizier hatte sich entschlossen, aus dem Dienste seines Vaterlandes auszuscheiden und einem Lockrufe der japanischen Regierung zu folgen, die damals – du hast es ja in allen Zeitungen gelesen – mit Vorliebe europäische Kräfte anwarb, um ihre Wehrmacht zu Wasser und zu Lande nach westlichen Vorbildern umzuformen – Nun hieß es, unter dieses Kapitel einen Schlußstrich machen und in einer verschwiegenen Lebensecke die Träume einer Mädchenjugend lautlos verscharren.

Die Zeit kam, da die Fürsorge liebender Eltern sich mit meiner Zukunft beschäftigen mußte. Man führte mir haarscharf den Beweis, daß ich mich endlich verheiraten müßte, um nicht in die unerfreuliche Gilde der späten Mädchen eingereiht zu werden. Man führte mir eine Anzahl von Männern vor, die sämtlich zum Gähnen korrekt und zum Ausweichen tadellos waren – ehrbare Herren, die nicht mit der kleinsten interessanten Untugend gesprenkelt waren. Ich wählte meinen Moritz August, der zwar kein großer Mensch, aber ein großer Dachpappenfabrikant war, und der mein Leben seitdem mit allen Freuden geschmückt hat, die käuflich sind. Sein Charakter wird durch die schönen Worte des Witterungsberichtes gezeichnet: »Kühl, aber beständig –« und in den fünfzehn Jahren unserer völlig wolkenlosen, aber auch völlig windstillen Ehe hat er mich das große Geheimnis gelehrt, daß es in einem Menschenleben gar nicht so warm zu sein braucht, wie die jungen Mädchen es sich träumen lassen.

*

Es wäre eine süßliche Romanlüge, wenn ich dir sagen wollte, daß die Erinnerung an meinen Jugendroman mich noch heute bedrückt oder mir die Tage verschattet. Dennoch lebe ich unbefreibar in der Gefangenschaft dieses Erinnerungsbildes, das niemals aufhören wird, mir den reichsten und heimlichsten Inhalt meines ganzen Lebens zu bedeuten. Ich hoffe nicht mehr auf ein Wiedersehen. Wenn es mir trotzdem unvermutet gegönnt wäre, so hätte ich schwere Befürchtungen für Moritz August, denn in alten Jugenderinnerungen lebt eine geheimnisvolle Flamme, die vielleicht plötzlich hoch aus der Asche schlägt. Aber zwischen mir und meiner Jugend liegen Länder und Meere. Nur ein sehnendes Erinnern ist unentreißbar in mir lebendig geblieben – und wenn der Leichtsinn oder der Übermut in spielerischer Augenblickslaune die Arme nach mir ausstreckt, wenn die Lüsternheit mir heiße Worte ins Ohr flüstert, so tritt zwischen mich und die Verführung der Traum meiner Mädchenjahre. Ich denke an die ersten Stunden des Rausches, die ich durchfiebert. Ich sehe zwei ernste und tiefe Augen auf mich gerichtet. Von meinen Erinnerungen werde ich wie gelähmt, wie umklammert – und darum, meine liebe Kamilla, durfte ich dir sagen: Ich habe meinen Mann zwar niemals betrogen, aber nicht er ist es, dem ich treu geblieben bin –

Ich sehe dich über dieses Bekenntnis lächeln. Ich weiß wohl: In einem deiner kühnen Gegenwartsromane, die du mit robuster Stofflichkeit sättigst, würde eine Frau, die sich an das Körperlose gefangen gibt, keinen Platz finden. Sie würde wie ein Überbleibsel aus der Empfindsamkeitsepoche, wie eine lyrische Almanachblüte aus irgend einem literargeschichtlichen Herbarium erscheinen. Dennoch wird dich vielleicht die schlichte und ehrliche Geschichte meines Lebens belehren, daß Treue und Untreue nicht Worte sind, die für jede Frau den gleichen Inhalt haben, und daß du vielleicht gut tun würdest, in deiner ethischen Gesellschaft mit diesen Unwägbarkeiten nicht mehr so lehrhaft zu spielen. Denn glaube mir: Von einem Traum kann ein Frauenherz unterjocht werden, aber niemals von einer Lehre; mag sie nun aus der alten oder aus der neuen Moral stammen. Deine Mela.


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