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Kaiser Josefs Brieftasche

Der alte Herr hatte sich allmählich so in die Hitze gesprochen, daß er schließlich auch vor abenteuerlichen Paradoxen nicht zurückschreckte und seinen Sermon mit der feierlichen Beteuerung abschloß:

»Und auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen rückständigen alten Pfahlbürger erklären, bekenne ich Ihnen offen, daß ich mit allen meinen Wünschen und Anschauungen noch im Theater von ehemals wurzle und mir mit aller Sehnsucht meines Herzens die Zeit zurückwünsche, wo alle Schicksalswirren und düsteren Konflikte in der letzten Szene plötzlich durch die Brieftasche des Kaisers Josef zur Genugtuung der Hörer ihre erfreuliche Lösung gefunden haben.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?« scholl es von allen Seiten.

»Sie wollen uns mit einer der eigensinnigen Hyperbeln necken, an welchen Sie so viel Gefallen finden,« warf ich selbst ein.

»Oder könnten Sie wirklich,« rief ein junger Schauspieler, der an unserem Stammtisch seine erste Gastrolle gab, »die Zeit wieder herbeisehnen, wo uns eine platte Schmeichelkunst auf der Bühne ein Leben vorgespiegelt hat, das es nie gegeben hat?«

»Ja, das könnte ich! Allerdings!« knurrte der Alte. »Und eben das ist es, was mir die Bühne zu meiner Jugendzeit so lieb gemacht hat. Die Theaterkunst hat uns damals neben die wirkliche Welt ein Wunderland gebaut, wo die Guten belohnt und die Schlechten bestraft wurden und wo in unerbittlicher Einfachheit das Gesetz von Schuld und Sühne geherrscht hat. Damals konnten sich die Zuschauer noch rasch und sicher in den Werken zurechtfinden, die man ihnen vorführte. Die ewigen und einfachen Gefühle wurden in uns wachgerufen, die in jedem geraden Herzen schlagen – und wir brauchten, um die Dichter zu verstehen, nicht die modernen Spiralseelen zu besitzen, die aus den verschlungensten psychologischen Gewinden zusammengesetzt sind. Wir wollten getäuscht werden, und wir wurden getäuscht! Und wir haben es den Schauspielern und den Dichtern nur Dank gewußt, wenn sie uns recht überzeugend getäuscht haben.«

»So, und der moderne Wahrheitsmut?« –

»Soll mir gefälligst vom Halse bleiben! Er hat mir die ganze Freude an der Bühne verdorben, mag er sich nun in dem Innerlichen der dargestellten Werke oder in dem Äußerlichen der szenischen Ausrüstung offenbaren. Denken Sie doch freundlichst einmal an die Sterbeszenen von ehemals und von heute! Da wurde früher dem verlöschenden Bühnenhelden im richtigen Augenblick der bequeme Sterbestuhl hingerückt, auf dem er in Schönheit sein Leben aushauchen konnte. Und das tat er denn auch immer nach den zarten Regeln des ästhetischen Schamgefühls, das alle häßlichen physischen Vorgänge dem Auge der Menschen entzieht. Heute erspart mir der sterbende Schauspieler keine einzige von allen Zuckungen und Krämpfen. Die Bühne wird zum Hospital, und über dem Entsetzen, das der körperliche Vorgang wach ruft, wird mir der Gedanke an das tragische Schicksal verkümmert, das ich doch in erster Linie hier veranschaulicht sehen wollte. Geht mir mit diesen realistischen Augenblicksphotographien, die ihr in irgend einem Lazarettzimmer abgeknipst habt! Und zum Henker auch mit allen andern Verstümmelungen, die euer pedantischer Wirklichkeitssinn in das Bühnenbild hineingetragen hat! Wenn ehemals auf dem Theater ein Dienstbote herbeigeklingelt werden sollte, dann brauchte der Schauspieler nur die immer bereitstehende Tischklingel in die Hand zu nehmen, und beim ersten leisen Anschlag der Glocke schnellte bereits die Mitteltür auf und der Diener oder das Hausmädchen war im Augenblick zur Stelle. So verlange ich es in gut geleiteten Bühnenhäusern! Das nenne ich Ordnung und Pünktlichkeit! Wenn aber heutzutage auf den elektrischen Taster gedrückt wird, dann wird dem Diener erst Zeit gelassen, den weiten Weg aus der Küche über den Korridor durch das Speisezimmer in den Salon zu durchmessen, und es entsteht eine jener leeren und toten Pausen, mit denen jede Aufführung jetzt durchlöchert wird, wie ein Sieb. Ehemals fand im Theater nur eine einzige größere Pause statt, und zwar im Zwischenakt. Jetzt gibt es immer sehr viele Pausen und zwar in den Akten selbst – Und auf diesen Fortschritt seid ihr noch stolz! Und rühmt euch dieser Stimmungstümpel, in welchen die Handlung regungslos stehen bleibt!«

»Sie können doch aber unmöglich leugnen, alter Herr, daß die bedürfnislosen Augen einer früheren Generation nicht mehr unsere Augen sein können! Wir haben uns einen geschärften Blick angewöhnt für alles, was von der Wirklichkeit abweicht, und darum kann bei uns eine Kunst, die Illusionen wecken und festhalten will, nicht mehr mit den derben und durchsichtigen Lügen von ehemals arbeiten, sondern muß mit der feinsten List ihre Täuschungen wahrscheinlich zu machen suchen.«

»So! – So! – Da waren wir also alle nur Idioten, als wir zur Zeit des alten Burgtheaters die höchsten künstlerischen Entzückungen unseres ganzen Lebens genossen haben, denen sich nie mehr etwas ebenbürtig an die Seite gestellt hat! Damals hat kein Mensch daran gedacht, daß ein Zimmer schließlich auch auf der Bühne mit einem Plafond gedeckt sein muß. Gemalte Sofitten hingen herunter und wackelten bei jedem Luftzug. Bücherschränke und Uhren waren an die Wand gemalt, und die ganze Pappdeckelwelt, in die wir hineinblickten, wollte sich für gar nichts andres geben als sie war! Aber innerhalb dieser falschen Wände hat sich eine echte Kunst offenbart. Durch ihre innerste Wahrhaftigkeit hat sie auch den Widerstrebenden gezwungen, nicht mehr nach rechts und nach links zu sehen, sondern nur atemlos an den Lippen der Schauspieler zu hängen und an ihren beredten Mienen und an ihrem nie wieder gesehenen Miteinanderspiel. Damals haben wir Töne vernommen, in welchen man das menschliche Herz klopfen hörte – und wenn wir zu Lobrednern der Echtheit wurden, so haben wir damit gewiß nicht die Echtheit der Möbel und Kleiderfetzen gemeint.«

»Aber, lieber Herr,« warf jetzt wieder der junge Schauspieler ein, »das ist doch nur ein Trugschluß, in den Sie sich verrannt haben. Oder glauben Sie im Ernst, daß unsere verehrten alten Meister im Burgtheater von ehemals schlechter gespielt hätten, wenn der szenische Rahmen ein besserer gewesen wäre? Und daß wir Modernen auf diesem Gebiete wertvolle Fortschritte gemacht haben, die den malerischen Sinn und den geschulten ästhetischen Geschmack erfreuen müssen, das zum mindesten werden Sie doch zugeben?«

»Aber ich leugne,« erwiderte der alte Herr, »daß alle diese Fortschritte das erreicht haben oder jemals erreichen werden, was ihr in eurem Nüchternheitsdelirium für das Wichtigste haltet – nämlich uns eine Kongruenz von Bühne und Wirklichkeit vorzutäuschen. Im Gegenteil! Je augenfälliger die Übereinstimmungen in Einzelheiten sind, die ihr erklügeln könnt, um so lebhafter wird der Widerspruch des Auges gegen alle Inkongruenzen, die noch übrig bleiben. Seit ihr die modernen Wohnungen mit wirklichen Holztüren, die lebenstreu in ihren Angeln knarren, vor mir auf dem Theater aufgebaut habt, bemerke ich überhaupt erst, daß das Bühnenzimmer nur drei Wände hat. Und wenn ihr mir in den Garten der Portia wirkliche Kameliensträucher und eine lebendige Magnolie stellt, dann beginnen erst meine erstaunten Blicke wahrzunehmen, daß in eben diesem Garten gemalte Cypressen stehen – Wenn ihr mir die Lagunen von Venedig mit ihren vielen Brückenwölbungen auf einem gut gemalten Prospekt vor die Augen rückt, so freue ich mich an dem schönen Theaterbilde, dem meine eigenen venetianischen Erinnerungen noch die letzte Wahrheit geben, die ihm vielleicht gefehlt hat. Spannt ihr aber eine wirkliche Brücke über die Bühne, so kann ich die mit einigen Silberflittern benähte dunkle Gaze, über welche der Steg sich hinwölbt, unmöglich für Wasser halten. Und wenn ich trotzdem so gefällig bin, dann muß ich es unbegreiflich finden, daß dieses Wasser nicht über den Souffleurkasten hinweg ins Parkett fließt – Als ihr die Straßen von Venedig noch mit gemalten Häusern eingesäumt habt, ist meine Illusion willig mitgegangen. Wenn ihr mir aber die Fassaden plastisch hinstellt mit wirklichen Pfeilern und Balkons, so vermisse ich sofort mit Erstaunen die Dächer auf den Häusern und die Schornsteine auf den Dächern und den Rauch über den Schornsteinen – Kurz, ihr kommt über die Kompromisse des Bühnenscheines mit euren verschmitzten und anspruchsvollen Äußerlichkeiten ebensowenig hinweg wie die primitive Theaterkunst von ehemals, und der unüberbrückbare Abgrund zwischen Bühne und Wirklichkeit bleibt nach wie vor bestehen, wieviel müßige Scheinkunst ihr auch aufwendet, um ihn weniger fühlbar zu machen.«

»Sie bekennen sich also als unverbesserlichen Lobredner der alten Zeit?«

»Ja, das tue ich,« erwiderte der alte Herr, »selbst wenn ihr mich als überjährigen ›Theatraliker‹ bis in den Grund eurer tiefsten Seele hinein verachtet! Ich lobe mir die Zeit, in der die Türen auf dem Theater keine Klinken hatten und immer wie mit Geisterhänden geöffnet und geschlossen wurden. Ich lobe die Zeit, in der auch die Bühnenwälder nicht aus wirklichen Bäumen bestanden haben und nicht mit einem prahlenden Grasteppich bedeckt waren. Dafür gab es aber damals noch Schauspieler, die in der Stimmung nicht die Deutlichkeit zugrunde gehen ließen. Es gab eine Vortragskunst, die uns unverlierbare Melodien ins Ohr geschrieben hat. Es gab Stücke voll farbiger Handlung und bunter Abenteuer. Es gab in der Führung der Begebenheiten eine volkstümliche Logik, der jedermann folgen konnte, und die sich auch dem unverbogenem Empfinden verständlich aufgeschlossen hat. Es gab ein Auf und Ab von Spannungen und Lösungen, das den Zuschauer dauernd in Atem hielt – und wenn die Not einmal am größten war, dann gab es schließlich die rettende Brieftasche des Kaisers Josef, die in dieser schönen Fabelwelt allein mitleidsvollen Herzen eine ersehnte Befreiung bot. Mir ist sie zum Symbol einer leider abgestorbenen Theaterepoche geworden, und darum rufe ich noch einmal: Gebt mir die Brieftasche des Kaisers Josef wieder!«


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