Karl Bleibtreu
Der Aufgang des Abendlandes
Karl Bleibtreu

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II

Sich selbst verstehen gewinnt Zutritt zum »Sinn aller Dinge« (Kayserling), doch Tatsachenerweiterung okkulter Erfahrung schenkt auch nur eine neue Außenansicht, Erkenntnistheorie führt gründlicher zu Sinnvertiefung und Selbstverwirklichung. Sobald man sich in eine neue okkulte Tatsachenwelt verliert, veräußerlicht man einen neuen Materieschein. Dem nicht sinnlich gefesselten Denken sind alle Phänomene vertraut, die durch die Sinne kanalisiert werden, während das universale Sammelbecken überfließt. Sich durch äußerliche Wunder hochbeglückt fühlen, verrät nur die Schwäche, durch Sichtbares verdeutlichen zu wollen, was nur unsichtbar zu Unsichtbarem spricht. Psychomotorische Metapsychie gibt die Gewißheit, daß Überindividuelles schon das Diesseits imprägniert, telepathischer Konnex bedeutet allgemeine Seelenassoziation, Daseinsbeeinflussung durch verborgene Kraftströme. Materialismus und Okkultismus halten sich für unvereinbar, weil der eine nur Wahrnehmung, der andere nur Vorstellung für maßgebend hält, doch jede Wahrnehmung stellt sich etwas vor, jede Vorstellung nimmt etwas wahr. Auch Hellgesicht ist ein Sehen sinnesmäßiger Dinge. Jeder Okkultismus beweist nichts weiter als Mitteilhaberschaft aller Psychen, G. m. b. H. am riesigen Stammkapital und Fundus.

Der Psychologe Buddha würde über das Ansinnen lachen, daß man messend und seigend studieren könne, wozu nur beflügelte Intuition den Eingang findet. Dogmatischer Glaube an astronomische Mathematik, die ihrem Ursprung nach zur deduktiven Metaphysik gehört, und Ausmerzung der Astrologie, die sich induktiv auf Ephemeridentafeln stützt, als Ammenglaube scheint eine unangenehme Entgleisung praktischer Vernunft. Stand vermutlich nicht schon in Keplers Horoskop, daß ihm Brahe seine Beobachtungsnotizen für die Ellipsenbahnen hinterlassen werde? Ewige Vorbestimmung arbeitet mit allen Elementen gemeinsam, kosmische Erdbestrahlung durch die Planeten ist nichts Okkultes, sondern höchst Natürliches. Es wäre unnatürlich, wenn nicht bestimmte Aspekten die Elektronenenergetik der Lebensbeseelung leiteten, dagegen betrachtet Wissenschaft ein unnatürliches Wunder als natürlich, daß nämlich mathematische Himmelsmessungen zu stimmen scheinen. Kann man gelassen hinnehmen, daß das Säugetier homo sapiens über Planetenbahnen richtig aussagt? »Höhere Mathematik« wuchs wie ein Turmbau zu Babel, als Bausteine nur lauter Definitionen, die im Unsichtbaren Fuß fassen und so Sichtbares bestimmen sollen, also rein deduktives Verfahren statt experimenteller Induktion. Da Physik ohne Mathematik hilflos wäre, setzt sie Allmacht des Menschengeistes voraus, leugnet also Allmacht der Natur, welche sie doch materialistisch verfechten möchte. Astronomik ist ihr eherne Tatsache, Astrologie höherer Blödsinn, während diese doch eigentlich mechanistisch Abhängigkeit des Lebens vom kosmischen Zwang induktiv studiert. Absolute Richtigkeit astronomischer Berechnung ist erkenntnistheoretisch ein Unding, heute kam man schon durch Relativitätstheorie so weit, kopernikanischem Weltbild keinen Vorzug mehr vor dem ptolemäischen zu geben. Erddrehung um die Sonne fängt an vielen, wohl mit Unrecht, illusorisch zu werden. Was soll man also davon halten, wenn trotzdem bei astronomischer Rechnungsart objektive Richtigkeit herauszuschauen scheint? Das kann wieder nur auf freundlichem Entgegenkommen der Weltseele beruhen, die offenbar wünscht, der Mensch soll sich ein für ihn logisch begründetes Weltbild machen. Dies Entgegenkommen täuscht aber darüber, daß der Mensch innerhalb eigener Materialbegrenzung unmöglich die Allwirklichkeit erfassen kann. Anthroposophische Einbildung, der Menschengeist sei ein plötzlich der Natur entstiegener Gott und daher wohl befugt, das Ding-an-sich anzuschauen, ist gar zu grotesk; solchem Größenwahn entspricht aber, daß man dies unmögliche Wunder als wissenschaftliche Tatsache erträumt, während man die gar nicht wunderbare Astrologie verlacht. Warum hauptsächlich? Weil Vorbestimmung die famose Willensfreiheit beleidigt, ohne welche auch wissenschaftlicher Größenwahn nicht gut auskommen kann. Hier hat man wieder die Konfusion menschlichen Denkens, die das nämliche leugnet oder bejaht, je nachdem es in den Kram paßt. Determinimus wird bejaht, um Ethik und Idealismus zu verneinen, und im gleichen Atem verneint, um Freiheit materialistischen Denkens zu bejahen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: wäre der Mensch frei, dann dürfte er nach sich seine Weltanschauung wählen und seine Ethik dazu; ist er aber unfrei, so folgen Idealisten und Materialisten beide einer Zwangsvorstellung ihres besonderen Ich. Dem ist auch so, wie das Wesen der Sittlichkeit lehrt. Wenn der polnische Reichstag der Niezkyschen Konfusionslehre, die ihr Nomadenzelt rein ins Blaue aufschlägt und unter tuberkulöser Wangenröte des Übermenschenwahns an moralischer Schwindsucht hinsiecht, bei Todesstrafe den Antialtruismus zum Gesetz erhöbe, so würde der Gutartige sich dawider auflehnen oder höchst widerwillig das Bösartige tun. Dem Schlechtartigen dagegen sind schon die konventionellen Gesetze zu viel, er tut Böses »mit Lust und Selbstgenügen«, wie schon die Bagghavad weiß. Wenn sämtliche Spirits ihn versicherten, er werde sich damit große Unannehmlichkeiten im Jenseits schaffen, so ändert dies sein Treiben nicht im geringsten, auch hilft er sich eiligst damit, als gebildeter Tropf ein Jenseits zu leugnen. Sind also Fühlen und Denken determiniert, dann notwendiglogisch jedes Leben überhaupt, es ist rein aberwitzig, Vorbestimmung zu bestreiten. Denn gerade vom materialistischen Standpunkt aus würde sie sich ja natürlicher Mechanistik bedienen, dann aber auch gewiß kosmischen Einflusses der Planeten. Wie die ewige Wahrheit, so hängt auch zeitliche Geistesstörung als unlösliche Kette aneinander. Telepathische Prophetie muß alimine geleugnet werden trotz alles gepredigten Determinismus, denn sonst muß man höhere Kausalität als die des Stoffes begrüßen, da nichts vorhergesagt werden kann, wenn nicht alles vorbestimmt, jeder bestimmt prophezeite Vorgang bedingt Vorbestimmung aller andern Vorgänge, die kausal damit zusammenhängen. So bedeutet Hellgesicht einen »Riß durchs Fundament der Naturforschung« (Joel), darum muß man sich gewaltsam die Ohren gegen solche Sirenenlieder verstopfen. Man kann der Wissenschaft nur dringend raten im Interesse aller Pfaffengebühren ihres Pfaffenkults, bei bisheriger Haltung zu verharren: ich glaube an die alleinseligmachende Messung, ans unfehlbare physiologische Experiment und an mechanisches Leben, Amen.

Diejenigen neusten Wissenschaftler, die sich belehren lassen wollen, ziehen umsonst das sogenannte Okkulte in den Kreis ihrer Betrachtung, sofern sie nicht a priori erkenntnistheoretische Grundlage finden. Denn Verschiedenheit aller Telepathiker, Medien und Spirits schließt klare bindende Aussagen über Okkultes aus. Nimmt man persönliche Fortdauer der Iche an, wie müßte Brunos Spirit sich abwenden von all dem Kroppzeug, das der Weltkrieg hinüberlieferte! Da die ungeheure Mehrzahl nur von selbstischen Affekten bewegt wird, darf man nicht erwarten, daß sie jenseits irdischer Bewußtseinsschwelle etwas wesentlich anderes kennt, denn bei persönlicher Fortdauer hört ja Ichbewußtsein nicht auf. Wenn Kriegsfreiwillige bei Ypern mit »Deutschland über alles« in den Tod gingen, so mögen sie nach japanischer Vorstellung sich dadurch ein günstiges Karma erworben haben, doch die braven Jungen erwarben sicher nicht damit klarere Anschauung ihrer neuen Astralebene. Was helfen ungenügende Geisterbotschaften, was unvollständige Hellgesichte, solange man nur fragmentarisches Stückwerk erhält! Die Überzeugung von Tatsächlichkeit der Spiritwelt hat philosophisch nur den negativen Wert, plumpen Materialismus zu entwurzeln. Dagegen hat rein spekulative Überzeugung von Karmavorbestimmung und Wiedergeburt bei der Mehrzahl der asiatischen Menschheit positiv gewirkt, Brahmanisten und Buddhisten bedürfen keiner Spirits dafür, so wenig wie die Weisen des Altertums, auch verläßt man sich nicht auf Magie als etwas für sich Bestehendes, sondern als Ausfluß höherer Mächte. Die Semitenreligionen konnten ihren sinnlichen Anthropomorphismus und eudämonistischen Egoismus nicht voll bewahren, denn die christliche Mystik mündete alsbald in die neuplatonische über und arabische Philosophie kehrte zu indischer Anschauung zurück wie die platonische, Buddhas Wandelwerden setzte sich in Heraklit, Ägyptisches in Pythagoras fort, Neoplatonik in Bruno, Calvins Prädestination ist theologisch verdorbener Karmaglaube. Denn wahres Denken läuft stets in gleicher Linie, unabweisliche Fluiden sprangen sowohl auf Kant wie auf Swedenborg über. Daß das Denkergebnis jeder echten Physik metaphysisch wird, läßt sich, da Kopfabschlagen das sicherste Mittel gegen Zahnweh, am besten durch Totsagen der Metaphysik heilen, doch es heißt den Teufel mit Beizebub vertreiben, wenn falschem Objektivismus maßloser Subjektivismus entgegentritt. Weil die ihm sichtbare Welt nur des Menschen Vorstellung ist, was übrigens zuerst Descartes' »Betrachtungen« festlegten, braucht sie noch lange nicht Werk seines Willens zu sein, dieses illusorischen Amphibiums Schopenhauers, das in lauter Vorstellungen zerfließt. Für die Ameise ist Gott eine große Ameise, ihr Lebenswille hat sicher auch Weltvorstellungen, man kann aber aus einem Tropfen wohl die Beschaffenheit des Meerwassers, nicht aber das Wesen des Weltmeers konstruieren, das Unendlich-Große hat unbekannte Eigenschaften, nicht abgezogene Menschenbegriffe. Der selige Gottlieb Schulze, der »im Nebel« haust, vertröstet auf »Gebet und Christus«, wie seine Familienangehörigen sein Gestammel haben möchten. Doch stammelt nicht auch Hegel über Unerkennbares? »Alles Vernünftige ist wirklich, alles Wirkliche vernünftig« heißt antithetisch Unvereinbares verquicken. Was man das Wirkliche nennt, ist kausal geworden und wird so fortwährend, das daraus abstrahierte Vernünftige ist nur ein nicht mal konstantes Werturteil, an dem kein Wirklichkeitssinn unbedingte Kausalnotwendigkeit nachweisen kann. Viel wird wirklich, was der Menschenvernunft widerstrebt, Hegel glorifizierte erst Napoleon und ebenso bereitwillig den preußischen Polizeistaat als vernünftig, also waren Greuel und Torheiten der französischen Revolution so vernünftig wie ihre bessern Elemente, ein Massenmörder hat als wirklich gleiches Vernunftrecht wie Jesus. Phänomenologie hat einen Knacks in der Denkweise, für Menschenurteil ist Wirkliches nicht immer vernünftig, Vernünftiges nicht wirklich, weil es nicht sichtbar ist! Nur was »höher als alle Vernunft« kann leiden als sinnvoll ertragen, Urchristentum hat vielleicht mehr Verständnis als Buddha, der gewaltsam das Wirkliche bezwingen und künstlich ausrotten will. Denn die Weltökonomie kennt notwendig kein Übel; was der Mensch so empfindet, ist trotzdem notwendig, also heilsam. Der Held, der für seine Ideale kämpft, ist unvernünftig in Hegels wie Buddhas Sinne, doch die Weltvernunft, nach ihrem Größenmaßstab unfaßlich für Menschenverstand, bestimmte ja deterministisch die Heldenpsyche, die ihren notwendigen Idealismus als ihr alleingültige Wirklichkeit entfaltet.

Religion und Philosophie gehen darin einig, daß sie beschränkten Menschenverstand zum Maß aller Dinge machen, schon Magister Sokrates bekannte weise, das All außerhalb des Menschen sei ihm schnuppe. Kants Imperativ schleppt theologische Eierschalen mit, dem natürlichen Menschen befiehlt kategorisch nur sein heiliger Egoismus, für ihn büßt jede »Tatsache« gerade durch ihr Sichtbarwerden psychische Wahrheit ein. Der seltsame Feldherr Wellington, in dessen diplomatischer Nüchternheit manchmal etwas Intuitives aufblitzte, äußerte zu Lady Saislbury: »Betrachtet man einen Gegenstand, taucht plötzlich eine ganze Kette von Urteilen auf wie ein Lichtstrahl, man sieht alles zugleich und doch braucht man zwei Stunden, um niederzuschreiben, was in einem einzigen Augenblick im Geiste vorfiel, jeder Teil des Gegenstandes, die Beziehungen aller Teile aufeinander, alle Folgen davon stehen da vor Augen«. Dies beschreibt, bei ihm auf niedere Ebene der Wirklichkeit beschränkt, das Telepathische jeder genialen Anlage, den Zustand der Illumination, wo er sehr richtig den Augenblick viel höher einstellt als die nachhinkende Zeit der Auseinandersetzung bei Zerlegung des Gegenstands. So wird für Verstehen des Unsichtbaren spontane Theorie immer praktischer sein als Praxis, tausend Geistererscheinungen sagen nicht so viel als erkenntnistheoretisches Erfassen der Geisterwelt. »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft!« ruft nicht der Theosoph Goethe, sondern sein Mephisto der Materie, Goethe selber erklärte jeden inspirierten Gedanken für freies Geschenk der Götter, das man passiv in sich aufnehme. Diese fälschlich Vernunft betitelte Empfangsstelle für ätherische Telefunken schafft Wissen auf höchst unwissenschaftlichem Wege, spintisierende Denksysteme schwanken hin und her wie Luthers betrunkener Bauer. Luther selbst war ein handfester Anthroposoph, der Gott Ohrfeigen anbot, wenn er dem religiösen Größenwahn nicht zu Willen sein will: Gott als Wille und Vorstellung des Menschen! Der Polpunkt Gott, der auch die Erdachse beliebig verändern kann, ist aber ein springender Punkt, wie Pascal frei nach Montaigne und Cusa sagte »le Centre nulle part«. Ständige Formeln wie »Gaswirbel«, »Ätherschwingung« sind bloße Worte, Sprachdenkbegriffe, durch neue unsichtbare Potenzen könnten alle Säulen der Naturforschung einstürzen.

Die Erscheinungswelt wird uns in winzigen Bruchstücken sichtbar wie die Sternschnuppe durch athmosphärische Reibung: uns unsichtbar werdend ist sie immer noch da. Wenn der Magnet ein Staklstüchchen anzieht, folgert man daraus Magnetismus, ähnlich steht's mit den Strahlen: Zufällig lernt man eine Kraft dadurch kennen, daß sie eine uns zufällig sichtbar werdende Nebenerscheinung hervorruft. Von Tönen hören wir eine bestimmte Luftschwingungsanzahl, alles was darüber oder darunter ist, bleibt unhörbar. Wenn um uns herum Millionen Spirit's Gespräche führten, würden wir keinen Ton vernehmen, Spukgeister müssen durch Stöhnen, Scharren, Klopfen menschliche Illusion erwecken, um sich hörbar zu machen. »Auch nicht der kleinste Stern, den du da siehst, der nicht im Umschwung wie ein Engel singt«, doch solche Sphärenklänge vernimmt nur Shakespeares inneres Gehör, »solche Harmonie ist in unsterblichen Seelen, doch wir können sie nicht hören.« Beethoven und Wagner hören, was sinnliches Empfindungsvermögen vermittelt; hörten sie mehr, durch welche Instrumente sollten sie es verständlich machen? Das Unhörbare ist der Urquell alles Tönens. Licht und Farbe als Ätherschwingung sind uns nur ein Regenbogen, außerhalb dieser schmalen Grenze empfinden wir nichts. Erstaunliche Verknüpfung von Hören und Sehen, wodurch ein Sensitiver Töne bei Farbe und Farbe bei Tönen empfinden kann, beweist daher Einheit der Sinne als einheitlichen psychischen Vorgang. Materie stellt sich den Facettenaugen der Insekten völlig anders, doch ebenso relativ wahr dar, Wärme hängt lediglich von Blutwärme des Bestrahlten ab. Man redet von Dampfkraft, als ob es sich dabei um Pferdekräfte handle, doch wir nehmen nichts wahr als eine Eigenschaft des allgemeinen Wasserstoffs, dessen Aggregat- oder Auflösungszustände uns nur teilweise bekannt werden und die im Wasserstoff des menschlichen Körpers gleiche Verwandlungsfähigkeit durchmachen. Ihre Verbindung mit Sauer- und Stickstoff aus dem Äther ergibt wiederum einen Verbrennungsprozeß, so daß sich wässeriges und feuriges Element im Endergebnis nicht scheiden lassen. Erhaltung der Kraft beweist man aus Wärmesummen, ebensogut könnte man sie aus einem beliebigen andern Phänomen beweisen, wenn man die nötigen Handhaben dafür hätte. Jedes Ganze gleicht jedem Teile, doch hier sind der Teile so viele, daß der verwirrte Menschengeist nichts überschauen kann in dieser einen unteilbaren Republik (une et indivisible) des Weltorganismus, den Fechner vollkommen logisch als ein einziges psychodynamisches Wesen auffaßt.

Wenn Darwin aus völliger Verschiedenheit seines Bruders von ihm sehr richtig schloß, er halte mit Galton alle psychischen Neigungen für angeboren und durch Milieu unveränderlich, so hätte er aus solcher Ungleichheit der Artung bei gleichem Ursprung lieber das Psychische des Weltbilds und aller Varianten folgern sollen. Er entdeckte kurz vor seinem Tode 1880 »die Macht der Bewegung in den Pflanzen«, darin steckt kein Evolutionsprinzip, sondern nur Identität von Bewegung und Leben, das immer psychische Dynamik ist, im Individuellen nur Spiegelung des supraindividuellen Weltvorgangs. Sein Mitstreiter Wallace, der zuerst 1858 die Phrase »strugle for life« als Evolutionshebel aufdrehte, war ebenso fanatischer Spiritist wie Crookes, aus dessen Intuitionsblitzen erst Maxwells Elektronen und die Röntgenstrahlen entsprangen. Spezialisten, die jenen nicht die Schuhriemen lösen können, bedauern herablassend solche Verirrungen wie auch von Du Prel, Sciaparelli, Flammarion, Lombroso oder Newtons Bemühung um die Offenbarung Johanni. Wir selbst stehen der Auslegung des Spiritismus skeptisch gegenüber, wie sie heute Lodge und der literarische Detektiv Doyle unterschreiben, uneingedenk des eigenen Detektivgrundsatzes, daß Indizientatsachen nur dann zur Wahrheit führen, wenn sie sich mit logischer Theorie decken. Doch nur ein verbohrter Narr verkennt, daß uns hier einzelne neue Eigenschaften des psychischen Weltprozesses wahrnehmbar werden und auch Telepathie einfach ein anderes Bruchstück jener zeit- und raumlosen Kraft bedeutet, die wir seit ältesten Zeiten als schöpferisches Genie kennen. Das Sichtbare läßt sich nur aus dem Unsichtbaren ableiten, das Unsichtbare nie aus dem Sichtbaren. Das darf aber nicht dualistisch verstanden werden, denn wenn wir zu lesen verständen, wäre uns jedes Sichtbare ein Hieroglyph für unsichtbare Zweckgedanken, jede Materie gleicht jedem okkulten Phänomen, Natur ist ein einziges Naturwunder. Sie lüftet manchmal den Vorhang, denn in Attraktion des Magnetismus, in positiver und negativer Einschaltung der Elektrizität, in Durchleuchtung der X-Strahlen, in stoffloser Fernwirkung drahtloser Telegraphie empfängt der aufmerkende Mensch sichtbare Sicherheitspfänder, daß das Unsichtbare in sich alles das trägt, was wir Leben und Materie nennen. Die Elektronen stellen den Vitalismus auf festere Grundlage, Entdeckung der Zerspaltbarkeit von Atomen gibt der alten abstrusen Atomistik den Abschied. Fern sei uns, das in Technik umgewandelte Naturforschen an sich schmälern und verkleinern zu wollen, in ihm aber hat der Materialismus ungewollten Selbstmord verübt, er zwang sich selber, Experimentalphysik zum Werkzeug des Transzendentalidealismus zu machen. Selbst praktischer Spezialismus wie Helmholtz' Optik wurzelt in abstrakten Voraussetzungen, die auf Entgegenkommen zwischen innerer und äußerer Materie subjektivobjektiv fußen. Wenn Gehrke »Physik und Erkenntnistheorie« 1921 die kausale über die konditioneile Naturbetrachtung stellt, weshalb er gegen Einstein Front macht, so mag man zwar mathematische Denkweise als teils scholastische, teils phantastische Verstandesausschweifung ablehnen, sofern sie sich souverän in die Allordnung einsetzen will, doch ist Selbsttäuschung menschlichen Kausalitätsbedürfnisses, eine realistische Wirklichkeitswelt nur aus äußerm Naturwirken aufzubauen. Kausalität (vgl. Mach) ist bloße Denkfunktion, die dem beschränkten Menschen jede Wirkung erklären soll. Aber Gott, Ewigkeit, Unendlichkeit, diese Dreieinigkeit der Allunsterblichkeit, haben notwendig keine Ursache, sind es sich selber, so daß der Kausalitätsbegriff schon in seiner Urwurzel abgeschnitten wird. Die letzten Ursachen der kleinsten Wirkung sind so unzählbar, daß dem ins Sichtbare gebannten Physikverstand unmöglich wird, den Kreislauf des Geschehens kausal zu verfolgen. Wer von A bis Z buchstabiert, folgert gewiß nicht, daß A die Ursache von Z und Z die Wirkung von A sei, sondern das ganze Weltalphabet steht gleichzeitig da.


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