Karl Bleibtreu
Der Aufgang des Abendlandes
Karl Bleibtreu

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1. Naturerkennen und Erkenntniskritik.

I

»O Wunder der ersten Bewegung!« ruft Leonardo. Das klingt anders als die Altklugheit, die sich über nichts wundert und Bewegung als einzigen Lehrsatz ihrer Schematik herleiert, als drehe es sich bei Weltdrehung um objektive Tatsache statt um subjektiven Verstandesbegriff, der nach naivem Menschenmaß unterscheidet. Selbst der alte Helvetius, der nicht so dumm war wie die ihm folgende Kraftstoffelei, gab zu, daß Kraft und Stoff keine Wirklichkeiten, sondern nur Postulate menschlicher Auffassung seien. Ostwalds »Energetik« blieb auch nur eine nichtssagende Phrase, weil Energetiker und Vitalisten sich nicht dazu entschließen, aus solcher Lebensdynamik die natürliche Folgerung eines supranaturellen »immateriellen Lebensprinzips« (Kant) zu schöpfen. Was man als Bewegung wahrnimmt, ist trotz der Verpflichtung, damit zu rechnen, eine Täuschung der drei Vorstellungen Zeit, Raum, Kausalität. Wie sich aber die Materie von sich aus in Bewegung gesetzt haben sollte, wird wohl kein ehrlicher Mechaniker ausdenken. Eine »erste Bewegung« wäre freilich ein Wunder, denn wie konnte sie entstehen ohne Anstoß eines Bewegenden, der sie zum Rollen brachte? Oder war dies Bewegende immanent, dann wäre eben dies der »letzte zureichende Grund«, dem nicht höhere Mathematik die Wurzel ausziehen kann. Denn ob »Gott der erste Beweger« von außen oder ob er sich innen verbirgt, immer bleibt er bestehen als bewegende Kraft. Allein, das Wunder ist leider viel größer und unheimlicher, sintemal es eine » erste Bewegung« überhaupt nie gegeben haben kann, sondern Bewegung und Ruhe beide nur menschliche Begriffe für etwas sind, was weder Zeit noch Raum noch Kausalität weder ein Erstes noch ein Letztes hat. Denn die All-Ewigkeit kennt weder Ursache noch Wirkung, weder Anfang noch Ende, so daß ein »Wunder der ersten Bewegung« durch die Kinderfrage ausgehöhnt wird: Und wer schuf Gott? So kindlich gehen selbst die größten Geister, sobald sie von transzendentaler Metaphysik indischer Urweisheit abirren, an die Grundfrage heran. Diejenigen aber, die als angenehme Zerstreuung zwischen Kolleghalten über Kathederzoologie »Welträtsel« lösen, verdienen eine Anstellung als Wirklicher Geheimer Rat des höheren Blödsinns und des höchsten Größenwahns, der im Namen der bekannten Göttin Vernunft ein Sacrifizio dell' Intelletto und ein Credo quia absurdum neuen Pfaffentums fordert.

Wahre Erkenntnis ist schaurig-ernst und entzieht sich grabestief dem Lärm der Laboratorien, wo man froh ist, wenn man in den Retorten Regenwürmer findet. Wonnebrunzelnde Frömmelei und philanthropische Menschheitsliebelei erbauen aber auch nicht mit zerflossenem Quark den Sinai, zu dem Gott im Donner niedersteigt. Er ist durchaus kein Pazifist, mit ihm darf man nicht flirten, er ist nicht »die Liebe«, sondern Gerechtigkeit und den Imperatorhohn spricht er selber aus: »Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben?« Nicht verzückter ideologischer Augenaufschlag schaut diese Unendlichkeit. Dazu muß man auf dem Rücken liegen, durch die Brust geschossen, wie Tolstois Fürst Andrei auf dem Schlachtfeld von Austerlitz, dem ein vor ihm stehender Napoleon spaßig vorkommt, gemessen am unermeßlichen schweigenden Äther.

Heutige Naturforschung kann sich so wenig wie alte Scholastik von anthropomorphischen Voraussetzungen frei machen. Schon Sokrates meinte naiv, er wolle sich nicht mit spezialisierter Beschauung »die Augen verderben«, sintemal »das wahre Wesen der Dinge im menschlichen Denken darüber liegt«. Stolz will man den Spanier, doch in so überschäumende heilige Einfalt, die in Spitzfindigkeit eines Erdenwurms die Allwahrheit sucht, darf man wohl einige Wermuttropfen träufeln. Der Wissenschaftskirchenvater Aristoteles fing den Weltgeist hübsch in ein Dogmanetz ein, unterschied genau Geistgott und Ursubstanz und ließ amtierende Untergeister (Erzengel) als Lampenträger des Universums um die Erde herumtanzen, obschon von Pythagoras bis Aristarch lange vor Copernic und Cusa das heliozentrische System sich der Vernunft aufdrängte. Vergleicht man indessen dies Weltbild von Menschen, nicht Gottes Gnaden mit der modernen Substanzschwärmerei, so fällt einem Luthers Gleichnis ein: Die Vernunft sei ein betrunkener Bauer zu Pferde, der auf der einen oder auf der anderen Seite herunterfällt und sich den Hals bricht. Kaum stolperte so Herbarts Vorstellungsmechanik über die damit unvereinbare einheitliche Individualität, als auch schon die modernste Psychologie mit Assimilierung und Übung der Anschauung und die Gehirnpathologie mit Dezentralisierung der Geistesfunktionen in die Fußangeln der übersinnlichen Vitalität stürzten. Denn das Fehlen jeder sichtbaren Hirnzentrale, gleichmäßiges Wohnen und Betätigen an verschiedensten Orten der Hirnnerven, zeigt die Psycheenergetik als Abbild des Äthers allgegenwärtig ausgedehnt innerhalb des ihr zugewiesenen Organismus, ein Sinnbild von Einheit in Vielheit. Die Experimentalpsychologie rennt nur dem Ich nach, verleiht aber wichtigtuerisch diesem vor ihr hertanzenden Irrlicht den Namen Seele, sie sucht alldurchdringenden Sonnenstrahl in unterirdischem Keller statt im Äther, während Seele als Ichbegriff undenkbar und einfach mit dem immateriellen Lebensprinzip (Elektronen) identisch ist. Gehirnanatomie bedeutet nichts als Wohnungsuntersuchung, was den zeitweiligen unsichtbaren Mieter kalt läßt, da er ja doch bald auszieht. Sie klopft als blinder Polyphem die Wände ab, um den Herrn Niemand zu suchen. Schon dieser, das Ich, narrt den Sucher, das Echo höhnt: Du sagst ja selbst, du suchst Niemand. Doch den wahren Jemand ahnt er in jeder Ecke, ohne den »Sitz« zu finden, an dem »er« arbeitet. Die immaterielle Ausdehnung der Elektronen als Teil der Weltseele im Hirn suchen ist gerade so kindisch, wie das frühere Festhalten an einer freien Ich-Seele. Wenn Erhaltung der Kraft für die Energie gilt (Mayers Wärmetheorie), so bewahrt auch die Psyche ihre eigene unzerstörbare Kraftkonstante.


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