Karl Bleibtreu
Der Aufgang des Abendlandes
Karl Bleibtreu

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V

Wäre das Ich-Bewußtsein ganz unüberwindbar, so könnte keine reinere religiöse oder philosophische Lehre eine innere Wahrheit ausströmen. Zunächst bringt aber die ungeheure sittliche und geistige Verschiedenheit der Individuen einen sehr großen Wertunterschied ihres Denkens und Fühlens hervor. Soviel sich der Philister auf praktische Schläue und sogenannten gesunden Menschenverstand einbildet, wagt er doch nicht, sich mit höheren Persönlichkeiten zu vergleichen, die er treffend »gottbegnadet« nennt. Nur dem Rohesten und Ungebildetsten fällt es ein, dies zu leugnen, Bolschewismus müßte daher den völligen seelischen Bankerott herbeiführen, wenn nicht auch hier »Führer« wie Lenin und Trotzky ein gewisses Pathos der Distanz erzwängen. Nun, die wirklichen geistigen Führer der Menschheit (worunter beileibe nicht »Professoren« zu verstehen sind) zeigen seit Anbeginn eine gewisse Übereinstimmung, und es muß betont werden, daß die Führer des Materialismus (französische und englische Sensualisten, Büchner, Moleschott, Vogt, Häckel) als Persönlichkeiten sehr tief unter den großen Denkern oder Religionslehrern stehen. Diese aber sind alle einig in Anerkennung und Beschauung einer idealen Transzendentalwelt, selbst Schopenhauers Verneinung der Sansara gipfelt in Bejahung des Nirwana, d.h. des Verlöschens der Selbstsucht in der Unendlichkeit. Der wahre Goethe kehrte zu den mystischen Anwandlungen der Jugend (Jung-Stilling) im Alter zurück, um rein theosophisch nicht länger den Pan, sondern den Allgott anzublicken. Die größten Tatgenies waren teils überhaupt religiös, wie Cromwell und Bismarck, teils deistisch, wie Napoleon und Friedrich, dessen Kokettieren mit Lamettries L'Homme-Machine sich eben nur auf die verachteten vergänglichen Menschen bezog, ohne damit ein höchstes Wesen und eine transzendentale Weltordnung anzutasten. Die Autoritätsgläubigkeit der Menge, im Daseinskampf so oft am falschen Platze, hat aber ganz recht, sich auf das Vorbild größerer Männer zu berufen, die kleinen Persönlichkeiten vertrauen auf die großen, daß diese mehr Wahrheit sehen können. Und zwar natürlicherweise, weil alle Größe sich nach dem Grade richtet, wie weit das subliminale Selbst sich nach oben ringt. Allzeit entstand und bestand schöpferische Größe (so sehr verschieden vom kleinen Ichverstand) aus Fühlen und Anschauen einer höheren als der materiellen Welt, welche sich ihrem Unbewußten offenbart. Dies ist die wirkliche »Offenbarung«, die in Tausenden von Bibeln jeder Form (Tat und Werk) die Menschheit belehrt, nicht die kirchliche einer einmaligen »heiligen Schrift«. Eigentümlich ist allen Genialen die innere Ehrfurcht vor der unsichtbaren höheren Macht und das reuevolle Leid über jeden Abfall vom höheren Selbst. »Ich weiß, daß ich einstmals in der Gnade war«, seufzte der sterbende Cromwell und betete; alles Gute, was er tat, möge England, und alle Ichsünden nur ihm selber angerechnet werden. Von Napoleon rannen alle Atheistenscherze der Laplace und Monge ab wie von einem Regenmantel, sein Glaube an »Gott« und Unsterblichkeit war eine Gewißheit, er kannte das »Schicksal« (Karma) aus innerster Erfahrung.Wenn die Unterhaltungen mit Gourgaud gelegentlich eine mechanistische Note anschlagen, so wollte er offenbar die querköpfige Rechthaberei des kirchlich-frommen Generals necken, der übrigens kein ganz zuverlässiger Gewährsmann ist. Sind nun alle Großen die geborenen Antimaterialisten und stimmen sie alle in Anerkennung eines Allgotts und Ahnung eines ewigen Lebens überein, so müßte dies für den dumpf und stumpf am Boden klebenden Alltagsmenschen um so beweiskräftiger sein, als das Element, aus dem allein Größe und ethische Erkenntnis stammen, nicht alleiniger Besitz von Auserwählten, sondern Erbgut alles Lebens ist: Das subliminale Selbst. Denn was beim Genie als Schöpferfunktion, das tritt beim Minderbegabten als Telepathie auf, und es bedarf keiner Erklärung, daß Ähnliches, sei es noch so abgeschwächt, notwendig in jedem Menschen verborgen vorhanden als Grundgesetz jedes Lebens. Daher steht jedem offen, im Lauf der Äonen allmählich vom Karma der Wiedergeburten zu gleicher Höhe heraufgezüchtet zu werden. Den Anstoß zu solchem Freiwerden des Unbewußten kann nur Erkenntnis geben, daher bleibt von äußerster Wichtigkeit, was der Mensch wirklich glaubt. Nichts kann er wirklich glauben, was der »Vernunft« (wie man klaren Verstand zu nennen pflegt) widerstrebt, also weder kirchliche Märchen noch mechanistischen Aberglauben. Wäre der von Zweidrittel der Menschheit seit ältesten Zeiten als einzig vernünftig, wahrscheinlich und möglich erkannte Karmaglaube nur ein subjektives Wünschen, ein künstliches Zwecksetzen, eine täuschende Halbwahrheit, so müßten wir ihn dennoch predigen, weil er für uns so nützlich ist als Verständnisbringer und Ordner sonst unbegreiflicher Rätsel. Denn gerade er beruht auf dem einzig sichern Fundament, dem mit dem Leben selbst geborenen Begriff und Gefühl des Unendlichen. An allem dürfen wir zweifeln, nur nicht an dieser Gewißheit, welche zugleich eine Ewigkeit der Kausalität von selber aufrollt. Aus dieser Anfangsempfindung des Unendlichen erwächst natürlich nicht das »Gute«. Das für uns Gute, animalische Bedürfnisse, wie der Säugling nach der Mutterbrust schreit, ist nur unbewußter Instinkt der Selbsterhaltung und darf nicht mit irgendwie sittlich Gutem verwechselt werden, das keineswegs für »uns«, d. h. das gemeine Ich nützlich scheint. Sondern die nächste Folgerung des Kindes und Wilden konnte nur sein, daß es außer irdischen Eltern und Vorgesetzten einen Regenten der Unendlichkeit gebe.

In Christi Doppelgebot »liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst« wird das Zweite aus dem Ersten abgeleitet, so daß statt »und« stehen sollte » deshalb«. Denn ohne diese Voraussetzung wäre jede Menschenliebe sinnlos und hat falsch verstanden zu verschiedensten unsinnigen Schwärmereien geführt, sei es durch ehrliches »praktisches« Christentum, sei es umgekehrt durch Humanismus einer phantastischen Menschenliebe. Denn wer sich nur um des Menschen und der Menschheit willen opfert, ist ein Narr, der zugleich Christi Meinung übertreibt. » Wie dich selbst« heißt nicht mehr als dich selbst, was der Fall sein muß, wenn man das eigene einem fremden Interesse zum Opfer bringt, d. h. den fremden Egoismus füttert auf Kosten des eigenen. Wie durchaus unverdient solches Opfer ist, zeigt nicht nur die allgemeine Erfahrung »Undank ist der Welt Lohn«, sondern die besondere, daß jeder Leidende, der mal zufällig auf opferwilliges Mitleid stößt, sich sofort rücksichtslos daran festklammert wie der Ertrinkende an seinen Retter und den Edlen ausnutzt, als sei dies sein gutes Recht. Die »Armen« sind mitleidigen »Reichen« gegenüber die größten Egoisten in ihrer Denkart. Und die »Menschheit« als Kollektivbegriff hat noch stets Weltverbesserer untergehen lassen. Warum soll man diese Nebenmenschen lieben und ihrer Selbstsucht die eigene opfern? Solcher Impuls mag ethisch verführerisch sein, kann aber vor der Vernunft nicht bestehen, weshalb es der Materialist auch leicht hat, über Vaterlandsliebe zu spotten, die ja meist auf unklarer Hypnose beruht. Nun vergißt der Kosmopolit, Pazifist, Evolutionist, Altruist oder wie die Leute sich nun nennen mögen, daß Menschheitsliebe den gleichen Spott verdient, weil die Menschheit genau so selbstsüchtig gemein wie der einzelne. Und was fangen wir mit dem Tatwamasi »Ich bin Du« der Inder an? Grob empirisch wäre ja auch dies ein Aberwitz, denn die unendliche Ungleichheit ethisch und intellektuell ist nicht wegzuzaubern.

Wenn Goethe sich gelegentlich dazu verstieg, er finde in sich die Keime zu jedem Verbrechen, so betrachten wir dies als poetische Lizenz, die unklar eine gewisse Wahrheit auf die Spitze treibt. Ebenso übertreibt Hebbels Tagebuch: Bei Veränderung äußerer Umstände der Richter an Stelle des Mörders. Soll heißen, man dürfe den Mörder nicht pharisäisch verdammen, sobald man sich an seine Stelle unter Schicksalszwang versetzt? Sehr wahr. Doch der Vers eines Gründeutschen »Ich bin durch nichts vom Mörder unterschieden, als durch die Gabe des Gedichts und reinem Seelenfrieden«, wobei »Unterschied von Bös und Gut die sittlichen Begriffe« als »alte Henkerskniffe« belächelt werden, prahlt Unreife als Reife aus. Viel tiefer hat Wildes unsterbliche Zuchthausballade die Wahrheit erfaßt, daß jeder Mensch unentrinnbarem Karma folgt, was aber gerade die dauernde Ungleichheit nicht nur äußerer, sondern vor allem innerer Lebensbedingung bedeutet. Denn Hebbels Spruch heißt richtiger: Mancher Richter wäre ein Raubmörder geworden unter gleichen Bedingungen, mancher Mördergeist versteckt sich als grausamer Richter, Verallgemeinerung aber ist unsinnig, denn mancher Richter würde unter keinen Umständen zum Verbrecher. Mancher Verbrecher erlag nur vorbestimmtem Augenblickszwang und wäre ein Hort der Gerechtigkeit wie Michael Kohlhaas, wenn sein Karma es erlaubte, das heißt aber keineswegs, daß das Gros der Gewohnheitsverbrecher zur Kohlhaasart gehört. Der gleiche Spaß, wie wenn ein Blaustrumpf schreibt »der Mann« und männliche Blaustrümpfe »die Frau« oder »der Hund«, »die Katze« allgemein verbindliche Hunde- und Katzenpsychologie hergeben sollen. Die Frauen sind unendlich differenziert, die Männer weniger, doch ist nicht jeder Mann ein brutaler Schuft, und wenn der größte Tierkenner Brehm die Hundeanbetung schroff verpönt und dafür die Katze übermäßig preist, so besagt das nur, daß es eben auch viele schlechte Hunde und manche edle Katze gibt. »Die sittlichen Begriffe« aber sind nur dann hinfällig, wenn sie als Formelschablone gesellschaftlicher Konvention auftreten. Das ist schon deshalb erbärmlich, weil eben die Ungleichheit der Individuen und ihrer Lebensbedingungen keinerlei Schablone zuläßt und die äußere Handlung nur äußeres Kausalergebnis vorbestimmter Umstände, nicht aber die allein maßgebende Gesinnung auslöst. Wenn also Hebbel richtiger gesagt hätte, mancher Mörder könne vor Gott besser sein als sein Richter, so ist dies schon ausgedrückt im Schacher am Kreuze, dem Jesus verheißt: »Morgen wirst du im Paradiese sein«, weil in jenem seine innerste Natur durch Todesnot als gottgläubig herauskommt: »Herr, ich glaube an dich«. Alle scheinbaren Widersprüche und Ungerechtigkeiten der ewig ungleichen Lebensläufe lösen sich spielend durch das Karmagesetz, hier aber lautet die entscheidende Frage: durch was wird der sterbende Sünder gerettet, dessen Lebenserfahrung doch über Nächsten- und Menschheitliebe höhnisch lachen würde? Durch Liebe zu Gott, den er in einem Gottmenschen verkörpert sieht. Jetzt erkennen wir, daß des Inders Tatwamasi nichts mit sinnloser Nächstenliebe zu tun hat, sondern sein Wohlwollen für alles Geschaffene nur Kausalfolge seiner Gotterkenntnis ist. Wer Gott liebt, liebt alle seine Werke.

Bei Ehrfurcht vor der unerforschlichen Macht geht das »Wahre« natürlich dem »Guten« voran. Erst aus diesem Gedankengang besann sich der Mensch auf seine sittliche Identität mit dem Nebenmenschen, dem er sich nur »in Gott« nahefühlt. »Ewige Sehnsucht der Welt nach dem Gleichgewicht« (Leonardo) begründet eine innere Mechanik der Ethik.

Man darf nun fragen, ob allbeherrschende Liebe zu Gott, durch welche allein wir zur sonst unnatürlichen Nächstenliebe gelangen, wirklich die Seele erfüllen könne. Die Möglichkeit sehen wir bereits bei christlichen Mystikern und erleuchteten Indern, also muß jeder, sobald er gleichen geistigen und ethischen Grad erreichte, in sich die gleiche begeisterte Liebe zu Gott finden. Gewiß tritt Erleuchtung als ekstatischer Zustand auf, der dumpfes Verstandesbewußtsein weit hinter sich läßt, doch Dichterseher reden hier zu ausschließlich vom Gefühl: »Für mich sind hohe Berge ein Gefühl« (Byron) »Gefühl ist alles« (Goethe). Nein, es ist nicht alles. »Gefühl gehört der Erde an, doch betrachtende Vernunft steht außerhalb der Gefühle« (Leonardo). Wohl »Name ist Schall und Rauch«, aber die Einschränkung: wer darf bekennen, ich glaub' Ihn oder ich glaub' Ihn nicht! bezeichnet Fausts mangelhafte Erkenntnis, denn die wahre wird wagen zu sagen, ich kenne Ihn. Und zwar braucht man dazu nur ins eigene Leben zu schauen und das der Nächststehenden zu prüfen, denn dort drängt sich dem Nachdenkenden förmlich greifbar eine übernatürliche Gerechtigkeit auf, die freilich nie mit schwächlicher Affenliebe unartige Kinder verzieht und ihnen gebratene Tauben aus Schlaraffenland ins Maul schiebt, doch bei aller Strenge der Erziehung väterliche Freundlichkeit bewährt, erfinderisch im Herbeiführen nützlicher Kausalwendungen, günstig und ungünstig wie es gerade für ein Individuum paßt. Daß allzeit auch der schlichteste Volksverstand die Gesetzmäßigkeit individuellen Erlebens ahnte, zeigt die bei vielen Völkern verbreitete Parabel: daß Christus jedem Sterblichen freistellt, sein Kreuz abzuwerfen und sich ein anderes, bequemeres zu wählen, und dann jeder unter den zahllosen Kreuzen wieder sein eigenes heraussucht.

»O göttliche Notwendigkeit, du zwingst alle deine Wirkungen, auf kürzestem Wege deinen Ursachen zu folgen!« (Leonardo).

Tatsächlich gibt es keine Geschichte der Menschheit, sondern nur der unzählbaren einzelnen, und würden zahlreiche Autobiographien nebeneinander geschrieben, so würde jeder Klarsehende hier auf Schritt und Tritt Stoff für Beweise einer Vorbestimmung entdecken, die sich als persönliche Vorsehung dem einzelnen vermittelt. Selbst die uralte Vorstellung vom guten und bösen Engel ist nicht von der Hand zu weisen, in einem gewissen unerklärbaren Sinne wird jedes Wesen in Spaltung des Doppel-Ich von einem guten und bösen Prinzip überwacht. (Womit natürlich nicht dem dualistischen Prinzip von Lotze dem Jüngeren das Wort geredet werden soll, »Gott« und »Teufel« sind nicht zu trennen). Erkennt nun der Mensch – und das tat er seit ältesten Zeiten –, daß jede Hiobprüfung vorbedacht, äußeres oder inneres Verderben fast immer verdiente Vergeltung, Leben nicht der Güter höchstes, Schuld das wahre Übel sei, so dämmert ihm die Ahnung unermeßlicher Weisheit. Aus anstaunender Verehrung wird aber überströmende Liebe, sobald er sich bewußt wird, wie allwissende Allmacht sich herabläßt, ihre Allgerechtigkeit auf jeden Erdenwurm zu übertragen und diese ewige Sonne ewig über unserm Staub leuchten zu lassen. Solche vorausgesetzte Allgüte ruft dann wirklich die Vorstellung eines »himmlischen Vaters« hervor, auf dessen Schutz man im Leben und Tod vertrauen dürfe. Daß sich gegen so frommen Optimismus das Weltleid empört, ihm oft den Schein des Weltbilds verdunkelt und der menschlichen Schwäche oft bittere Zweifel aufdrängt, geht uns hier nichts an, denn jedenfalls war dies allzeit der Weg zur Gottliebe. Anbetende Dankbarkeit verwandelt sich in unbegrenzte Begeisterung für dies höchste Wesen. Um seiner würdig zu werden, seine Liebe zu verdienen, wirft man altruistischen Blick auf den Nächsten, und der christliche Satz »Ihr sollt euch untereinander lieben, weil Gott euch geliebt hat« erhält den Zusatz: und weil ihr Gott liebt. Musset schließt seine Rhapsodie »Hoffnung auf Gott«, daß Name und Ruhm untergehen, die Seele sich nur noch ihrer Liebe erinnert. Metaphysik der Liebe (nicht im ironischen Sinne Schopenhauers) sucht in Ergänzung die Einheit, ist also eine dumpfe ichbeschränkte, aber instinktiv natürliche Vorstufe der Sehnsucht nach Einheit mit dem Allgott, der höchsten Liebesseligkeit. Nur unter dieser Voraussetzung ist Menschenliebe möglich und vernünftig, nur Liebe zu Gott, d.h. dem einzigen Liebenswerten kann je gestatten, sich aus individueller Selbstsucht zum Einheitsgefühl zu erheben. Wir sehen am erhabenen Beispiel Leonardos, wie dessen milde Güte nur aus Ehrfurcht vor der schönen Gottbeseelung des Alls entsprang und sich mit bitterster Menschenfremdheit vertrug: »Die große Liebe zu Gott kommt nur vom großen Wissen. Wer wenig weiß, liebt auch wenig, Liebe ist Tochter der Erkenntnis und ist um so heißer, je klarer die Erkenntnis.« Der große Ahner wahrer, d.h. transzendentaler Naturgesetze sprach zum andern Mal: »Wie das Echo Spiegelung des Schalls, so ist Spiegelung Echo des Lichts.« So geniale Formulierung der Schall- und Lichtwellen des Äthers als einer ewigen Einheit schöpft aus Anschauung des Unendlichen die gleiche Inbrunst der Verehrung wie der Wilde, der im Donner die Stimme eines Unsichtbaren hört und nicht fordert, der müsse sich sichtbar mit Visitenkarte und polizeilicher Anmeldung vorstellen. Wohl kannte Leonardo alle physikalischen Ursachen, doch verkannte nie hinter den Phänomenen Blitz und Donner den »Höchsten«. »Alles ist einzig Dein Wille.«

Trotz früherer Widersprüche, wo Leonardos Abscheu vor Kirchenschwatz in starre Mechanistik zu entgleisen scheint, begrüßen wir ihn gerade als Bundesgenossen. Diesen Mechaniker ohnegleichen, der in die Unendlichkeit konstruierend eindrang, möchte Chamberlains Kantbuch als Gegenfüßler des unendlichkeitstrunkenen Giordano ausspielen. Diesen Weltanatomen, der in Planet, Mensch, Tier, Pflanze das gleiche Strukturgesetz suchte, möchte entgötterter Aufkläricht als Stammvater materialistischer Scholastik ansprechen. Denn man fälscht sich große Männer so zurecht, wie es für eigene Zwecke paßt. Doch schriebe er heute seine zahllosen Aphorismen und Parabeln, so hätte er uns beißenden Spott über sogenannte Mechanistik hinterlassen. Umarmte da einer mit Tränen der Rührung ein Auto und pries dessen Weisheit und Schönheit, doch ein Schuljunge rief ihm ins Gedächtnis, daß Automaten einen Erbauer haben und solch Halleluja sich an falsche Adresse richte. Wer ruhig prüfend »Kraft« geistig und unsichtbar nannte, weil ihre Anwendung das Körpergewicht nicht ändere, wer An- und Abprall, Einfall- und Ausfallwinkel für das nämliche erklärte, wer trocken aussprach: »Mit Zerstörung des Körpers wird die Seele nicht zerstört, sie haust in ihm nur so wie Wind in Orgelpfeifen«, der verwechselte wahrlich nicht Wirkung und Ursache. Ihm entrang sich der Aufschrei begeisterter Gottliebe: »O Deine wunderbare Gerechtigkeit, Du Urheber der ersten Bewegung! O Deine göttliche Notwendigkeit! Die äußere Notwendigkeit der Natur entspricht der innern Notwendigkeit der Vernunft. Alles ist vernünftig, denn es ist notwendig.« Diese göttliche Gerechtigkeit, welche zugleich äußere und innere Notwendigkeit ist, diese Einheit beseelter Materie und materialisierter Seele, dies »Oben ist Unten, Unten ist Oben« hat als Odem der Unendlichkeit vom untersten Wilden bis zum obersten Weisen die Religion im Menschen geboren. Der Urmensch sah und fühlte um sich her Unendlichkeit »Gott«, fühlte psychisch unendliche Ausdehnung »Unsterblichkeit«, folgerte daraus Notwendigkeit des »Guten«. letzteres, obwohl bei Gutartigen auch gefühlsmäßig erfaßt, bedeutet also nur eine spätere Vernunftverpflichtung, dagegen die zwei Unendlichkeitsgefühle eine zwar nicht apriorische, aber erste Empfindungswahrnehmung, auf ihr allein beruht der Ursprung der Religion.


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