Theodor Birt
Alexander der Große und das Weltgriechentum
Theodor Birt

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Das alexandrinische Museum.

Perikles hatte einst Athen die Bildungsstätte für alle Griechen genannt. Als alleingültige Sprache hatte sich in der Literatur und ebenso im Munde aller Gebildeten im 4. Jahrhundert v. Chr. der attische Dialekt, der in Platos Dialogen seine Schönheitstriumphe feiert, durchgesetzt. Das war jetzt zu Ende; denn Demosthenes war verstummt, auch Aristoteles bei den Toten.Schon in der Sprache des Aristoteles erkennt man allerdings die Anfänge des kommenden Allgemeingriechisch, der Koinè. Ein Allerweltsgriechisch (die Koiné genannt) bildete sich in der Epoche, von der ich handle, aus unter dem starken Einfluß des Idioms der Griechen Kleinasiens, in welchem Gemeingriechisch sich jetzt Ägypter, Syrer, Juden und Perser verständigten. Welche Stadt aber sollte jetzt literarisch und geistig die Führung nehmen? Alexander der Große hatte vielleicht Babylon dazu bestimmt; jetzt wurde es die Stadt, die seinen Namen trug, das ägyptische Alexandrien.

Derselbe Alexander hatte durch königliche Munifizenz und persönliches Interesse Wissenschaft und Kunst leiten und steigern wollen; jetzt übernahmen dies die Ptolemäer; denn Mazedonien war zu arm, das pergamenische Königtum noch unfertig und im Entstehen, die großen Herren Syriens und Asiens, Seleukus und sein Sohn Antiochus I., mit kriegerischen Aufgaben, die ihr unorganisch zusammengesetztes Reich sichern mußten, zu sehr beschäftigt. Die Ptolemäer dagegen saßen abgesondert im fetten Nilland, bis an die Zähne bewaffnet, und strotzten in Reichtum; es konnte kein Feind so leicht an sie heran. Sie machten ihre Residenz planvoll zur Zentralstelle des 322 gesamten geistigen Hellenismus, der dort durch volle drei Generationen blühte, und so nennen wir diese Zeit bis zum endgültigen Siege der Orientpolitik Roms die Alexandrinerzeit. Die ausgezeichnete Dynastie entartete schließlich im Hochgenuß des Lebens durch Inzucht, die allemal sich verderblich erweist, und unter dem entnervenden Einfluß des schwelgerisch schönen Klimas; aber die letzte Ptolemäerin, Kleopatra, die erst den großen Julius Cäsar, dann Mark Anton zu fesseln, zu beherrschen wußte, war immer noch ein Weib königlicher Art, von außerordentlichen Gaben, tückisch, aber rassig, intelligent, stolz und zielbewußt. Sie wußte mit ihrem Königtum zu sterben. Das Ptolemäertum endete in Schönheit.

Alexandria, die Griechenstadt, lag da am Strand des alten Ägypten wie ein üppiger junger Veilchenstrauß in der Hand der Mumie; das Land selbst so fremdartig seltsam, fesselnd und abstoßend, voll natürlichen Reichtums, aber wie eine Sackgasse der Kultur, die darin reglos stecken blieb; der Nil, der Befruchter, nach geheimnisvollem Gesetz sich hebend und senkend und geheimnisvollen Ursprungs wie die Schöpfung Gottes selber; kahlgeschorene Gebirge rechts und links; Gluthauch der Wüste und das Lachen der Hyäne. Die Tierwelt abschreckend monströs und garstig und doch für heilig gehalten. Das bewohnte Land selbst schmal wie die Furche in der Stirn des Denkenden; üppig bewachsen, aber nichts als bestellte Äcker, Saatfeld und wieder Saatfeld, Palmen und Schilf, Schilf und Palmen. Dazwischen die Wunderbauten von Menschenhand in ihrer bestürzenden Größe und Bilderfülle, Tempel und Grabbauten, die, auf weiten Arealen und doch dicht gedrängt, alle Träume der Phantasie überbieten, indem sie uns von den Königen Teti und Pepi, Cheops, Ramses und Amenhotep reden, und daneben in Tausenden von DorfschaftenÄgypten, nicht größer als Belgien, war dicht bewohnt; man spricht von 30 000 Ortschaften (Theokrit 17, 82). Heute noch soll das Land 6 Millionen Einwohner zählen. die leichten Lehm und Rohrhütten der Eingeborenen, jener Unzähligen, die als Schlepper unter der Peitsche einst im Dienst der Priester und Könige jene Kolosse türmtenEs war ein Aufwand an Arbeitskräften, wie auch die Chronika II 2, 2 sie für die Bauten Salomos voraussetzen, wo wir von über 80 000 Mann lesen, die am Werk sind unter der Leitung von mehr als 600 Aufsehern.. Fremdartig, wie das alles, das Volk selbst, häßlich und verschmitzt, voll Devotion und 323 Unbildung und seiner Priesterschaft blind ergeben, die an längst veralteter Weisheit krankte.

Alexandrien kehrte dem Hinterland den Rücken; die Stadt war wie die lachende Gegenwart, die die Vergangenheit hinter sich schiebt. Nach dem Meer zu breitete sie sich wie ein weiter Reitermantel mit Raumverschwendung aus, aber maßvoll in den Hochbauten; ganz griechisch stilisiert, das Athen Ägyptens; das Straßennetz wie im Piräus. Wer es überschauen wollte, stieg auf den künstlichen Berg, südlich der Stadt; es war ein Schneckenberg mit einem Aufstieg in Serpentinen. Zwar den Athenekult ließ man den Athenern; aber ein Eleusis gab es hier wie dort, vor allem auch Dionysien mit Tragödienspiel im Theater, das rauschend berauschende Dankesfest für den Weinertrag der letzten Lese.

Wer von der See heranfuhr, ahnte schwerlich, daß hier nun auch in Konkurrenz zu Athen sich die Wissenschaft ihr Nest gebaut. Man sah zunächst nur das Handelsgetriebe und die Königspracht: den Leuchtturm, die Molen und Quais mit Landungstreppen, Schiffsmagazine und Speicher und ein tosend bunt gemeines Volkstreiben aller Rassen, gelbe Ägypter, Neger, Griechen und Juden; aber alles sprach griechisch, auch die Juden; die Sprache gab dieser Mischbevölkerung die Einheit. Von vornherein war hier auch die Judenkolonie sehr stark; sie zogen sich schon damals wie heute besonders gern in die Großstädte, ob Babylon, Tarsus oder Alexandrien, nahmen hier als Handelsherrn den Transit in ihre Hände, hielten als kompakte Masse zusammen, und ihre Zahl und ihr Einfluß wuchs.

Die Könige aber übten sich im Herrschen mit heiterer Miene; sie saßen in ihrer Hauptstadt wie in einer Zwingburg; ein großes Militärlager voll Söldnertruppen sicherte ihr Herrschertum, während das Ägyptervolk selbst waffenlos und dem Heeresdienst fern blieb (es ist das Prinzip, das heute auch England in den Dominions gern befolgt); dazu erhoben die Herren mächtige Zölle und Steuern: Kopfsteuer, Haussteuer, 324 Gewerbesteuer; auch die Geldgeschäfte jener Großhändler wurden von der Steuerschraube gehörig gefaßt. Auch Monopole halfen, und der Staatsschatz schwoll, so daß die Könige sich Soldaten, Schiffe, aber auch Gelehrte kaufen konnten, so viele sie wollten. So hielten sie sich denn auch eine Kriegsflotte von 5000 Galeeren aller Typen, mit denen sie das Meer beherrschten, und Zypern und die meisten griechischen Inseln stellten sich unter ihren Schutz; auch in einem Strich Syriens, auch an Kleinasiens Küsten machten sie sich zum Landesherrn, so daß im Nilland selbst tiefster Friede war. Kein Feind konnte so leicht das Land bedrohen.

Alexander hatte als König Asiens eine Doppelrolle gespielt; für die Perser war er der Perser, für die Mazedonen der Grieche gewesen; ähnlich hielten es nach ihm auch die Ptolemäer; sie brauchten keine Aufstände zu fürchten. Um die Priesterschaft zu beruhigen, spielten sie in Memphis hübsch den Pharao und bauten den ägyptischen Göttern in Philä und sonst neue Schmucktempel ägyptischen Stils, deren wunderbar harmonisch anmutende Reste der Reisende noch heut bewundert.

Der erste Ptolemäus war noch ein rechtes Abbild Alexanders, als Mazedone ein tüchtiger Kriegsmann und Stratege, aber zugleich voll Bildungshunger und den geistigen Dingen zugewandt, tatkräftig und hilfsbereit. Anders sein Sohn, Ptolemäus Philadelphus, der im Jahre 285 v. Chr. zur Regierung kam. Er war kränklich, und sein Vater nahm daher den Prinzen auf seinen Kriegszügen gar nicht mit. Auch später hat der Sohn sich persönlich aus Ägypten nie entfernt und seine Feldzüge, die alle erfolgreich verliefen, seinen Generälen überlassen. Es gab aber nicht nur Krieg, sondern auch wissenschaftliche Expeditionen: durch Elefantenjäger ließ er die Gründe der regelmäßigen Nilschwellungen erforschen; rühmlicher noch, daß er das große Projekt, den mit Schleusen regulierten Kanalbau vom Nil zum Roten Meer, zur Ausführung brachte, der nun den direkten Handel mit Arabien und Indien ermöglichte.

Ein kluger Geschäftsmann, war Ptolemäus Philadelphus zugleich auf alle musischen Dinge wie versessenμουσικώτατος nach Aelian Var. hist. IV 15., ein echter 325 Sybarit und Lebenskünstler in günstigster Lage, um die Wonnen des Daseins auszukosten. Den Musen diente er und dem Dionys. Man denke, daß von der gesamten Weinernte Ägyptens der sechste Teil in die königlichen Keller kam. Mit unerhörtem Pomp – wir haben es schon früher gehörtOben S. 268 f. – ließ er die Gottesfeste begehen.

Aber auch Alexandrien selbst war die Stadt des frivolen Taumels und grenzenloser Üppigkeit, ein zweites Babel; es ging da her wie in allen großen Seestädten. Besonders das verrufene Kanobus in der Nähe war der Ort des flotten Treibens, der lockende Vergnügungsort. Auf einem Kanal kam man dahin, ganze Vergnügungsgesellschaften auf Barken tags und nachts, zügellos und ausgelassen; schon auf den Schiffen selbst tanzte man zum Flötenschall, Männer und WeiberWährend sonst die Geschlechter getrennt zu tanzen pflegten., um dann in die Lokale, wo der heiße Wein, der Mareotiker, floß, einzufallen und frech und fröhlich sich auszuleben. Für den Cancan, der dort heimisch war, dichtete Sotades seine sündigen Walzerlieder; aber es bekam ihm übel; denn er erlaubte sich eine unverschämte Anspielung auf die Eheverhältnisse der Majestät, mußte fliehen, wurde auf der See eingefangen und in einem Bleikasten ins Meer versenkt. Da mochte er lernen stumm zu sein wie die Fische. Auch den berühmten Seufzer des Königs hören wir, der, zeitweilig durch übles Podagra ans Haus gefesselt, vom Fenster aus dem gemeinen Volk zusah, wie es am Strom sich im Sand zum Frühstück lagerte, indem jeder beitrug, was er gerade hatte, – den Seufzer: »Ich Armer, daß ich nicht einer von diesen bin!« Ein beliebtes Motiv: der Neid des geplagten Reichen, der den Armen glücklich siehtVgl. Athenäus p. 536 E; diese schwierige Stelle ist von M. Haupt, Opusc. III S. 569 nicht erledigt. Daß das Wort selbst ὦ τάλας ἐγώ, τὸ μηδὲ τούτων ἕνα γενέσϑαι aus einer Komödie stammt, ist eine unnötige Annahme. Jambischer Silbenfall stellte sich, wie Aristoteles uns ja ausdrücklich sagt, im Gespräch oft genug von selbst ein. Ptolemäus konnte sich, auch wenn er in Prosa sprach, ganz ebenso ausdrücken..

Sollte dies muntere Alexandrien nun aber wirklich ein zweites Athen sein, Athen übertrumpfen, so fehlte noch die Hauptfache, die Gelehrten, die Dichter, die Literaten. Die genannten Könige, Vater und Sohn, unternahmen dies; sie gründeten das Museum Alexandriens, Gelehrteninstitut nebst Bücherei, im Bezirk der königlichen Paläste, und es glückte ihnen.

Das Ganze entwickelte sich also direkt unter den Augen des 326 Monarchen. Es war eine Sache großartigen Zuschnitts und eines Alexanders würdig; in der Tat, der Erfolg zeigte dies, da sich im Verlauf der Dinge nicht nur der ganze Literaturmarkt völlig nach Alexandrien verschob, sondern auch der Charakter der literarischen Produktion in der Griechenwelt in eigentümlicher Weise sich wandelte.

Die Philosophen freilich blieben in Athen, der Stadt des Sokrates. Für Tugendlehre, Staatstheorie, Logik und andere abstrakte Dinge war das Weltstadtgetriebe Alexandriens ein schlechter Boden, und die Könige begünstigten das nicht. Mochten die Platoniker, auch der Peripatos bleiben, wo sie waren. Auch die Stoiker, auch Epikur wählten Athen zum Standort ihrer Predigt. Gleichwohl kamen zwei Aristotelesschüler als Überläufer herbei, um den Ptolemäern mit Ratschlag und Lehre zur Hand zu sein: Demetrius, den man den Phalereer nennt, machte den Entwurf zur Bibliotheksgründung, Straton, der Physiker, lenkte das königliche Interesse zeitgemäß auf die Dinge der großen Naturforschung, und so wurde das Museum eine Freistatt für Gelehrte, ein Forschungsinstitut, dem die fürstliche Freigiebigkeit den reichsten Lehrapparat zur Verfügung stellte. Der König war der Stifter und Gründer, nahm aber auch selbst, wenn er Lust hatte, an den Sitzungen teil. Ein realistischer Geist herrschte; man wühlte in Büchern nicht nur; man sah auch über das Buch hinaus in selbständig freier Beobachtung; auch ein Virtuosentum in der Technik blühte.

Man dozierte disputatorisch in einem Hörsaal mit Sitzplätzen (Exedra) oder auf und abwandelnd im Institutsgarten (Peripatos). Die Fachvertreter müssen sich da stundenweise abgelöst oder die Räume passend unter sich verteilt haben. Die Schüler im Jünglingsalter aber lagerten und hockten gewiß, wie es kam, auf dem Erdboden, so wie es bei den Lehrstunden in den Moscheen jener Südländer noch heute Sitte ist. Auch ein großer Speisesaal war da; darin wurde man verköstigt. Wo die gelehrten Herren schliefen, bleibt dunkel; vielleicht in Räumen der nahen königlichen PalästeDie Schule Epikurs in Athen war auch mit Wohnungen für ihre Mitglieder versehen; s. Epikurs Testament bei Diogenes Laert. X 17 (H. Usener, Vorträge u. Aufsätze S. 81) Ähnlich stand es also vielleicht auch in Alexandrien. Wenn Timon bei Athenäus p. 22 D. die Museumsmitglieder mit Hühnern, die im Käfig gemästet werden, vergleicht, so setzt auch dies vielleicht voraus, daß die Männer auch beisammen wohnten.. Es ist auffallend, daß wir von 327 keinem der Männer erfahren, ob sie Familie hatten. Es wäre bestürzend, wenn wir glauben müßten, daß sie sämtlich unbeweibt dahinlebten. Aber sie dienten zum wenigsten den lieben Musen. Denn das Institut hieß Museum. Warum? Das Wort »Museum« ist bei uns Modernen unendlich häufig, aber durch den Gebrauch fast schäbig und ganz trivial geworden. Damals hatte es feierlich religiösen Klang; es besagt, daß das Ganze sich tatsächlich in den Dienst der Musen stellte, die von den Mitgliedern der Gesellschaft gottesdienstlich verehrt wurden. Das Ewig-Weibliche zieht den Denkenden hinan. So dachte der Grieche. An einem Priester fehlte es darum im Museum so wenig wie an einem Kassenwart.

Es ist, wenn ich nicht irre, die erste große, in den Dienst der Wissenschaften gestellte Staatsanstalt, die die Menschheit erlebt hat und in die wir hiermit Einblick tun. Alexander der Große hatte nur an Athen gedacht, als er die Akademie wie den Peripatos mit großen Geldzuschüssen versehen, d. h. sie verstaatlichen wollte. Die Ptolemäer führten jetzt in ihrer Residenz seinen Gedanken aus. Man kann damit also ganz wohl unsere Universitäten vergleichen. Freilich fehlte die juristische und die theologische Fakultät; über Recht und Gerechtigkeit zu reden überließ man den Philosophen; ebenso waren aber auch Theologie und Philosophie für den Griechen dasselbe, und letztere war in Athen geblieben.

Was bleibt übrig? An Hilfsmitteln ließ es der zweite Ptolemäer nicht fehlen; seltene Tiere sammelte er mit größtem Aufwand in Tiergärten oder Menagerien; uns wird die Jagd auf eine Boa constrictor geschildert, die in seinem Auftrag geschah: wie das Ungeheuer etliche Jäger umbrachte, bevor es durch List glücklich gefangen und zur Hauptstadt transportiert ward, damit das Publikum es sehe. Aber das diente eben nur zum Schauen und Staunen. Eine Förderung hat die Zoologie als Wissenschaft dadurch nicht gefunden, und auch mit der Botanik stand es wohl nicht besser; die Musen botanisierten nicht. Gleichwohl ist die Vielseitigkeit dessen, was da geleistet 328 wurde, groß, und eine Reihe von Männern erster Ordnung sehen wir am Werke. Von allen Seiten strömten die Mitarbeiter herbei, aus Syrien, vom Pontus, von den Inseln, international gesonnen wie alle echte Wissenschaft und willige Diener einer aufgeklärten Despotie. Ein Außenstehender ergoß seinen Hohn über sie: »die Leut' sind wie die Masthühner, die man in den Stall sperrt und füttert«So der Spottdichter Timon in seinen Sillen bei Athenäus p. 22  D.. So sprach der Neid; denn es gab augenscheinlich gute Kost und Salär. Übrigens hatte Ptolemäus Philadelphus gelegentlich seinen Spaß mit den weisen Herren. Ein Mitglied mit Namen Sosibios, ein besonders spitzfindiger Philologe, will sich von der Kasse sein fälliges Gehalt holen; auf des Königs Befehl aber sagt ihm der Schatzmeister, er habe das Geld schon erhalten. Der Enttäuschte eilt zum Ptolemäus; der läßt sich das Rechnungsbuch bringen und zeigt dem Sosibios, daß andere vier Mitglieder ihr Geld schon erhalten haben; in deren Namen aber sind die vier Silben des Namens So–si–bi–os zufällig enthalten: »nimm die vier Silben zusammen und gestehe: du bist bezahlt!« Wir hoffen, daß sich die Szene gutartig in Lachen aufgelöst hat.

Fragen wir noch kurz nach den Leistungen des Alexandrinischen Museums; sie sind zum Teil noch im Auge unserer Gegenwart unvergänglichen Werkes.

Voran stehe Euklid; er ist der bekannteste und auch heute noch voll lebendig; denn sein vor 22 Jahrhunderten geschriebenes Lehrbuch über die Geometrie, »die Elemente« des Euklid, es beherrscht, so wie es vorliegt, auch heute noch den Mathematikunterricht in unsern Schulen, in England sogar direkt; der Text wird zu Schulzwecken in England immer wieder neu gedruckt. Die Wahrheit ist eben zeitlos; das gilt, wenn nicht sonst, so doch gewiß in der Rechenkunst, und die Darstellungskunst des Buchs ist klassisch, mit dem Griffel der Notwendigkeit geschriebenSehr gut spricht hierüber Max C. P. Schmidt, Realistische Stoffe im humanistischen Unterricht³ S. 63 f.; aber man merkt dabei den Lehrmeister; man merkt, daß Euklid von Schülern umgeben war, wenn er den Pythagoräischen Lehrsatz vorträgt, die Teilung der geraden Linie durch den goldenen Schnitt, die Berechnung des Kreises usf. (den Kreisdurchmesser 329 benennt er Diameter, das versteht sich; der Kreismittelpunkt aber heißt Zentrum; das Wort Zentrum bedeutet eigentlich nur den Stachel des Zirkelinstruments, den wir in das Papier einsetzen, wenn wir den Kreis schlagen). Der vierte Werkteil handelt weiter von der Quadratur des Zirkels, der fünfte von den Proportionen. Von der Flächenmessung aber geht es zur Stereometrie, zur Messung der Pyramiden, Kegel und Zylinder weiter. Auch von der Algebrarechnung sieht man bei Euklid die AnfängeIn Euklids Werk Δεδομένα. Eigentümlich ist, daß das 10. Buch seiner »Elemente« wesentlich stärker als die übrigen ist; wie erklärt sich das? Es gab eine abweichende Euklidausgabe, in der dies Buch vielmehr in drei Bücher zerfiel. Da nun die voraufliegenden neun Bücher just dreimal drei Bücher sind, so ist glaublich, daß Euklids Werk ursprünglich überhaupt in dickeren Buchrollen erschienen war, wovon das 10. Buch die vierte war; Buch 1–3 hatten die erste Rolle gebildet usf. Man vergleiche damit das vierte Buch der Rhetorik ad Herennium, die mit Ciceros Werken umgeht; auch dies ist unverhältnismäßig viel umfangreicher als die drei voraufgehenden und wurde daher gleichfalls von den Benutzern in kleinere Rollen zerlegt; vgl. Kritik u. Hermeneutik S. 342., die später der Alexandriner Diophant planmäßiger behandelt hat.

Bei alledem galt Euklid seinen Zeitgenossen schwerlich als epochemachend, da er nicht so sehr Neues brachte, als vielmehr in unübertrefflicher Weise zusammenfaßte, was großenteils schon andere Rechner vor ihm gefunden hatten. Er war mehr Lehrmeister als Entdecker. Entdecker dagegen war Aristarch; groß ist der Ruhm des Museums vielmehr durch ihn, den Mann von Samos, den Astronomen, der damals sein Sonnensystem fand; denn auch er war Mitglied des Museums. Sein Gedanke strahlt wie das Licht des Pharos über dem Meer der Zeiten. Er selbst freilich ist für uns nur ein Schatten: wir hören sonst kaum etwas von ihm und seinem Treiben. Wo hatte er sein Observatorium? Ein flaches Dach genügte; er brauchte keinen Aufbau von Teleskopen; aber auch Einsamkeit brauchte solcher Mann, und man möchte gerne wissen, in welcher Umgebung ihm seine weltbefreiende Erkenntnis aufging. Die Kunde davon drang gleich in die weiteren GelehrtenkreiseArchimedes berichtet uns darüber.; auch fand Aristarch Gläubige; der Name eines Seleukus wird uns genannt, der hundert Jahre später dasselbe System verfocht: angeblich ein Babylonier mit mazedonisch klingendem Eigennamen. Es war etwas Großes, wenn in diesem Fall wirklich ein Sternengläubiger, ein Chaldäer, sich zu Aristarch bekannteVielleicht war dieser Seleukus aber gar kein Chaldäer, sondern die Bezeichnung als Babylonier bedeutet nur die Herkunft aus der in Babylonien gelegenen Griechenstadt Seleukia; so steht es z. B. auch mit Diogenes, dem Stoiker, der der Babylonier heißt..

Fragt man, wie sich der König dazu verhielt? Er wird zufrieden gewesen sein, daß er selbst die Sonne war, um die sich alles drehteDaß die Ptolemäer sonst die Aufzeichnungen der Astronomen persönlich nachprüften (ἐξετάζειν), sagt uns Geminus, Elementa astronomiae 16, 24.. Günstiger als Aristarch traf es jedenfalls ein anderer Astronom, der ein vollendeter Hofmann war. Die 330 Königin Berenike war jung vermählt, und es galt ihr in sinniger Weise zu schmeicheln; da benannte der findige Mann kraft seines Amtes eine Gruppe von Fixsternen, die noch namenlos am Himmelsglobus stand, kurzweg »die Locke der Berenike«. Die blonde Locke war erhöht und verewigt, und gleich mußte dann auch ein Dichter die Sache in Verse bringen; auch der war Museumsmitglied. Wir lesen die künstlichen Verse von der Himmelfahrt der Locke noch heute; sie riechen stark nach Gelehrsamkeit und unendlich höfischer Schmeichelei. Ein Vogel Strauß muß da herbei, der fliegen kann (man denke!) und das Haar durch die Luft davonträgtDer Astronom hieß Konon, und es geschah dies erst unter dem dritten Ptolemäus, Euergetes zubenannt..

Nebenher ging sodann das Studium der Physik und ihre Auswirkung, die Mechanik, die mit Experimenten vorgeht. Auch das führte zu überraschenden Ergebnissen; allein es wurde den Erfindern doch nicht zuteil, für die antike Kultur, in der der Sklave die Maschine hinlänglich ersetzte, ein Maschinenwesen zu schaffen, das unser modernes Treiben vorweggenommen hätte; virtuell wäre das durchaus möglich gewesen. Ktesibios ist hier der Mann am Werk, und es handelt sich um Automaten.

Schon unsere Uhr ist ein Automat; die Spannung der Feder bewegt sie. Mit Hilfe der Automaten reisen wir auf Schienengleisen oder ohne sie mit Hilfe des Dampfs und der Elektrizität, und jeder Straßenjunge stammelt bei uns griechisch, wenn er das Wort Auto ruft. Schon Ktesibios hat für seine Zwecke den Dampf, den Luftdruck, den künstlich hergestellten leeren Raum, das Vakuum, in den Kolben und Kesseln seiner Maschinen benutzt. Aristoteles hatte die Existenz des leeren Raums geleugnet, Ktesibios bewies sie durch Experiment und nutzte sie aus. Darin liegt seine wissenschaftliche Bedeutung; Heron aber war in den technischen Leistungen sein Fortsetzer.

Da hören wir denn von allerlei netten Sachen, von Siphonen, die für Druckwerke dienen, von der Vexierkanne mit hohlem Henkel, die so eingerichtet ist, daß man daraus nach Belieben dem einen Wein, dem andern Wasser, dem dritten Wasser und Wein gemischt einschenken kannHeron S. 64 ff. ed. Schmidt.. Weiter zu magischer Wirkung 331 beim Gottesdienst Weihwasserautomaten in den Tempeln; eine Mechanik, durch die sich die Tempeltüren von selber öffnen, oder eine Trompete, die im Tempel zur rechten Zeit von selber blästHeron S. 111; 175; 99.. Alles das blieb im Grunde nur geniale Spielerei ohne praktische Folgen; wertvoller war schon der sich selbst regulierende Badeofen, die Feuerspritze im Dienst des LöschwesensHeron S. 305 u. 131., die Wasseruhr mit beweglichem Zeiger, der Taxameter, der schon damals die Länge der Wagenfahrt von selbst angabHierzu vgl. H. Diels, Antike Technik² S. 205 u. 64., endlich die WasserorgelVitruv X 13.. Die Wasserorgel, deren Pfeifen, wenn man die Tasten rührte, von selber tönten, wurde gern und oft in Konzerten vorgeführt. Aber auch das Marionettentheater sei nicht vergessen: ein Bühnenkasten, in dem die beweglichen Puppen ganze Dramen abspielen, ob im Waffenkampf, ob im Sturm auf dem Meer; es wird uns genau beschrieben. Solche Marionette großen Stils war nun auch die sitzende, hochgewachsene Frauenfigur, die in der großartigen Prozession, die Ptolemäus Philadelphus zu Ehren des Dionys veranstaltete, auf einem Wagen daherfuhr, die sich mechanisch vom Sitz erhob, Milch ausgoß und sich wieder niedersetzteSiehe oben S. 269.. Gewiß ist sie ein Werk des vielbewunderten Ktesibios gewesen. Von solchen im feierlichen Gottesdienst zur Darstellung einer heiligen Handlung verwandten Marionetten hören wir auch noch in der späteren römischen KaiserzeitSiehe meine Römischen Charakterköpfe8 S. 33..

Aber auch den besten Namen, Archimedes, muß ich hier noch einmal nennen. In Syrakus fand er nicht sein Publikum; vielmehr war Alexandriens Gelehrtenrepublik auch für ihn das Zentrum, nach dem er gravitierte; in Briefwechsel mit den dortigen Größen stand er, sandte seine eigenen Arbeiten zur Kenntnisnahme dorthin, gleichsam als korrespondierendes Mitglied der Akademie, und knüpfte sorglich an die dortigen Arbeiten an. Daher sein großartiger Maschinenbau, daher seine Behandlung der Quadratur des ZirkelsArchimedes verwendete zur Kreismessung das 96-Eck..

Der König war kränklich, wie wir sahen. Er rief die besten Ärzte herbei, und sie kamen, Herophilus und Erasistratus, aber sie scheinen seinem Podagra nicht geholfen zu haben. So 332 entwickelte sich nun aber auch die Medizin in Alexandrien unter königlichem Schutz zu größerer Vollendung; ihr wissenschaftlicher Charakter wurde gesteigert. Schon bisher war die Medizin Hofkunst gewesenIch erinnere an die Ärzte am mazedonischen Hof in Pella.; jetzt gedieh ihr dies zu besonderem Vorteil. Denn der König gestattete das bisher Unerhörte, das Sezieren menschlicher Leichname. Die Zubereitung der Mumien, die in Ägypten herkömmlich war und die gleichfalls das Sezieren, das Herausnehmen der Eingeweide voraussetzt, gab zu dieser freisinnigen Verfügung den Anstoß. Ja, auch Vivisektion an zum Tod verurteilten Verbrechern wurde gestattet; der König selbst soll, wenn ihn die Laune befiel, dilettantisch sich am Schneiden versucht habenPlinius 19, 86.. Mit Entrüstung blickte die spätere Zeit hierauf zurückVgl. Quintilian, declam. maiores Nr. 8; »Das Kulturleben der Griechen und Römer« S. 289..

So wurden nun Herophilus und Erasistratus die Anatomen, die sahen, was kein anderer sah; das Gehirn, Herz, Adern und Nerven, auch Glaskörper und Netzhaut im Auge lag jetzt offen. Aber auch praktiziert wurde; das ist selbstverständlich, und Schüler wurden angelernt. Eine ambulatorische Klinik stand offen; die Großstadt lieferte das reichste Krankenmaterial. Wie freilich unsereinem zumute sein würde, wenn ein Herophilus sich an unser Bett setzte, wage ich nicht auszudenken. Man schnitt nicht nur, sondern auch Schröpfköpfe und Katheter waren am Werk; die Pharmazie aber tat das meiste. Auch die Kenntnisse der Heilkräuter wurde damals planvoll gesteigert. »Heuresis«, d. i. das Finderglück, so hieß der weibliche Genius, der dem Pharmazeuten beim Suchen solcher Pflanzen halfDiese »Heuresis« sieht man abgebildet als weibliche Figur, die die Pflanze Mandragora in Händen hält, im Dioskurides ed. Karabacek fol. 5b; auch »Die Buchrolle in der Kunst« S. 300 Abb. 178. Das botanische Bilderbuch des Krateuas gehört erst späterer Zeit, erst dem 1. Jahrhundert v. Chr. an.. Erasistratus aber war nicht nur Anatom, sondern von Hause aus Physiologe und Pathologe. Man war jetzt so weit, zu erkennen, daß die Diagnose für den Arzt wichtiger ist als die Prognose; daß man die Symptome am Kranken beobachten soll, nicht um sie selbst zu bekämpfen, sondern um aus ihnen auf den Ort der Krankheit zu schließen. Das Fieber selbst ist keine Krankheit, sondern nur ihr Symptom und die Wirkung irgendeines inneren Schadens, den es zu beseitigen gilt.

Als Beispiel wird uns folgende Liebesgeschichte gegeben, die im Altertum allgemein gefiel, weil sie den Arzt verherrlicht und 333 zugleich die Herzen rührt. Seleukus, der stolze König Syriens und Babylons, hatte etwa 50jährig als Witwer die junge bildschöne Stratonike, die Tochter seines Gegners, des Demetrius Poliorketes, zu seiner Königin gemacht. Antiochus aber, sein Sohn erster Ehe, erkrankte, als Stratonike am Hof erschien, und niemand konnte ihn heilen. Erasistratus aber, der damals dem Seleukus diente, erkannte, daß er liebeskrank. Der Jüngling hüllte sich in Stummheit. Wen liebte er? Es galt dies festzustellen, um ihm zu helfen. Der Arzt verließ also das Zimmer des Kranken nicht, beobachtete sein Verhalten beim Ab- und Zugehen jugendlicher Personen, sein Antlitz, seine Augen, sein Zucken in den Händen. Es zeigte sich nichts; als aber Stratonike, die holdselige, herzutrat, waren plötzlich alle Symptome der Liebe da, Verwirrung, Stocken der Stimme, fahle Blässe und Angstschweiß bis zur Ohnmacht. Welch bedrohliche Entdeckung! und was sollte geschehen? Seleukus, der König, liebte seinen Sohn; so beschloß Erasistratus, zu ihm zu gehen, und sagte: »ich habe das Leiden erkannt; dein Sohn liebt, eine vergebliche Liebe«. »Wen liebt er?« Der Arzt versetzte klug: »er liebt meine Frau«. Seleukus darauf: »So trenne dich von ihr und gib sie ihm hin; denn du siehst, wie wir unglücklich sind.« »Nein,« rief der andere; »das würdest doch auch du nicht tun, wenn Antiochus etwa dein Weib, wenn er Stratonike liebte.« Da sagte der König lebhaft und unter Tränen: »O Freund, möchte ein Gott oder irgendein Sterblicher seine Leidenschaft ablenken, da ich sogar mein KönigtumIm Text bei Plutarch steht βασιλείαν. Das Wort steht hier jedoch absichtlich doppeldeutig, da man es auch als βασίλειαν akzentuieren kann. hingeben würde, wenn Antiochus mich bäte!« Da ergriff der Arzt des Königs Rechte und sagte: »Wohlan, ich bin hier nicht nötig; denn der Vater selbst, des Weibes Gatte, der König ist hier der beste Hausarzt, der die Heilung bringt.« Seleukus verstand, trennte sich großherzig von seinem Weib und gab es dem Sohne. Durch dies Erlebnis ist Erasistratus eine Figur in den Königsgeschichten des Orients geworden. Aber er siedelte dann nach Alexandrien über; vielleicht war doch im Herzen des Seleukus ein geheimer Groll übrig gebliebenDaß Erasistratus in Alexandrien wirkte, ist nicht ausdrücklich überliefert, wird aber auf Grund seiner wissenschaftlichen Leistungen mit Bestimmtheit angenommen..

334 Aber genug von Ärzten, von Astronomen und desgleichen. Sind wir hiermit am Ende? Keineswegs. Wir haben das Eigenartigste, das Weltwunder jener Zeit, die Bibliothek des Museums noch nicht betretenSteht in der Vita Apollonii Rhodii der Plural βιβλιοϑῆκαι τοῦ Μουσείου, so erklärt sich dies daraus, daß βιβλιοϑήκη ursprünglich nicht nur das Gebäude, sondern jedes Gestell für Bücher bedeutet; eine große Bücherei besteht also aus mehreren derselben.. Wir fassen uns in Andacht, treten ein, und uns empfängt der Mann des Buchs, der Philologe. Es ist immerhin doch erwähnenswert, daß damals in Alexandrien auch die Philologie entstanden ist, die heute unsere Schulen beherrscht. Sie ist die bescheidene, doch unentbehrliche Schleppenträgerin der Dichtkunst, die Hüterin ihrer abgelegten schimmernden Gewänder, und eine frauenhafte Geduld ist ihr eigen. Auch der Philologe ist Denker, aber er denkt nur, was andere gedacht habenWenn August Böckh die Tätigkeit des Philologen als das »Erkennen des Erkannten« definierte, so besagt das dasselbe; vgl. meine Kritik u. Hermeneutik S. 4.. Dabei muß er Handschriften lesen, Stilarten unterscheiden können. Das erfordert Begeisterung für das Kleine. Aber er ist stolz darauf bis zur Zanksucht; stolz mit Recht. Denn wir haben dieser Philologie Alexandriens viel zu danken, vor allem die Rettung der Literatur von Hellas, die Rettung der Bücher, ohne die die Vergangenheiten stumm und tot und ein verlorenes Gut sind, aber noch ein zweites, die Begründung des Sprachstudiums, des Verständnisses für das Wort, das wir im eigenen Munde führen. Man nennt das Grammatik, »die Lehre vom Buchstaben oder vom Laut«Im Altertum umfaßt das Wort Grammatik dasselbe, was wir heut Philologie nennen..

Es war etwas, an der eigenen Sprache die Gesetze, die sie beherrschen, aufzudecken. Nur die Inder und die Griechen haben das geleistet. Daß wir Deutschen Zeitwort und Nennwort und die Formen der Fälle am Substantiv, die Formen der Zeiten und Modi am Verbum unterscheiden und das Gesetzliche in dem allem wahrnehmen, haben wir von den Römern, die Römer haben es sklavisch von den Griechen genommen. Die griechischen Philosophen halfen zu eben der Zeit, von der ich handle, vor allem die Stoiker; von ihnen stammen die Ausdrücke Nominativ, Genitiv, Dativ, Imperativ, Perfekt, Adverb, Pronomen usf. Die Grammatiker des alexandrinischen Museums aber suchten am gesamten Sprachmaterial die Regeln, die hierfür gelten, festzustellen und die Ausnahmen zu notieren, und eine Lautlehre und Formenlehre entstand. Das hatte rein 335 wissenschaftlichen Zweck; es war auch dies Naturforschung. Denn die griechische Sprache hat sich damals im Hellenismus über die fremden Nationalitäten nicht etwa mit Hilfe des Lehrbuchs, das viel zu spät kam, sondern naturwüchsig durch mündlichen Verkehr und überdies durch Lektüre der Schriftsteller verbreitet.

Die Bibliothek war ein geniales kaufmännisches Unternehmen der Könige. Spekulation, Raubrittertum und Idealismus wirkten bei der Beschaffung der Büchermassen zusammen. In allen auswärtigen Städten, bei den Behörden, bei Privaten, machten sie Gebote zu hohen Preisen, und die kostbaren Bücher flogen herbei von allen Seiten, auch der Homertext, den man im fernen Marseille hatte. Die Tragiker Aeschylus, Sophokles und Euripides waren in käuflichen Exemplaren weit verbreitet; Alexander der Große ließ sie sich aus Athen nach Persien kommen, und zwar ihre sämtlichen etwa 300 DramenPlutarch Alex. 8: συχνάς.. Die Ptolemäer aber verschafften sich aus Athen von ihnen die sog. Staatsexemplare, die den zuverlässigsten Text botenIch trage diese Nachricht nicht ohne Zweifel vor. Die besten Exemplare der Dramen dürften in Athen sich im Besitz der Dichterinnung befunden haben, die Istros in der Sophoklesvita bezeugt (ϑίασος τῶν πεπαιδευμένων), falls diese über des Sophokles Lebenszeit hinaus Bestand hatte.. Die Handelsschiffe, die in Alexandrien anlegten, führten oft im Dienst des Buchhandels ganze Ladungen von Büchern; die Könige spürten danach und nahmen sie ohne Bedenken weg. Ungeordnet kamen die Massen von Rollen dann zunächst in das Magazin, die Bibliothek, die feuersicher lediglich aus Stein ohne Holzgebälk errichtet warWie auch alle andern Bauten; denn es fehlte in Ägypten an Holz.. Ihre Front lag nach Osten, da man Morgenlicht brauchteStrabo p. 786 f.. Es wurde nur vormittags gearbeitet, und in der Vorhalle, die das Licht empfing, wurde studiert.

Ägypten hatte den enormen Vorteil voraus, daß dort allein Papier fabriziert wurde; denn nur dort wuchs die Papyrusstaude. Alle auswärtigen Schriftsteller und Buchschreiber waren gezwungen, das Papier von dort zu beziehen. Die Ptolemäer hatten es auf alle Fälle stets zur Hand. Wir hören, daß, wie die jüdischen Kaufleute in Alexandria die Transitwaren auf Lager zurückhielten, um die Preise zu steigern, man es in Nachahmung ihres Verfahrens auch mit dem Papier machteSiehe Strabo p. 800: τινὲς τῶν τὰς προσόδους ἐπεκτείνειν βουλομένων μετήνεγκαν τὴν Ἰουδαϊκὴν ἐντρέχειαν, ἣν ἐκεῖνοι παρεῦρον ἐπὶ τοῦ φοίνικος καὶ μάλιστα τοῦ καρυωτοῦ καὶ τοῦ βαλσάμου. οὐ γὰρ ἐῶσι πολλαχοῦ φύεσϑαι, τῇ δὲ σπάνει τιμὴν ἐπιτιϑέντες τὴν πρόσοδον οὕτως αὔξουσι κτλ.. Auch ohne das waren die Papierpreise nachweislich im Altertum exorbitant und mit den heutigen nicht zu vergleichen. Für das 336 Zusammenkleben eines Papierstreifens aus 20 Blättern zahlte man in Ägypten selbst, nicht etwa im Ausland, so viel, daß man sich drei Liter Linsen dafür hätte kaufen könnenGenaueres findet man in »Die Buchrolle in der Kunst« S. 28; dazu »Kritik u. Hermeneutik« S. 352.. Auf alle Fälle aber hatten die Ptolemäer das Schreibmaterial viel billiger als etwa die Athener und stets in Fülle zur Verfügung. Es galt diesen Vorteil auszunützen, und es stellten sich demnach zwei Aufgaben, erstlich, das wüste Chaos der Buchmassen zu ordnen, die allzu dicken Rollen, die bisweilen an 100 Fuß Länge hatten, zu zerlegenDie Überlieferung gibt einen Bestand von 400 000 Rollen vermischten Inhalts, 90 000 einheitlichen Inhalts. Die ersteren werden besonders umfangreich gewesen sein. Die enormen Zahlen aber erklären sich nur durch das wahllose Aufhäufen, wobei unzählige Duplikate sich einfinden mußten. Die Massen wurden zunächst haufenweise (σωρηδόν) in irgendwelchen Gebäuden, ἐν οἴκοις τισί, niedergelegt; s. Galen XVII 1 S. 606 ed. Kühn., sodann aber mit Hilfe der Papiervorräte neue Reinschriften, lesbare Neuausgaben aller Schriftsteller, die es gab oder bei denen es sich noch irgendwie lohnte, herzustellen. Dazu aber waren Buchkenner, Schriftkenner, es waren dazu Philologen nötig, und so erzeugte die Bibliothek die Philologie, um ihrerseits durch sie erst das zu sein, was sie sein soll, um durch sie erst ihr Wesen zu erhalten. Die neu hergestellten Ausgaben aber waren natürlich für den Verkauf bestimmt. Sie waren Vervielfältigungen. Auch von des Aristoteles bisher schwer zugänglichen Lehrschriften erschien eine Anzahl; auch die zeitgenössischen Autoren gaben ihre neuen Sachen her; 700 000 Rollen hatte man schließlich auf LagerDie hohe Zahl erklärt sich durch das Hinzukommen der Neuabschriften; vgl. Gellius VII 17: numerus librorum... vel conquisitus vel confectus est. Was ich über conficere libros (z. B. Cicero ad fam. 9, 16, 4) »Charakterbilder Spätroms«³ S. 488 Anm. 39 gesagt, kann demnach nicht richtig sein., und so wurde Alexandrien rasch und nahezu konkurrenzlos das Zentrum für den Buchhandel der damaligen Welt.

Durch vier, fünf Generationen entwickelte sich hier die neue Wissenschaft, und ein ausgezeichneter Gelehrter reichte sie dem andern weiter. Man begann mit der Ordnung der Bücherstapel; dazu mußten drei Männer heran, Zenodot aus Ephesus als dirigierende Kraft, daneben ein Alexander aus Aetolien und Lykophron aus Euböa, und sie lasen aus der Menge zunächst die Bücher der epischen und lyrischen Dichtkunst, die Tausende von Tragödien und Lustspielen aus. Die so hergestellten Gruppen wurden in besondere Schränke gelegt. Im weiteren Verlauf aber wurde es so gehalten, daß nur die Bibliotheksdirektoren auf Grund der Texte, die sie vorfanden, Neuausgaben veranstalteten, die sonstigen Arbeiten, die sich als notwendig ergaben, andern Philologen zufielenKallimachus war sicher nicht Bibliothekar und daher auch nicht Editor älterer Texte, wenn wir von den attischen Rednern absehen; diese scheint er ediert zu haben (s. »Kritik u. Hermeneutik« S. 301; jedenfalls stellte er über gewissen Reden den Titel her; vgl. A. Schäfer, »Demothenes« II² S. 440 Anm. 2). Das betr. Plautusscholion hat keine Gewähr; Tzetzes nennt den Kallimachus nur νεανίσκος τῆς αὐλῆς (vgl. Friedrich Schmidt, Die Pinakes des Kallimachos, Berlin 1922, S. 34). Das Papyrusfragment Oxyr. Pap. 1241 über die alexandrinischen Grammatiker wird meist mißverstanden; es handelt gar nicht speziell über Bibliothekare, sondern eben nur über die namhaftesten Grammatiker. Die hier in Betracht kommenden Worte sind (ich gebe zugleich die Interpunktion, die mir für das Verständnis wichtig scheint): [Ἀπολλώ]νιος Σίλλεως Ἀλεξανδρεὺς ὁ καλούμενος Ῥόδιος, Καλλίμαχος γνώριμος (οὗτος ἐγένετο καὶ διδάσκαλος τοῦ πρώτου βασιλέως). τοῦτον διεδέξατο Ἐρατοσϑένης, μεϑ᾽ὃν Ἀριστοφάνης Ἀπελλοῦ Βυζάντιος – hier folgt καὶ Ἀρίσταρχος, was klärlich zu tilgen ist –. εἶτ᾽ Ἀπολλώνιος Ἀλεξανδρεὺς ὁ εἰδογράφος καλούμενος, μεϑ᾽ὃν Ἀρίσταρχος Ἀριστάρχου Ἀλεξανδρεύς, ἄνωϑεν δὲ Σαμοϑρᾲξ (οὗτος καὶ διδάσκαλος ἐγένετο τῶν Φιλοπάτορος τέκνων, μεϑ᾽ὃν Κύδας ἐκ τῶν λογχοφόρων). ἐπὶ δὲ τῷ ἐνάτῳ βασιλεῖ ἤκμασαν Ἀμμώνιος καὶ Ζηνό... καὶ Διοκλῆς καὶ Ἀπολλόδωρος γραμματικοί. Daß nur die zeitliche Reihenfolge der »Grammatiker« gegeben werden soll ganz ohne Beziehung auf die Bibliothek, beweist allein schon das Wort ἤκμασαν am Schluß; es handelt sich nur um die ἀκμή der Männer; wäre es nicht so, so müßten wir hier ἐπὶ τῶν βιβλίων ἦσαν statt ἤκμασαν lesen. Die von mir in Parenthesen gestellten Worte sind beidemal Zwischenbemerkungen, die das Thema unterbrechen; in der ersten Parenthese ist dafür schon das καὶ beweisend; daher bezieht sich auch das folgende τοῦτον nicht auf βασιλέως, weil dies eben zur Einschaltung gehört. Ebenso steht es mit der zweiten Parenthese, und wir sind nun auch von der unmöglichen Annahme erlöst, daß ein λογχοφόρος Vorsteher der Bibliothek war; der Soldat war nur Erzieher der Königssöhne; das ist eher glaublich, so wie der Erzieher des Kaisers Claudius ein Stallmeister war; die Söhne mußten früh fechten lernen.. So gestalteten die 337 Direktoren Zenodot, Aristophanes aus Byzanz und Aristarch (der Namensvetter des Astronomen) den zerrütteten Homertext in immer neuer Durcharbeitung auf Grund der Vergleichung zahlreicher Exemplare in einer Gestalt, die dauernde Geltung gewann.

Wir wissen heut, wie mühselig es ist, alte zersplitterte Papyrusrollen zu entrollen und ihre Schrift zu lesen; bei Homer nun gar, der schon bisher in Kleinasien wie in Sizilien, Tarent, Marseille, auf Kreta und sonst allerorts Lehrgegenstand in den Knabenschulen gewesen, ist es begreiflich, daß er unendlich viele Entstellungen, ja, dreiste Einschaltungen erfahren hatte, und der Feinsinn, die Spürfähigkeit der Philologen für das Echte steigerte sich in Alexandrien in bewundernswerter Weise. Der Name jenes Aristarch, des letzten der großen Bibliothekare, wurde zum Renommiernamen des Fachs, und viele angesehene Fortsetzer dieser Arbeiten rühmten sich hernach, seine Schüler zu sein. Noch mehr Bewunderung aber verdient der neben ihm genannte Aristophanes, der in umfassendster Weise all die Tragödien, die Komödien, die lyrischen Dichter wie Pindar und seinesgleichen, aber obendrein auch Prosaautoren in gesichertem Wortlaut neu lesbar machte, indem er bei den Liedertexten in Beobachtung der Versmaße eine durchdachte neue Zeilenteilung herstellte.

Dazu trieb man auch Metrik, freilich ohne hinreichendes Verständnis; denn jene griechischen Lieder und Gesänge sind ohne Kenntnis der Musik, nach der man sie gesungen hatte, nicht aufzufassenEupolis bezeugt Frg. 366, daß Pindar schon zu seiner Zeit nicht mehr gesungen wurde. Wie sollte man also seine Metrik verstehen?, was viele auch noch heute verkennen. Aber die Philologen des Museums scheinen nicht so musikalisch wie der Arzt Herophilus, der Anatom, gewesen zu sein, der den Puls der Fieberkranken, da er kein anderes Meßinstrument besaß, nach dem Rhythmus bekannter Musikstücke zu messen pflegtePlinius nat. hist. XI 219; XXIX 6. Das Musikleben war in Alexandrien besonders reich entwickelt, und die Einwohner galten als μουσικώτατοι; s. Athenäus p. 176 E.; aber es war ein ganz neuartiges, modernes Musizieren..

Aber auch viele dunkle Stellen und seltene, außer Gebrauch gekommene Wörter und Dialektformen fanden sich im Homer, in den Tragödien und Komödien; in den Sitzungen des Museums wurden sie ausführlich besprochen, und daraus gingen 338 Kommentare und Lexika oder Glossare hervor, die sich schließlich zu Bergen häuftenAuch ein Mazedonier Amerias fand sich unter den Glossographen; s. Athenäus p. 176 C.; der Philologe, der diesen Studien den Abschluß gab, Didymus, »der Mann mit dem Gedärm von Eisen«, hat nicht weniger als 3500 Bücher solchen Inhalts hinterlassen.

Diese Arbeiten waren mühselig und gingen ins kleine bis zum kleinlichen; ein Kleben am Worte; aber der Lohn war groß, der geistige Gewinn für die Folgezeit von unsäglicher Bedeutung; denn nicht nur die Literatur selbst von Homer bis Aristoteles war vor Verderb und Verzettelung gerettet; man hatte nun auch zum erstenmal über sie einen Überblick gewonnen, konnte sie endlich als Gesamtheit nehmen, historisch aufbauen, in Gruppen zerlegen, die Entwicklung jeder Gattung feststellen, Literaturgeschichte treiben. Darin liegt das Hauptverdienst des Philologen Kallimachus, daß er in einem katalogartig gestalteten Literaturgeschichtswerk in 120 Büchern den Gesamtinhalt der Literatur mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verzeichnete, die Gruppen sonderte, zu jedem der Autoren die sämtlichen Werktitel angab, biographische Notizen hinzufügte: ein wahrer Thesaurus, eine Schatzkammer ohnegleichen. Dieser Kallimachus war Page am Hof gewesenνεανίσκος τῆς αὐλῆς s. oben S. 336 Anm. "Die hohe Zahl erklärt sich..."., aber seine reichen geistigen Interessen trieben ihn zu den Bücherschränken, und nichts war so entlegen, daß es nicht sein Interesse fand bis zu den Kochbüchern und Tischregeln, die man in Buchform aufbewahrte. Zum Glück wurde er nicht Bibliotheksdirektor; sonst hätte er zu seinen weitschichtig registrierenden Arbeiten gewiß keine Zeit gehabt. Wohl aber fand er Zeit, gelegentlich noch seinen Vers zu machen; er wollte der Mann sein, der den Musen des Museums auch als Dichter diente: ein dichtender Philologe, ein Zeichen der Zeit. Es ist begreiflich, daß das nichts Berauschendes wurde. Die Gewissenhaftigkeit kann den Schwung nicht ersetzen.

So ist denn auch die Ästhetik, das ästhetische Kunsturteil, das ins Große blickt, nicht eigentlich von diesen Grammatikern ausgebildet worden, sondern vielmehr von den Lehrern der Beredsamkeit; denn nur wer selbst Produzent ist, kann das gegebene 339 Produkt in seinen Werdebedingungen erfassen. Nichts herrlicher auf diesem Gebiet als das griechische Buch, das sich »vom Erhabenen« betitelt; aber kein Philologe hat es geschrieben. Wer da gebückt lebt, um die Knoten im Grashalm zu zählen, versteht nicht, was die Waldeswipfel rauschen, die der Odem Gottes im Sturm bewegt.

Gleichwohl war nun für eine Literaturgeschichte wissenschaftlich der Grund gelegt, und es schlossen sich Männer an Kallimachus an, die nun auch ausführlichere Biographien der Dichter und Philosophen schrieben, freilich ohne den Wahrheitssinn, der den Meister auszeichneteEs ist hier an Hermippus und Sotion gedacht.. Vor allem beteiligte sich der große Eratosthenes, der Mann, der die Geographie neu aufgebaut, auch auf diesem Gebiet des Bücherstudiums, Eratosthenes, der Mann, der gleichsam Zeit und Raum beherrschte; er schuf die Chronologie, den Aufbau der Vergangenheit nach JahreszahlenMan zählte bekanntlich nach Olympiaden, deren jede 4 Jahre umfaßte., der bisher noch fehlte; es galt genau zu wissen, wann Herodot gelebt, wann Sophokles geboren usf. In die Zeitenfolge der Weltgeschichte wurde von ihm die Chronologie der Literaturgeschichte eingebaut. Erst nach dieser großen wissenschaftlichen Leistung des Eratosthenes konnten die nach Jahren geordneten Chroniken entstehen, an denen schon Männer wie Cicero sich orientierten, und auch der heutige Liebhaber des Hellenentums wäre ratlos ohne diese Hilfe.

Ihr Werk war den Ptolemäern gelungen, das Museum ein Treibhaus der Gelehrsamkeit, in dem alles wundersam gedieh; das machte die köstlich ebenmäßige Temperatur, und keine Sorge, auch kein Heimweh, so scheint es, behelligte die Männer, von denen ich gesprochen. Auch die Disputationen, bei denen man sich an der Lösung von Problemen übte, verliefen wohl meist harmlos. Der Spott blieb freilich nicht aus, wenn die Philologen im Homer von der Göttin Aphrodite lasen, die sich gegen Diomedes in die Schlacht wagt, und sich darüber ereiferten und stritten, ob sie da an der rechten Hand oder an der linken verwundet wurdePlutarch Symposiaka p. 739.. Vom Herkules genügten die zwölf Taten nicht; man mußte wissen, bei wem er schreiben 340 gelernt, wer ihm Singstunden gabSiehe Theokrit 24, 103 ff.. Es war üblich im Gefäß Lose herumzureichen, und die, die dasselbe Los zogen, mußten sich gegenseitig solche Fragen stellenPlutarch Symposiaka S. 737 D.. Das deutet auf Verfall, der in der Tat nicht ausblieb. Die Herren wurden feist und faul. Die Dynastie selbst blieb nicht auf ihrer Höhe; Roms Einfluß wurde allmächtig, die besseren Gelehrten wanderten aus Alexandrien dorthin, in die Stadt am Tiber; denn Rom hatte sich inzwischen mit Ehrgeiz hellenisiert. Für die griechische Medizin wie für die Philologie wurde so Rom der Mittelpunkt, schließlich auch für das ganze Verlagswesen. Dazu kam, daß die Bibliothek in Alexandrien in Flammen aufging. Julius Cäsar kämpfte dort, im Hafen, gegen die Aufständischen; die Schiffe brannten; übermütige Soldaten trugen den Feuerspan in das kostbare Magazin der 700 000 PapyrusrollenVgl. Gellius VII 17: a militibus forte auxiliariis incensa sunt. Dies »forte« übernahm Orosius VI 15, 31, wenn er schreibt: regia classis forte subducta Alexandriae iubetur incendi; ea flamma, cum partem quoque urbis invasisset, quadringenta milia librorum proximis forte aedibus condita exussit. Aber diese ganze Darstellung, wonach sich die Feuersbrunst von selbst auf die Häuser übertragen hätte, ist ersonnen; denn nach dem Bellum Alexandrinum c. 1 fingen die Gebäude der Stadt nicht Feuer, weil sie nur aus Stein ohne Holzgebälk bestanden. Die Darstellung des Gellius verdient also unbedingt den Vorzug. Es waren Barbaren, Soldaten von den Hilfstruppen, die sich so wüst betrugen. Holzgebälk wird aber doch im Bellum Alexandrinum c. 13 erwähnt; um so leichter also die Brandstiftung.. Fortan waren die üppigen kaiserlichen Bibliotheken in Rom die Sammelstätte, wo man die griechischen Bücher fand.

Wir aber können Alexandrien noch nicht verlassen; denn allerlei Dinge gediehen auch außerhalb des Treibhauses des Museums: die Goldmacherei, die Alchymie, das Unkraut, aus dem erst in unserer späten Gegenwart das Edelgewächs der Chemie hervorging. Von den ägyptischen Priestern war sie ausgegangen, jene Geheimkunst, und sie schlich sich nun auch in die Stadt Alexandrien ein. Man wollte der Natur nachhelfen, Gold aus Kupfer machen, Smaragden aus Kristall. Warum sollen die Elemente sich nicht verändern, wenn man sie unter magischer Besprechung in die Retorte tut? warum nicht aus einem Stäubchen Gold ein ganzes Pfund Gold werden, wenn doch aus einem Saatkorn, wenn man es richtig bettet, hundert Körner wachsen? Wahn, Wahn! Betrug und Schwindel! Aber die Sache wuchs sich fachmäßig zur Lehre, zur Industrie aus,Ich sprach von Wahn. Nach den überraschend veränderten Anschauungen der modernsten Chemie wird freilich die Entstehung oder Lösung eines Elements aus einem anderen, des leichteren aus einem schwereren, theoretisch nun doch als möglich zugestanden, wenn schon dafür der experimentelle Beweis noch fehlt. Die Nachricht von aus Quecksilber gewonnenem Gold, die zuerst im Juli 1924 durch unsere Zeitungen ging, wird, wie ich höre, in Fachkreisen mit Skepsis betrachtet. (Zur Sache P. Walden in der Zeitschrift f. angewandte Chemie 37 (1924) S. 615 f., ein Aufsatz, auf den ich freundlichst aufmerksam gemacht werde). und die Gewinnsucht gab den Antrieb. Die Ptolemäer, die reichen Könige, haben sie ignoriert; anders dagegen der römische Kaiser Diokletian in der Zeit der Geldnot und des Verfalls des Geldwesens; er ließ im Interesse seiner großen Münzreform im Jahre 297 n. Chr. sämtliche Goldmacherbücher in Ägypten konfiszieren und verbrennen. Wie 341 hoch steht dieser Herrscher über den Königen Englands, die umgekehrt im 16. und 17. Jahrhundert sich der Hilfe der Goldmacher bedienten, um ihr Land mit falscher Münze geradezu zu überschwemmen! Auch deutsche Fürsten, wie die Kurfürsten von Sachsen, die die polnische Krone trugen, haben es im 18. Jahrhundert nicht besser gemacht, und der Betrieb ging im lieben Dresden in das Große. Aber man hatte nun doch auch in unsern Ländern das Kochen der Elemente und ihre Analyse gelernt; die Sache kam unglaublich spät, aber sie kam doch endlich in die Hände ehrlicher Leute, und die moderne Chemie entstand, die Befreierin, die unser physisches Leben heute durchhellt und eine ganz neue Industrie schuf, die uns auch ohne unechtes Gold reich macht. Die Kunst der Retorte hat das böse Gewissen verloren.

Im Judenviertel Alexandriens aber entstand gleichzeitig ein Werk, von dem unsere Theologen wissen und das zur Popularisierung der jüdischen Volksreligion und damit zur Begründung des Christentums die Voraussetzung war: die »Septuaginta«, die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Denn viele Juden in der Diaspora verlernten das Aramäisch, das sie sprachen; die hellenisierten, griechisch sprechenden Juden brauchten für den Gottesdienst in ihrer Synagoge den heiligen Text in griechischer Sprache. Sie selbst erzählten hernach die Wundermär, der König Ptolemäus Philadelphus selbst habe die Übersetzung aus dem Hebräischen veranlaßt, indem er 70 kundige Israeliten damit beauftragte, die jeder abgetrennt in besonderer Klause das Werk vollbrachten; diese 70 Übersetzungen hätten wörtlich übereingestimmt, und so war man versichert, daß keines der heiligen Worte veruntreut sei. Nun aber standen die Bücher Moses auch den Nichtjuden offen, und es konnte eine Propaganda des Glaubens beginnen.

Freilich war in dieser Übersetzung die griechische Schriftsprache eigentümlich barbarisiert; sie erhielt ausgeprägt semitischen Typus, vor dem der verwöhnte Schönheitssinn der gebildeten Griechen zurückschreckte. Aber es mußte trotzdem dahin 342 kommen, daß auch sie sie lasen; denn überdies entstand im ägyptischen Judentum, das bald eine Million Köpfe zählte, eine neue, propagandistisch ausgreifende, religiös-philosophische Literatur, die sich an Plato und der Stoa nährte, den Griechen aber zeigte, daß die Weisheit ihrer Weisen nicht neu, daß sie sich schon bei Moses findeHauptname ist hier Aristobul; auch der Pseudo-Hekatäus περὶ Ἰουδαίων, auch der sensationelle Aristeas-Brief sei hier genannt..

Vor dem Griechen aber, der die Bücher Moses entfaltete, erstand nun der eifrige orientalische Gott, der da sprach: es werde Licht, und es ward Licht, das Drama der sechs Schöpfungstage, Himmel und Erde aus dem Nichts geworden, die Gartenszene des Sündenfalls, Moses auf dem Sinai, das Manna in der Wüste, die großzügig belebte Familienlegende der Patriarchen und überall derselbe Gott, der sein Volk erzieht, liebt und züchtigt, eine Fülle neuer Bilder, in starker, oft wilder SpracheMan erinnere sich solcher Schilderungen wie Samuelis II 22, 9 f., wo es von Gott heißt: »Da er zornig war, Dampf ging aus von seiner Nase und verzehrend Feuer von seinem Mund, daß es davon blitzte, und er fuhr auf dem Cherub und flog daher und schwebte aus den Fittichen des Windes.« »Mit dir,« sagt David, »kann ich Kriegsvolk zerschmeißen und mit meinem Gott über die Mauern springen« u. a. m., die Figuren selbst in grellen, fast schreienden Farben auf dunklen Grund gestellt. Welche Bereicherung der Phantasie, welche Bereicherung der Gedankenwelt!

So geschah es, daß der Hellenismus nicht nur gab, sondern auch nahm, daß sich der Orient ihm aus seinen Tiefen immer mehr erschloß und seine erregenden Einflüsse dreifältig aus Persien, aus Babylon, aus dem Judentum über den ruhig kontemplativen, der Wissenschaft zugewandten griechischen Geist ergoß. Was das Museum Alexandriens gab, war doch nur für die dünne Schicht der Gebildeten, der Aristokratie des Geistes; der ägyptische Isis- und Osirisdienst dagegen, der Sternglaube Babylons, die persische Lehre vom Kampf des guten und bösen Weltgeistes, der bis in unsere Herzen dringt, und der Judaismus wirkten auch auf die breiten Volksmassen, und bei den Massen ist im großen Werdegang der Geschichte die Entscheidung. Wir werden es sehen. 343

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