Theodor Birt
Alexander der Große und das Weltgriechentum
Theodor Birt

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Das Weltgriechentum und sein Geistesleben

Aristoteles.

Während Alexander, des Aristoteles Schüler, als Kriegsmann in Jugendlichkeit und Stärke die Welt umgestaltete und ihr politisches Zentrum verschob, saß sein Lehrer Aristoteles selbst still in Athen, von Schülern sehr anderer Art umgeben, und baute seinerseits als Denker die Welt auf. Er tat es noch in der Enge des Studienbetriebes und in örtlicher Begrenzung; aber seine Schüler erweiterten ihren Wirkungskreis; der Hellenismus begann, und, indem sich das Griechentum über die Welt ergoß, strömte aus der Enge in die Weite auch griechische Wissenschaft und Kunst mit aus und erfüllte das Geistesleben aller Zonen. Es ist vor allem die Blüte der Wissenschaft, die jetzt sich auftut und weit erschließt und die wir ewig bewundern werden. Der Ausblick hat sich enorm erweitert, und neue Probleme in Unzahl bringen eben so viel neue Lösungen. Es gilt Himmel und Erde, den unermeßlichen Bereich des Körperlichen zu kennen, in dem wir leben; es gilt aber auch den Zweck zu finden, für den wir leben: Naturkunde und Religion. Wir werden sehen, wie bedeutend der Einfluß war, den Alexander zunächst direkt, sodann indirekt auf alles dies ausgeübt hat, bis zum Auftreten Christi, der in seiner Heimat das Judentum sprengte, um, Kosmopolit wie Alexander, zu seinen Jüngern das »gehet hin in alle Völker« zu sprechenDaß Jesus die Heidenmission schon selbst ins Auge faßte, bezweifle ich nicht. Vgl. das Schlußkapitel..

Die Menschheit streckt die Arme nach Erkenntnis. Wissen und Glaube sind die beiden Hände, die sie hochstreckt, um die Wahrheit zu fassen, die ihr immer wieder entgleiten will. Das Griechentum gab das Wissen, der Orient gab den Glauben. Wir Heutigen haben beides aus ihren Händen genommen.

Mit Aristoteles ist zu beginnen. Aber er war, so großartig auch seine Arbeit, nicht eigentlich der Bodenbereiter für das Neue, sondern der Abschluß der vergangenen Gedankenarbeit und Naturforschung des Griechentums. System, System! das erste philosophische System, das uns annähernd lückenlos vorliegt; es wölbt sich hoch und fest gefügt wie ein Tonnengewölbe, 287 das sich selbst trägt. Nimm einen Stein heraus, und es fällt zusammen: ein Zyklus von Schulschriften, die planvoll sich fortsetzen und das All erschöpfen, die zwei in sich verwachsenen Welten der Körper und der Seelen. Es gibt wohl keinen zweiten Philosophen in der Welt, der, das Gesamtwissen seiner Zeit zusammenfassend und alles Auseinanderstrebende sorgsam verknotend, sein System so abgeschlossen schriftlich festgelegt hätte wie Aristoteles. Daher hat er auch die Geister späterer unselbständiger Jahrhunderte geknechtet; denn es ist nichts beruhigender als sich in solchem System geborgen niederzulassen. Wie anders der große Frager, der platonische Sokrates!

Es ist lobenswert, seinen Bürgerpflichten zu genügen; denn der Staat ist nötig; wertvoller aber – so dachte er – und der Gipfel der Existenz ist es, von allen Staatspflichten losgelöst nur der Betrachtung zu leben: ein Leben des Schauens. Das Staunen ist der Anfang aller PhilosophieMetaphys. I 2; so schon Plato Theätet p. 155 D., und sie läßt uns nicht los. Daher lebte Aristoteles, seit Alexander nach Asien ausgerückt, als aufenthaltsberechtigter Ausländer (oder Metöke) in Athen. Als solcher hatte er mit dem Staat nichts zu tun, zog gleichgesinnte Genossen und Schüler zu sich heran (auch sein Sohn war darunter) und fing mit sammelndem Blick wie ein Mensch aus Spiegelglas alles, was ist und gewesen ist, geduldig in sich auf, um es neu aus sich darzustellen. Nein, nicht also; er war gewiß nur zum kleineren Teil selbst Beobachter. Aus Archiven und Büchern vielmehr sammelte er planvoll umsichtig und mit grenzenlosem Fleiß die Fülle der schon vorhandenen Kenntnisse, um den Mikrokosmusμικρὸς κόσμος steht Physik VIII 2. und Makrokosmus, das lebende Einzelwesen und das Weltall erschöpfend zu erklären, ja, dem vornehmsten Lebewesen, dem Menschen, auch noch seine Aufgaben zu stellen und seine Ziele zu weisen.

Aristoteles

Aristoteles

Aristoteles. Marmorkopf im Hofmuseum zu Wien. Antike Kopie eines Bronzebildnisses. Nach Delbrück, Antike Porträts, Tafel 19.

Im Winter 335 auf 334 hat er in Athen seine Schule eröffnet. In einem Hain in der Nähe des Apolloheiligtums oder Lyzeums hielt er öffentlich Vortrag. Daher nennt man seine Schule selbst Lyzeum. Hörerinnen fanden sich da nicht ein, und es ist eine seltsame Übertragung, daß sich heute unsere Töchterschulen 288 Lyzeen nennen. Außerdem verschaffte er sich Räume, um seine Bibliothek aufzustellen; dabei fand sich ein Garten mit Säulenumgang; dieser Umgang nennt sich Peripatos, und so hießen die Philosophen, die von hier ausgingen, die Peripatetikerοἱ ἐκ τοῦ περιπάτου.. Es ging dabei ganz so wie in der Schule Platos her: Universitätsbetrieb. Die Genossen lernten nicht nur; sie waren zugleich Helfer beim Lesen und Stoffsammeln, ja, auch beim Niederschreiben der neuen SchulbücherWer die Masse der Lehrschriften des Aristoteles, vor allem auch noch die der nicht erhaltenen überblickt, sieht von vornherein, daß Aristoteles in den 12 Jahren, in denen er das Lyzeum leitete, nicht alle selbst geschrieben haben kann. Das war physisch unmöglich (vgl. Jürgen Bona Meyer, Aristoteles Tierkunde S. 2). Es ist schon lehrreich, wenn wir hören, daß ein ungenannter Astrologe – mutmaßlich Philipp von Opus – zugleich Platos ἀναγραφεύς und ἀκουστής war (s. Index Academicus ed. Mekler S. 13 u. XXVII). So sind denn auch die Nikomachische und Eudemische Ethik des Aristoteles Niederschriften zweier Schüler. Das beweist ihr eigentümlicher Titel. Daß dieser eine Widmung an Nikomachus und Eudem bedeute, ist ausgeschlossen. Er ist nach Analogien zu beurteilen, und das Buchwesen des Altertums muß die Auskunft geben. Mit den ἠϑικὰ Νικομάχεια ist das Jus Aelianum, das Jus Flavianum und Papirianum zu vergleichen. Papirius redigierte die Rechtsdokumente, die vorher sine ordine waren (Digest. I 2, 2). So ist auch Nikomachus der Redakteur für die Ethik gewesen; ebenso Eudem, von dem bekannt ist, daß er auch die Physik überarbeitete. Ähnlich stand es vielleicht mit dem Cyniker Metrokles, der aus dem Peripatos zum Cynismus überging; wenn er dabei die Akroasen des Theophrast verbrannte (Diog. Laert. VI 6), so muß er durch eigene Niederschrift in ihren Besitz gekommen sein. Eine dritte Fassung der Ethik des Aristoteles sind die Magna Moralia. Folgen wir H. von Arnim (Anzeiger der Wiener Ak. d. W. 1924, 18. Juni), so geben die Magna Moralia die früheste Fassung, die Eudemische die zweite, die Nikomachische die späteste (eben dies habe ich oben S. 57 vorausgesetzt). Daher haben die Magna Moralia nun auch noch die altmodische Buchform, die sie von den beiden andern Werken unterscheidet. Ihre Titelgebung scheint unsinnig, da sie, in nur zwei Büchern, doch wesentlich geringeren Umfang als die beiden andern Ethiken haben. Warum also heißen sie trotzdem die große Ethik? Der nahe liegenden Erklärung hierfür geht man sonderbarerweise aus dem Wege. Die Unterscheidung durch μεγάλα und μικρά ist im Buchwesen häufig und geht auf die Dicke und Dünnheit der Buchrolle; die zwei Rollen der Magna Moralia sind eben jede doppelt so stark als ein Einzelbuch der andern Ethiken (s. Das antike Buchwesen S. 442 u. 494, wo man die Analogien findet), und so tragen sie als βιβλία μεγάλα den Stempel des Altmodischen. – Auf alle Fälle aber sehe ich von der Annahme ab, Eudem und Nikomachus seien die »Herausgeber« der von Aristoteles selbst niedergeschriebenen Bücher gewesen. Denn diese Bücher gehören zu den Akroasen oder Pragmatien, die zu den ἐξωτερικοὶ und ἐκδεδομένοι λόγοι im Gegensatz stehen (vgl. »Buchwesen« S. 435 u. 436, 1). Die Akroasen wurden also keineswegs durch buchhändlerische Vervielfältigung veröffentlicht, sondern lediglich im Kreis der Schule vorgetragen, der Text dann für die Schulbibliothek fixiert und weiter nicht durch Buchhändler, sondern durch Privatabschrift, Abschriften der Mitglieder des Peripatos, die man von Hand zu Hand gab, unter Fachmännern verbreitet, so daß sie evtl. vereinzelt auch in die Hände der Stoiker schon vor der ersten wirklichen Publikation der Hauptmasse der Akroasen, die von Alexandria ausging, gelangen konnten (vgl. meine Bemerkungen gegen W. Jäger in »Kritik u. Hermeneutik« S. 382). Übrigens ist klar, daß Nikomachus kein παιδίον war, als Aristoteles starb. Daß endlich die Schreibweise des Nikomachus von der des Aristoteles nicht wesentlich abweicht, erklärt sich aus der Natur des Lehrbuchstils (oben S. 288). Gleichwohl lassen sich im Korpus der Pragmatien stilistische Differenzen verspüren, so auch grade zwischen der Ethik des Eudem und der des Nikomachus.«, Aristoteles selbst ein Organisator der Arbeit erster Ordnung, seine Schule ein Forschungs- und Lehrinstitut und Konkurrenzinstitut zur Schule Platos, aus der Aristoteles selbst hervorgegangen war. Denn Plato war jetzt tot, die Leitung der Platonischen Schule seitdem rückständig. Auch in seinen Überzeugungen rückte er als nunmehr 50jähriger Mann mehr und mehr von Plato abW. Jäger hat in seinem »Aristoteles« (1923) nachgewiesen, daß Aristoteles, als er seine Pragmatien auszuarbeiten begann, den platonischen Schullehren immer noch nahestand und sich erst hernach von ihnen energisch losmachte. Daß Aristoteles jedoch mit diesen Arbeiten in Assos in Kleinasien begonnen habe, wie Jäger ansetzt, ist abzulehnen; denn die Überlieferung nötigt durchaus nicht zu solcher Annahme; Assos aber war für eine neue Schulgründung ein wenig geeigneter Ort, und für die wenigen Leute, die sich da bestenfalls zusammengefunden haben, hatte es wenig Sinn, Vorlesungen zu halten und sie gar schriftlich auszuarbeiten. Überdies war des Aristoteles Aufenthalt dortselbst nur kurz; eine »Schule« braucht jedoch längere Zeit, um das zu werden, was das Wort besagt. Bei Philodem (bei Mekler Index Academicus S 22) lesen wir nur, daß Aristoteles mit Xenokrates zu Hermias nach Atarneus kam, daß dieser ihnen Assos zum Aufenthalt gab und daß sie dort Philosophie trieben, διατρίβοντες ἐφιλοσόφουν, indem sie in einem bestimmten Säulengang zusammen kamen: εἰς ἕνα, περίπατων συνιόντες. Mit περίπατος ist hier doch keine Schule bezeichnet sondern nur irgendein Raum mit Säulenumgang; das liegt auf der Hand; denn es ist genau so gesagt wie in der Ilias 4, 446: ἐς χῶρον ἕνα συνιόντες ἵκοντο. Also von einer Schulgründung steht da nichts. Auch im Didymuspapyrus ed. Diels S. 23 ist davon, daß Aristoteles in Assos Vorlesungen hielt und gar Hermias selbst dem zuhörte, wiederum nichts überliefert. Hermias änderte sein politisches Auftreten zum Guten unter dem persönlichen Einfluß des Aristoteles, nicht aber weil er Vorträge in Assos gehört hatte. Jäger (S. 115) setzt bei Didymus nur konjektural das ἤκουσεν αὐτῶν in den Text, wo Diels vorsichtig nur Lücken ließ. Es gelingt Jäger dort aber nicht, die im Text übrig bleibenden Lücken auszufüllen, so daß zwischen den Worten παρὰ [Ἑρμία, διῆγον...] ὕστερον... ἤκο[υσεν αὐτῶν...], ἐδωκεν αὐτ[οῖς δ]ωρεά[ς]... ein glaublicher syntaktischer Zusammenhang entstünde. Also ist für des Aristoteles Aufenthalt in Assos weder Schulgründung noch Vorträge des Aristoteles, noch gar die Abfassung von Lehrschriften bewiesen. Tatsache bleibt nur, daß er dort mit Xenokrates (vielleicht auch noch mit Koriskos und Erastos) platonische Philosophie trieb (διατρίβοντες ἐφολοσόφουν). Es muß doch wohl möglich sein, daß zwei oder vielleicht auch vier Platoniker ein paar Jahre zusammen am selben Ort leben und wissenschaftliche Probleme erörtern können, ohne ein Lehrinstitut zu gründen; denn dazu gehören Schüler; Xenokrates hätte sich dort gewiß nicht einer Schulleitung des Aristoteles untergeordnet. – Ich setze somit an, und dies ist vollständig denkbar, daß Aristoteles, als er in seinem Peripatos zu Athen zu wirken begann, auch da anfangs noch der platonischen Lehre näher stand und sich, weiter arbeitend, von ihr dort erst nach einiger Zeit völlig löste. Daß er in Athen eine eigene Schule gründete, erklärt sich nicht etwa aus der Differenz mit Plato, sondern hinlänglich aus dem Umstand, daß er in der Akademie sich einem Speusipp oder Xenokrates seinerseits nicht unterordnen konnte; denn er war ein sehr selbstbewußter Mann und ja überdies den Genannten in Wirklichkeit weit überlegen. und beschloß in dogmatisch-disputatorischen Schulschriften, wie sie sonst auch bei den Medizinern üblich warenVgl. die Abschnitte aus den Ärzten, die Aristoteles περὶ ζῴων 1112 einlegt. und die er nur für das eigene Institut bestimmte, seine neu sich gestaltende Philosophie methodisch auszuarbeiten. Nicht allein der gegenwärtigen, auch noch den kommenden Generationen sollten sie dienen.

Mit kaltem Hirn sind die Schriften geschriebenAristoteles glaubte bekanntlich selbst, daß das Gehirn kalt und blutlos sei., und wer sie anfaßt, glaubt in den Fingern diese Kälte zu fühlen. Es ist, als schöbe man stundenlang zwischen kahlen Kalkwänden einher, rastlos geradeaus, ohne ermunternden Seitenblick und ohne Kurven. Monotoner Gelehrtenstil, erbarmungslos und blutlos. Von den Medizinern war diese Schreibweise ausgebildet; Aristoteles' Schule übernahm sieDer Stil der Abschnitte aus den medizinischen Schriften des Syennis, Diogenes von Apollonia und Polybos in der Tiergeschichte III 2 unterscheidet sich in nichts von dem der Lehrschriften des Aristoteles.. Ob Topik, ob Physik, nichts unpersönlicher als diese Bücher. Man denke, daß auf den 2000 eng gedruckten Seiten des Aristoteles das Wort »ich« überhaupt nicht vorkommt. Wie anders als in seinen Jugendschriften, wo er seine Person geradezu unliebsam vordrängteSiehe oben S. 55.! Ständig redet er nur per »wir«: »wir wollen jetzt fragen«, »wir wollen untersuchen«. Das heißt: die Genossenschaft redet, doziert und fichtImmer heißt es, wo der Autor von sich redet, λέγωμεν, ἔχομεν ἀποδιδόναι, ἀξιοῦμεν δή, ζητοῦμεν usf. usf., mit ἡμῖν: πέφυκε δὲ ἡμῖν ἡ ὁδός (Physik I 1), ἡ μέϑοδος ἡμῖν περὶ φύσεώς ἐστι (Phys. II 1), mit Partizipien: πειρατέον λέγειν νομίζοντες (De coelo II 12), διελϑόντες ϑεωρήσομεν und ἀρξάμενοι λέγωμεν (Metaphys. I  1) und so auf jeder Seite aller Schriften, nie anders. Ich weiß wohl, daß pluralisches »wir« statt »ich« damals auch sonst in Aufnahme kam; Ansätze schon bei Homer, dann z. B. Euripides Medea 309 u. 602 (vgl. Matthiae zu Eur. Phoen. 615). So ist beiläufig auch gewiß bei Aristophanes Acharn. 136 der Plural οὐκ ἂν ἦμεν in gleichem Sinne zu halten; man korrigiert da umsonst. Dann zunächst vereinzelt bei den Historikern, Xenoph. Anab. I 7, 7 ἡμᾶς δεῖ κτλ; hernach z. B. bei Diodor so ständig. Gleichwohl kann bei Aristoteles diese Redeweise nur in dem oben im Text von mir angegebenen Sinn erklärt werden. Demokrit redet von sich geradweg noch im Singular τάδε λέγω περὶ τῶν ξυμπάντων (Sext. Empir. Mathem. 7, 265; Cicero Acad. II 73); denn er meint eben nur sich; Aristoteles dagegen redet überall zugleich von sich und seinen Schülern. Das wird erstlich durch solche Stellen noch besonders erhärtet wie Metaph. I 2: καὶ ταύτην τὴν δόξαν οὐ μόνον ἡμεῖς τυγχάνομεν ἔχοντες, φαίνεται δὲ ἀρχεία ὑπόληψις und gar so, daß πάντες hinzutritt, De respir. 3: ὧν ἔχομεν πάντες πεῖραν. Dazu die Ermahnung, Categor. 3: μὴ ταραττετω δε ἡμᾶς τὰ μέρη τῶν οὐσιῶν. Zweitens und vor allem wird dasselbe durch die einzige Ausnahme bewiesen, die der besprochene Usus erfährt. Diese Ausnahme ist das eine Verbum λέγω (stets ohne ἐγώ), was so im Singular, und zwar stets mit δέ verbunden überall da vorkommt, wo eine wichtige Definition eingeschaltet wird. Dies λέγω δέ steht z. B. περὶ μαντικῆς 1; De longit. et brevit. vitae 1; Categor. 3; De iuventute et senect. 1 und oft. Dies in solchem Fall zugefügte λέγω zeigt nun aber, daß der Autor bewußt und sorgfältig zwischen sich und dem »wir«, das oft dicht daneben steht, unterscheidet; denn sonst wäre nicht einzusehen, weshalb er nicht auch bei jenen Definitionen einmal λέγομεν δέ schreibt. Zugleich aber ist klar, daß dies λέγω δέ dafür, daß Aristoteles selbst die Redaktion der betr. Schriften ausführte, nicht etwa als Beweis verwendet werden kann. Denn das λέγω δέ findet sich ja ebenso auch in der Eudemischen Ethik I 4 u. 8, vor allem auch in den Magna Moralia I 1 u. 12. Auch die Schüler wahrten also, wenn sie die Redaktion besorgten, dieselbe Ausdrucksweise, und sie konnten und mußten es; denn sie setzten ja auch des Aristoteles Namen in den Titel der Schrift: Ἀριστοτέλους ἠϑικὰ Εὐδήμεια, »Aristoteles' Ethik, redigiert durch Eudemos«. Aristoteles selbst spricht also durch seine Schüler. Und daher drückt dann auch Theophrast sich nicht anders aus, hist. plant. I 2, 3 u. 4: ὥσπερ εἰρήκαμεν und ἕξομεν und daneben ebenda das λέγω δέ. Ja, auch Diodor wahrt dasselbe Verfahren; denn er schreibt III 38, 1: περὶ τοῦ καταλελειμμένου μέρους, λέγω δέ τοῦ Ἀραβίου κόλπου, ποιησόμεϑα τὴν ἀναγραφήν, ein deutliches Zeichen, daß auch er für Hörer schreibt; seine Bücher waren zum Vorlesen bestimmt. – Noch sei bemerkt, daß auch die unechte Aristotelesschrift De plantis den Plural wahrt; dagegen lesen wir in den pseudoaristotelischen Physiognomika nur singularisch c. 4 δοκεῖ δέ μοι und c. 5: πειράσομαι, woraus man ersieht, daß der Plural in den Lehrschriften keineswegs obligat, daß seine Durchführung also nur durch besondere Verhältnisse, bei Aristoteles durch den Schulbetrieb aufgenötigt war. Nachdem sich so sein Gebrauch in der Schulsprache der Peripatetiker festgesetzt hatte, ist er dann auch bald bei andersartigen Autoren mehr und mehr in Aufnahme gekommen.. Aber der Meister hat dabei die Führung. Nichts großartiger als die Einheitlichkeit des Geistes, die durch alles hindurchgeht, eine triumphierende Systematik, und so 289 empfindet schließlich, wer sich eingelesen hat, auch diesen Lehrstil als klassisch, da eben nur er angemessen der Sache dient. Wer eintreten will in diese Kreise, ziehe zuvor den Werktagskittel an; es geht nicht zum Genießen, sondern zur Arbeit. Schließlich wirkt aber auch diese Nüchternheit berauschend; jedes Buch schäumt gleichsam über von »wenn« und »aber«, »darum« und »also«, und man taumelt von Einsicht zu Einsicht.

Auf die Fachausdrücke, die durch alles hindurchgehen, kommt es an. Durch Definition werden sie allemal festgelegt, jeder schwankende Wortsinn streng verhütet. Kategorie und Syllogismus, Energie, Immanenzἐνυπάρχον und Entelechie, die Ausdrücke schwirren seitdem durch die Jahrhunderte, und des Aristoteles Logik legte damals den Schienenstrang fest, auf dem alles abstrakte Denken der Späteren weiterrollte.

Leider kann aber die strengste Logik in der Naturforschung die Beobachtung nicht ersetzen, und der Moderne lächelt erhaben über die fünf Elemente, aus deren Mischung das Altertum alle Substanzen entstehen läßt; er lächelt ebenso über das Weltbild, das damals Aristoteles, indem er den Plato berichtigt, entwirft. Kreisform und Kugelform galten als ideal; also ist – kurz gesagt – das All eine große Hohlkugel; das konnte nicht anders sein; der Himmel ist die Schale der Kugel, aber man sieht sie nur von innen. Die Erde aber – auch sie kugelförmig – steht oder hängt still und unbeweglich im Zentrum des Alls, und um sie dreht sich alles. Ihr Umfang beträgt 400 000 Stadien oder 74 000 KilometerIn Wirklichkeit beträgt der Umfang des Äquators nur 40 000 km.. Das ist die Welt, und es gibt nur diese eine. Jenseits der Himmelsschale ist das Nichts. Denn aller Raum ist Begrenztheit; jenseits der Grenzen kann also auch kein Raum mehr sein. Denn einen leeren Raum gibt es nicht.

Vergessen wir nicht, daß jene Zeiten noch keine chemischen Analysen kannten, auch nicht Fernrohr noch sonst Vergrößerungsgläser, nicht Barometer noch Thermometer, nicht einmal die Minuten- und Sekundenzählung auf den Uhren. Man konnte weder Luft noch Wasser chemisch spalten, hielt das flackernde Feuer für einen besonderen Grundstoff, konnte keine 290 Temperaturen messen, und dem Anatomen war Fleisch eben nur Fleisch, das alle Empfindungen aufnimmt, und Zellen wie Nerven blieben seinem Auge verborgen. Man war gewiß weiser als wir, die Erscheinungswelt aber betastete man noch wie das Kind mit den bloßen fünf Sinnen. Gleichwohl, wie reich und imposant ist des Aristoteles Schrift über das Himmelsgewölbe! Die Kette der Schlüsse, die dieser Mann zog, schien bindend und unzerreißbar für mehr als ein Jahrtausend, und die christliche Kirche nistete sich gläubig in das aristotelische Weltgebäude ein.

Die entsinnlichte Welt der platonischen Ideenlehre lehnte Aristoteles ab; es war nichts damit anzufangen. Ein grenzenloser Objektshunger kommt in ihm zum Siege (schon Plato selbst hatte ihn empfunden). Und ein unendliches Fragen beginnt, aber ein Fragen, das nie ohne Antwort bleibt. Was ist das Wirkliche? Das, was sinnfällig und greifbar ist. Gepriesen sei das Auge. Der Mensch ist nicht umsonst optisch veranlagt. Und was ist das Werden? die Entwicklung aus dem bloß Möglichen in das Wirkliche. Das Lebendige ist in der toten Materie prädisponiert. Und da stellt sich nun gleich das Unsichtbare, das Rätselwesen, die Seele ein. Denn in die tote Materie oder Substanz kommt durch sie die Bewegung; sie ist Beseelung. Die Selbstbewegung der Wesen wird nur durch ihre Beseelung bewirkt. Also ist die Seele selbst körperlos, aber sie ist Zweck des Körpers, und durch den Zweck wird der Körper gestaltet; die Seele gestaltet die Materie zum Lebewesen. Sie ist das Werdeprinzip.

Ein schaffender Gott fehlt. Die Natur tritt dafür ein. Die Natur macht alles zweckmäßig, tut nichts zwecklos, wennschon sie unbewußt wirkt wie der geniale KünstlerPhysik II 8 οὐδὲν μάτην; ebenso De respir. 4., und so wird der Zweck selbst zum Anlaß oder zur Ursache der Entwicklung der Gestaltungen im Pflanzen- und TierreichScherzhaft wirkt es oft zu sehen, wie Aristoteles sich über den Zweck den Kopf zerbricht; so wenn er fragt, warum die Zunge der Schlangen gespalten ist..

Die Seele aber stirbt mit ihrem Leibe, mit dem sie entstanden und dem sie immanent oder eingewachsen war. Ihr Zweck ist mit dem Gelebthaben erfüllt. Nur ein loser Teil von ihr, die 291 Vernunft, die dem Menschen allein eignet, überlebt das Ich; denn sie ist göttlich, aber sie ist ganz unpersönlich und verfließt ungreifbar und körperlos wie ein Gedankenstrich in das Irgendwo, nach dem jede Frage vergeblich ist.

Kaum taucht aber das Vernunftwesen, der Mensch auf, so faßt ihn schon der Philosoph mit beiden Händen, um ihm seine Ziele zu setzen.

Wozu lebt der Mensch? Zur FreudeFreude, ἡδονή. Man sollte das Wort nicht mit »Lust« übersetzen, nicht von einer Lustlehre, sondern Freudenlehre sprechen.. Gemeint ist die Freude nach der guten Tat, die Freude am Kunstwerk, die Freude des Erkennens. Denn der Mensch ist erstlich Mensch, er ist zweitens Bürger, drittens Künstler und viertens Denker.

Dreimal hat Aristoteles in Hinblick hierauf seine Ethik abfassen lassenSiehe oben S. 288 Anmerkung "Wer die Masse der Lehrschriften...".; dazu kam seine Lehre vom Staat; für den Denker schrieb er seine Logik; die Kunstlehre für den Künstler hat er nur zum Teil bewältigt.

Hochgeistig und zugleich als ein Mann der Weisheit, der nur das Praktische oder Ausführbare will, steht Aristoteles hier vor uns. Bezeichnend aber ist, daß er für seine Staatenlehre zuvor die Verfassungsgeschichte von zirka 158 griechischen Städten buchte oder buchen ließ (eine gewaltige historiographische Leistung) und für die Lehre von der Dichtkunst unter anderem aus dem Archiv zu Athen sämtliche Notizen über Theateraufführungen und die Siege der Theaterdichter sammeln und chronologisch ordnen ließ. So arbeitete er; rückschauend zog er als Empiriker durchgängig aus dem Gewesenen seine Lehren.

Auch seine Ethik hat nicht etwa den Ton des ErziehersRatschläge und Anweisungen in größerer Ausführlichkeit gibt Aristoteles in seiner Ethik eigentlich nur für die Schließung von Freundschaften; damit aber betritt er schon das Gebiet des Gemeinschaftslebens, der Vergeselligung der Menschen, die schließlich zum Gemeinde- und Staatsleben sich erweitert.; dazu ist sie zu wissenschaftlich. Von sittlichen Fortschritten der menschlichen Gesellschaft redet er hier nicht. Auch die Ethik ist vielmehr ein Buch der Beobachtung. Er klassifiziert nur unsere Tugenden und unsere ungünstigen Affekte, wie der Botaniker die Pflanzen sortiert, und stellt die verschiedenartigen Charaktere fest, aus denen allemal unweigerlich das Handeln fließt. Er sieht in uns nur Typen, die als solche bestehen bleiben. Für die Größe außerordentlicher Persönlichkeiten ist in dieser Schematik kein Raum, und das Auge verschließt sich vor dem Wunder 292 des Individuellen, das prominent über alles Typische hinausgeht. Dabei zieht Aristoteles auch schon die Physiognomik heran: wer gradgezogene Augenbrauen hat, ist sanftmütig, wer große Ohren hat, ist klatschhaftπερὶ ζῴων I 10.. Übrigens empfiehlt er in volkstümlicher Weise für alles Tun und Lassen die goldene MittelstraßeVgl. das μεσότητες ἄρισται Anthol. Pal. XI 102 und die aurea mediocritas bei Horaz, Ode II 10, gegen das μηδὲν ἄγαν oder ne quid nimis; A. Otto, Sprichwörter der Römer S. 216., die den alten Herren und allen schwunglos vorsichtigen Naturen eigen ist: sei tapfer, aber weder feige noch kühn usf. So findet er sich endlich auch in aller Gelassenheit mit den bestehenden Staatsverfassungen ab. Einen »besten« Staat kann er sich wohl denken; er legt ihn dar, aber er drängt ihn niemandem auf. Merkwürdig ist dabei, daß er mehr als alles das Tyrannentum in den Städten verwirft, während er doch persönlich gerade mit solchen sog. Tyrannen enge Freundschaft hielt.

Der Zweck des Staates aber ist nicht nur die Sicherung der Bürger und Steigerung ihres Wohllebens, sondern auch die Erziehung, d. i. die Hebung des Kulturstandes. Hier also regt sich in Aristoteles endlich der Pädagoge. Er begann schließlich auch Vorschriften über ein staatliches Unterrichtswesen zu geben. Leider entsank ihm dabei die Feder. Nichts wäre uns wertvoller gewesen für die Kenntnis des reifen Griechentums als eben dies. Schon dies hört man gern, daß er von den Knaben nicht nur das Musizieren forderte; sie sollten in der Schule auch zeichnen lernenDies hängt ohne Frage mit der Tätigkeit des Malers Pamphilos aus Amphipolis zusammen, der nach Plinius 35, 76 Mazedone von Herkunft, übrigens literarisch hochgebildet, damals veranlaßte, daß in Griechenland Zeichen- und Malunterricht wirklich obligatorisch wurde..

So weit die praktische Philosophie, die da vom Menschen handelt. Sie betrifft wohlgemerkt nur den Mann. An die Frauen wird nicht gedachtNur in seiner Politik I 12, wo es unumgänglich war, redet Aristoteles sorglich über eine würdige Stellung der Hausfrau. In seiner Naturlehre dagegen hören wir, daß bei der Zeugung das Weib nur die seelenlose Materie gibt, der Mann gibt Form und Seele; das Männliche ist dabei also der schaffende, das Weibliche nur der leidende Teil.. Freilich gab es auch damals schon eine Frauenfrage; warmherzige und weitsichtige Männer hatten sie aufgeworfenVgl. Ivo Bruns, Vorträge u. Aufsätze S. 154 über Frauenemanzipation in Athen., vor allem die Cyniker, und vielleicht erklärt sich daraus auch, wie ich schon früher sagte, Alexanders ritterliches Verhalten zu der Frauenwelt Asiens. Gleichwohl drangen ihre Forderungen nicht durch, und die Frauenfrage blieb im Altertum gleichsam ohne Antwort, da die Frauenwelt selbst nicht reif war, sich zu organisierenDie Römerinnen verstanden sich allerdings sehr wohl zu organisieren, aber nur zu politischen Zwecken; s. Aus dem Leben der Antike4 S. 9 u. 236.. Auch Jesus hat zu seinem Gedächtnismahl, zum Abendmahl, nur Männer geladen.

293 Leben und Seele: das All ist davon erfüllt, und nicht nur der Mensch hat sie. Die Fichten rauschen in den Bergen; die Saaten reifen; die Zikade singt; der Falke kreist. Auch das Tier lebt, auch die Pflanze hat Seele, durch die sie vegetiert, ihr Geschlecht wahrt und sich fortpflanzt. Der Mensch wandelt unter Millionen Lebewesen dahin, die anders als er sind und ihr inneres Gesetz wahren – welch wunderbare Fülle! –; er ist nur eine Gattung unter tausenden. Auch die ganze Botanik und Zoologie gehört zur Weltkunde des Aristoteles, zur Physiologie und Biologie des Weltalls, und es gibt für ihn nichts zu Kleines; von den Zähnen des Elefanten und der Mähne der Giraffe bis zum Schwamm und dem Einsiedlerkrebs am Meeresgrund: er sieht alles und beeifert sich, mit fabelhaftem Fleiß die unendlichen Varietäten zu sondern und in Gruppen zu zerlegen.

Halten wir uns nur an seine umfassenden zoologischen Schriften, die uns am schönsten die Schärfe der Naturbeobachtung jener Frühzeit zeigen und bis in die neueren Zeiten, bis zu Cuvier und weiter wegweisend geblieben sind.

Aristoteles benutzte dabei jedoch auch die voraufliegende Literatur; das ist nicht zu vergessen. Denn schon Demokrit, schon Antisthenes hatten Tierbücher geschriebenAuch Antisthenes behandelte den Stoff ohne Frage schon teleologisch mit Hervorhebung der Zweckmäßigkeit in allen Naturgebilden; von ihm ist augenscheinlich das betreffende Kapitel in Xenophons Memorabilien I 4 abhängig; vgl. mein Programm De Xenophontis commentariorum Socraticorum compositione (1893) S. IX und Joh. Dahmen, Quaestiones Xenophonteae et Antistheneae, Marburg 1907, S. 48 ff.. Auch an des Aristophanes munteres Lustspiel »die Vögel« sei erinnert; wie fein werden da schon Rabe und Nachtigall, Eule und Kropfgans und Wiedehopf charakterisiert, die Feldflieger, Raubvögel, Sumpf- und Seevögel unterschieden und zum Teil von maskierten Schauspielern dargestellt! Vor allem hat auch Plato in seinem Forschungsinstitut, der Akademie, mit seinen Schülern botanische und zoologische Studien betrieben, die sich bis zur Laus herabließen und in Athen so stadtbekannt waren, daß die Komiker den Plato mit seinen Genossen zur Ergötzung des Publikums in dieser Beschäftigung auf die Bühne brachtenSiehe Epikrates Frg. 11 (Bd. II S. 287 ed. Kock); es handelt sich da um den βίος ζῴων und die φύσις δένδρων; vgl. auch Alexis Frg. 1. Daraus erkläre ich das sprichwörtliche Πλάτωνος φϑεῖρες »die Läuse des Plato«, das uns die Parömiographen überliefern. Plato, der Mann der Erhabenheit, gab sich auch mit Untersuchungen über die Laus ab. Der Parasit kam also durch ihn zu Ehren und wurde nach ihm benannt. Dies fehlt leider in »Aus dem Leben der Antike«4 S. 90.; zu diesen Genossen aber gehörte damals auch Aristoteles.

Erst Aristoteles aber hat diese Studien abgeschlossen und das Ergebnis in monumentalen Büchern niedergelegt. Was er gibt, ist nicht etwa eine Beschreibung sämtlicher Tiere, wie 294 unser Brehm sie gibt; darin versuchten sich damals andere, wovon uns bei Plinius ein Auszug vorliegtPlinius benutzt des Aristoteles Tierbücher z. T. wörtlich, aber in ganz anderer Anordnung des Stoffes, indem er diesen eben nach den Tieren selbst gruppiert. Dies erklärt sich, wie ich De Halieuticis S. 134 ff. dargelegt habe, daraus, daß er den Aristoteles nicht direkt, sondern indirekt in der lateinischen Bearbeitung des Pompejus Trogus benutzte; schon dieser hatte mutmaßlich die bei uns seit Gesner üblich gewordene Anordnung eingeführt; schwerlich aber als erster; vielleicht gingen ihm darin schon Alexandriner, vielleicht auch schon Demokrit und Antisthenes voran.. Er behandelt den Stoff, den er schon als leidlich bekannt voraussetzte, vielmehr vom höheren, wissenschaftlichen Gesichtspunkt, indem er in das Chaos des Vielerlei greifend, im Mannigfaltigen das Gemeinsame sucht, die Gattungen und Arten als solche an ihren Merkmalen feststellt und für jeden Typus, für jede Gattung und Art Beispiele beibringt, wobei es auf Vollständigkeit der Aufzählung der Tiere nicht ankommt. Das Ganze gründet sich auf Anatomie, auf Sezierung der Tiere, wonach Aristoteles auch ein »Anatomien« betiteltes Werk, das mit Zeichnungen versehen war, herstellen ließSiehe Tiergeschichte I 17 fin. Auch in seiner Tiergeschichte selbst befanden sich Zeichnungen; s. V 18, 5; auch in seinen Mechanica problemata. Über solche illustrierte Bücher vgl. »Die Buchrolle in der Kunst« S. 284 f.. Auf alle Fälle kann man, was er da seiner Zeit dargeboten hat, nicht genug bewundern. Man nannte ihn mit Recht den Geheimschreiber der Natur, der seine Feder in das Denken tauchtSiehe Suidas sub Ἀριστοτέλης.. Keiner aber war wohl so gespannt auf dies Werk als sein Schüler und König Alexander.

Hier also sehen wir die Tierwelt zum erstenmal eingeteilt in Wirbeltiere und WirbelloseEr nennt sie freilich nicht so, sondern blutführende und blutlose Tiere; aber er weiß, daß die ersteren die Wirbelsäule ἅχις haben, die letzteren nicht; s. III 22., die Wirbeltiere in Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien. Dabei weiß er, daß das größte Wassertier, der Wal, kein Fisch, daß die Fledermaus kein Vogel, daß beide Säugetiere sind. Die Fische, die Kiemen haben, haben keine Lunge. Dann kommen die Weichtiere, die Krustentiere, die Insekten, endlich die Übergänge zum Pflanzenreich. Aber nicht nur nach Bau und Gestalt wird gruppiert; welche Tiere sind Fleischfresser? er nennt sie; welche Tiere wandern? welche leben herdenweis, welche einsam? welche halten Winterschlaf? Die einen saufen Wasser durch Lecken wie die Wildkatzen, andere durch Schlürfen wie der Gaul (VIII 6, 1). Die Zahl der Füße kommt in Betracht und ihre Form, ob Hufen, ob Krallen. Der Schnabel ersetzt dem Vogel Lippen, Zähne und Nase; aber er hat auch keine Wimpern. Wie atmet die Ziege? Töricht sind die Hirten, die glauben, daß sie durch ihre Ohren atmet (I 10). Die Krabben sehen nur seitwärts (IV 3).Furchtbar ist die Armkraft des Kraken oder Polypen, der den Kopf 295 zwischen den Beinen hat (IV 1). Die Kuh brüllt tiefer im Tonklang als der Ochse (IV 11, 7). Die Hühner wälzen sich im Sand, um die Läuse loszuwerden (V 31, 2). Auch die Fische aber haben Läuse; dies sind die Schmarotzerkrebse.

Dabei bieten sich Probleme in Fülle: wie pflanzt sich der Aal fort und die Biene, die Spinne (IV 11; V 21 und 27)? Können die Fische auch riechen und hören? Dies gibt Anlaß, den Fischfang zu besprechen, der durch Locken geschieht (IV 8). Die Turteltaube lebt monogam (IX 7, 3). Vom Geier aber glaubte das Volk, er brüte gar nicht, ja, es gäbe nur Geierweibchen, die, wenn sie sich befruchten, bloß gegen den Wind anfliegen; Aristoteles dagegen weiß und betont, daß auch der Geier, dessen Horst so unzugänglich, normal sich fortpflanzt (VI 5, 1 u. IX 11). Wie seltsam aber, daß der Hase auf Ithaka nicht gedeiht, der Insel des Odysseus! Nicht jedes Land ist jedem Tier genehm (VIII 28)! Seltsam auch, daß alle Kerbtiere sterben, wenn man sie mit Öl bestreicht – und so geht es ins Unendliche. Auch falsche Beobachtungen fehlen nicht, wie daß die Zikade, das Sommertier, nur vom Morgentau lebt (IV 7, 7).

Mitten zwischen dem allen steht endlich auch das Körperleben des Zweihänders, des Menschen, in Ausführlichkeit. Da hören wir u. a. auch, daß beim Mann sich die Glatze einstellt, wenn er zu liebreich gelebt hat; ja, schließlich verliert solcher Mensch auch noch die Wimpern (III 11, 6). Und auch von Vererbung redet Aristoteles schon; auch die Blindheit kann in Familien erblich sein (VII 6, 4). Man hatte berichtet, daß es unter den Negern in Zentralafrika ein Zwergvolk gebe, das man die Pygmäen nannte. Die klugen Leute riefen damals und auch noch in unserem 19. Jahrhundert: das ist Fabel; Aristoteles aber beteuert, dem sei wirklich so (VIII 12, 2), und in der Tat hat unser Afrikadurchquerer Schweinfurth das Zwergvolk dort wirklich wieder angetroffen und festgestellt.

Bei alledem ist nun aber die Kenntnis der inneren Teile des Menschen in dieser Naturlehre noch allzudürftig; das lag daran, daß es noch keine Anatomie des Menschen gab; selbst 296 Sklavenleichname sezierte der Grieche nicht, aus Scheu vor der Seele des Toten. Zwischen Venen und Arterien unterscheidet daher Aristoteles noch nicht, weiß auch von Nerven nichts; kaum daß er die Muskeln erwähntDas antike Wort »Nerv«, lat. nervus, griechisch νεῦρον, bedeutet Muskel, keineswegs das, was wir heut darunter verstehen. Das Sprichwort, das Geld sei der nervus rerum (νεῦρα πραγμάτων), das von Bion stammt, bedeutet demnach: das Geld ist der Muskel aller Dinge.. Das Fleisch als solches genügt ihm als Träger aller Tastwahrnehmungen und zur Übertragung des Antriebs zur Körperbewegung, der angeblich vom Herzen ausgehtVgl. Jürgen Bona Meyer, »Aristoteles' Tierkunde« S. 425 u. 441. So hielt Aristoteles die Galle für einen nutzlosen Auswurfsstoff..

Alexander der Große hat diese Arbeiten seines Lehrers nie kennen gelernt. Er starb und Aristoteles starb in kurzer Zeit ihm nach, und die großen Sammlungen asiatischer Fauna in Menagerien und Aquarien, die Alexander für ihn schuf, blieben unbenutzt. Ganz vereinzelt nur redet Aristoteles einmal von einer Antilopenart aus Belutschistan oder erwähnt, um die beängstigende Fruchtbarkeit der Ratten und Mäuse zu belegen, in Persien gebe es einen Landstrich, wo diese Tiere schon trächtig zur Welt kommenAntilopen, ἱππέλαφοι in Acharosien, hist an. II, 2, 4. Über die Mäuse VI 37, 3; man verstand auch die Ratten mit darunter. Übrigens redet Aristoteles gel. noch vom baktrischen Kamel II 1, 8 u. II 2, 5. Genau kennt er den Elefanten und die Elefantenjagd; da kam die Kenntnis des afrikanischen Elefanten zu Hilfe. Für Dinge Ostasiens waren Herodot und Ktesias seine Quelle; letzteren zitiert er für Indien II 2, 10.. So kam es, daß die Erweiterung des Welthorizonts damals der Zoologie wenig nützte, und nur versprengte Notizen gingen um, die von dem Gefolge Alexanders ausgingen und von der späteren Literatur kritiklos aufgenommen wurden. Die Seeschlange taucht auf; immer nahe der Küste treibt sie sich heute noch im Indischen Ozean um. Nearch sah sie da; aber er überschätzte ihre Länge bis zu zwanzig EllenPlinius 6, 98: die Seeschlange sei 20 Ellen lang; das wären 9 Meter; in Wirklichkeit sind die Tiere 4 oder 5 Fuß lang.; die Größe eines gestrandeten Walfischs gab er dagegen richtig anNearch Fr. 31 M. gibt 50 Ellen = 23 Meter an; 20 Meter wären richtiger gewesen.. Klug wurde bemerkt, daß die Tiere ihre Färbung oft dem Lande angleichen, in dem sie lebenOnesikritos Frg. 17 M.. Das waren, wie gesagt, versprengte Notizen, und so ist die Zoologie nie wesentlich über Aristoteles hinausgekommen, ja, schließlich ganz verwahrlost. Daß man die Paviane für Satyrn hielt, ist noch das GelindesteDie indischen großen Affen nahm man für Satyrn, die die indische Sprache verstehen, aber schrecklichen Schaden anstiften. Um sie zu fangen, stellte man ihnen Schuhzeug hin; die Affen, die alles nachäffen, wollen die Stiefel anziehen wie die Menschen; aber es sind Schlingen daran, in die sie geraten. Dazu die Riesenschlangen oder Drachen. Der Elefant hat angeblich kaltes Blut, der Drache dagegen glüht; von der Kälte angelockt überfällt der Drache den Elefanten und siegt allemal in dem Kampf. Übrigens galt das Blut des Elefanten für gut gegen Rheumatismus; Kopfweh geht weg, wenn man seinen Rüssel berührt. Wer unter schwacher Verdauung leidet, muß den getrockneten Magen des Lämmergeiers in Wasser trinken usf. Derartiges liest man bei Plinius und Diodor; s. H. O. Lenz, Zoologie der Griechen und Römer S. 12; 27; 73; 77; 79; 177.. Wie anders die Botanik!

Wie war des Aristoteles Ende? Sein Lyzeum kann als der erste Versuch einer Staatsschule oder vom Staat fundierten Universität in der Weltgeschichte gelten; denn Alexander sicherte sie als Staatsoberhaupt durch Zuwendung großer Summen800 Talente = 4 Millionen Goldmark; s. Athenäus p. 398 E.; Aelian Var. hist. 4, 19.. Der Betrieb verlief offenbar so, daß da gelegentlich auch mehrere Werke gleichzeitig und nebeneinander literarische Form gewannen, 297 und welches des Aristoteles letztes Werk war, ist daher schwer zu ermitteln. Er selbst aber hatte sich in den Schlußjahren nebenher den Fragen der praktischen Politik, wenn nicht gar der politischen Agitation zugewandtAugenscheinlich veranlaßten ihn dazu die Verfügungen Alexanders im Jahre 324, die alle griechischen Kleinstaaten in Aufregung brachten. Hierher gehört des Aristoteles Ausspruch, den uns Philodem erhalten hat: »Wer einen Staat zu leiten in der Lage ist, muß stets eifrig und wie im Eilschritt zu handeln bereit sein« (ὁρμῆσαι δεῖν πρὸς τὰς πράξεις μὲν ϑέοντα τὸν πόλιν διοικεῖσϑαι δυνάμενον). Vgl. Rhein. Mus. 48 S. 557.. In welcher Tendenz? Sicher nicht antimazedonisch. Vielmehr war der Phalereer Demetrius sein Schüler, der hernach Athen als Tyrann im Sold Mazedoniens eine Zeit lang beherrscht hat. Übrigens trat Aristoteles, wo er sich zeigte, wie in der Jugendzeit im Äußern immer noch als vornehmer Herr auf, ein Mann der Eleganz und Selbstpflege, zugleich aber ein Mann der scharfen Zunge. Ich denke dabei an seinen Jugendfreund Xenokrates. Denn neben der peripatetischen Schule bestand noch immer die Platoschule unter dieses Xenokrates Leitung. Dieser hatte die Geldunterstützung, die Alexander für wissenschaftliche Zwecke ihm anbot, abgelehnt; ihm waren offenbar die Verpflichtungen unbequem, die daraus entstanden. Aristoteles witzelte nun gegen ihn. Ein schnöder und ganz unanständiger Witz ist uns aufbewahrt, mit dem Aristoteles ihn verhöhnteWer Griechisch versteht, für den sei der Wortlaut mitgeteilt: Ἀριστοτέλης Ξενοκράτην... σκώπτων ὅτι οὐρῶν οὐ προσῆγε τὴν χεῖρα τῷ αἰδοίῳ ἔλεγεν· χεῖρες μὲν ἁγναι, φρήν δ᾽ ἔχει μίασμά τι (Athenäus p. 530 D).. Daß der andere sich rächte, hören wir nicht. So hat er sich gewiß manchen Feind erworben. Ein Gelehrter, der wie Plato sich fragend und suchend an andere wendet, gewinnt sich leicht viele Herzen. Wer dagegen dozierend auf alles und jedes die Antwort selbst bereit hat und in Selbstgewißheit gepanzert nie das Gefühl hat sich zu irren, kann, wie wir wissen, oft recht unliebsam auf seine Umgebung wirken. Die Grazie fehlte dem Aristoteles und die Ironie, die sich selbst verkleinert. Er neigte zum Sarkasmus.

Da starb Alexander. Sofort erhob sich Athen zum Freiheitskampf gegen Mazedonien, und der allgemeine Haß, die Wut richtete sich gegen den großen Forscher, den Griechen Aristoteles, der sich von Mazedonien hatte kaufen lassen. Auf Atheismus wurde er verklagt. Das lag nahe; denn in seiner Philosophie hatten tatsächlich die Staatsgötter, an die das Volk glaubte, nicht Raum. Auf Atheismus stand der Tod. Eilends floh er. Seine Landkarten und Naturaliensammlung, seine große Bücherei konnte er nicht mitnehmen; auch seine Schüler und Mitarbeiter 298 ließen ihn allein abziehen. Er wollte zum Statthalter Antipater nach Pella, getraute sich indes noch nicht dorthin und wartete auf der Insel Euböa ab, wie sich die Frage nach der Thronfolge in Mazedonien entschieden haben würdeDiese Motive lege ich unter; anders kann ich des Aristoteles Verhalten nicht verstehen.. Da erkrankte er und starb, 63 Jahre alt. Er konnte die Aufregung nicht vertragen. Die Gelehrsamkeit liegt den Büchermenschen wie Blei in den Gliedern. Nach einem Leben ungetrübten Glücks und stolzer Erfolge, nach zwölf Schlußjahren körperlich wohligster Ruhe und geistiger Hingabe an das, was ihm das Höchste schien, jählings in Angst und Hetze geworfen – der Kontrast war zu groß. Kongestionen kamen, seine Ernährung litt, und der Körper versagte. Es scheint nicht, daß ihm seine Freunde sehr nachtrauerten. Wir hören nichts davonEs ist z. B. auffallend, daß Theophrast den Aristoteles nie nennt. Es lag für ihn doch in seinen botanischen Werken nahe, dies zu tun, da Vorarbeiten des Aristoteles auf diesem Gebiet sicher vorlagen. Theophrast zitiert statt dessen als Autoritäten nur Androtion, Hippon, Kleidemus, auch Anaxagoras. Warum bringt er nirgends Bemerkungen seines Meisters, den er doch sicher benutzte? In der Pflanzengeschichte II 8 bringt er dasselbe, was Aristoteles hist. an. V 26 vorträgt; aber er nennt ihn auch da nicht.. Wie anders die Bezeigungen der Ehrfurcht und abgöttischer Verehrung, die dem gestorbenen Plato galtenDaß Alexander den Aristoteles bei Lebzeiten in Athen mit einer Statue zu ehren befahl, kommt nicht in Betracht.! Erst als Aristoteles als Mensch vergessen war, wuchs der Forscher und Weltweise für die Menschheit ins unantastbar Große und Erhabene empor.

Philosophenmosaik

Philosophenmosaik

Versammlung von sieben Philosophen. Mosaik aus der Gegend von Pompeji im Nationalmuseum zu Neapel. Im Hintergrund links stehen auf zwei Pfeilern einige eherne Gefäße, daneben ein Baum, rechts von diesem eine Sonnenuhr, ganz rechts im Hintergrund ein umwallter Hügel. Römische Arbeit nach einem hellenistischen Gemälde. Nach Photographie.

Das Unglück will, daß wir von ihm kein zuverlässiges Porträt besitzen. Und doch! Auf dem berühmten Mosaik aus Herkulanum glaube ich ihn zu erkennen, jenem Bildwerk, das eine Konferenz von Gelehrten, eine Versammlung von Philosophen, genauer doch wohl eine Sitzung der Akademie darstellt; Plato selbst, der hochbetagte, mitten darunterSo H. Diels, Antike Technik² S. 161.. Eine hochgestreckte Gestalt, durch sorglich zugeschnittenen Bart ausgezeichnet, dem Alter nach etwa vierzigjährig, verläßt da mit Protest die Versammlung; der Gesichtsausdruck überlegen energisch und kampfbereit. Das ist er, das ist Aristoteles. Das Bild soll uns sagen: sein Austritt aus der Akademie steht nahe bevorIn meinem Buch »Die Buchrolle in der Kunst« S. 102 ff. und 250 habe ich dies Philosophenmosaik genauer besprochen, ohne jedoch die richtigen Namen zu finden; dort ist dargelegt, daß die Eckfigur links als lesend Vortragender zu verstehen ist; die offene Buchrolle zwischen seinen Händen ist nicht mit dargestellt; die Eckfigur rechts, die ausschreitend die Versammlung verläßt, blickt auf den Vortragenden zurück. Zwischen diesen beiden spielt also die Handlung; das ist deutlich. Der Lesende ist vielleicht Xenakrates; der andere sicher Aristoteles. Bilder des Aristoteles in Gips setzt übrigens Juvenal II 6 voraus; sie stehen da zusammen mit solchen des Chrysipp und Kleanthes..

Jedenfalls irrt, wer Porträtstatuen oder Büsten mit ausrasiertem Gesicht für Porträts des Aristoteles hält. Der selbständige Mann hat sich der neuen Mode, die Alexander zunächst nur für sein Militär aufbrachte, sicher nicht unterworfen. 299

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