Otto Julius Bierbaum
Yankeedoodle-Fahrt (1)
Otto Julius Bierbaum

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XXIII.

Evviva Italia! Povera Messina! Felice Palermo! Und Glanz und Farbe und Leichen.

Evviva Italia. Am 29. März kamen wir beim herrlichsten, sonnigsten Wetter vor Messina an. Nicht bloß meine Frau fühlte sich zu Hause, als wir italienische Boden betraten. Wir emanzipierten uns von den Veranstaltungen des Reisebüros, gaben selbst Taormina auf und nützten die zwölf Stunden des Aufenthaltes auf eigene Faust aus. Es war sehr schön.

Wir fuhren zum Leuchtturm, immer entlang dem schönen Meere, gegenüber die Küste Kalabriens. Links hatten wir die winzigem Häuser der Popolanen, die scheinbar nur aus einem Zimmer bestehen. Die große Tür ist immer offen, und man kann, wenn es die Gelegenheit will, mit ansehen, wie im Hintergrunde auf einem großen Bette eine Frau entbunden wird, oder jemand stirbt, oder wie sich die Leute zanken oder herzen, oder wie eine Mutter das Knäblein laust, oder wie das Knäblein bei der Mutter trinkt: und, kurz, man kann ungefähr alles Menschliche sehen. Dazu gehört viel Dreck; das ist gewißlich wahr. Aber die Sonne vergoldet ihn. Also: va bene. – Man kommt an Kirchen vorbei, denen man es noch ansieht, daß sie einmal Tempel waren, und man kommt an Villen vorbei, denen man es nicht mehr ansieht, was für schöne Villen die Alten gebaut haben. (Oh Toskana! Wie dachten wir an deine Landhäuser!) Groß ist überall die Üppigkeit; Gärten und Felder wogten grün. Vom Leuchtturm sahen wir weit, weit ins Kalabrische hinein. Ein bißchen wild sieht's aus.

Messina selber zeigte sich vorn als schöne Kulisse, im Inneren der Stadt aber weniger stattlich. Doch ergriff uns die etwas verwahrloste Schönheit der alten Kathedrale, und es war hübsch, die alten Gassen hinanzusteigen, Bild auf Bild im Engen und Weiten gewinnend. Ein paar nette junge Mädchen begleiteten uns mit munterem Schwatzen. Auch Ziegen spazierten mit, ihre vollen Euter bis in die obersten Stockwerke der Häuser tragend.

Als, ein Jahr später, das alles in Trümmer gefallen war, mußten wir zuerst an unsere kleinen Mädchen und die Ziegen denken; dann an die Kathedrale; und dann sahen wir auf einer Photographie die Straße am Meere, wo wir an den kleinen offenen Häusern vorbeigefahren waren. Die waren wie weggeschluckt. Und wir dachten (das ist nicht sehr großartig, aber menschlich): wie, wenn der Ruck damals gekommen wäre? – Nun, wer weiß, welcher auf uns wartet. Schließlich ist unser ganzes Dasein ein Herzbeben, und es gibt dabei Erschütterungen, von denen niemand nichts weiß außer dem, der sie erfährt; und doch werfen sie oft alles grausamst durcheinander, was wir mit Liebe und Mühe errichtet und in eine Art Harmonie gebracht haben. Wohl dem, der stäte ist!

*

Palermo ist sehr viel schöner, als Messina war.

Zwischen dem Monte Pellegrino und dem Meer breitet sich »La Felice« üppig hin in der »goldenen Muschel«, von nichts als Schönheit und Fülle umgeben: ein wonnevoller Ort. Rom ist noch immer wie eine Königin aus alter majestätischer Zeit; Florenz, strenger und doch feiner, ist wie eine nobil' donna aus den Tagen des Freistaates; Palermo kommt mir vor wie eine große Cortegiana gleich jenen Schwestern Ahala und Ahaliba des Hesekiel, die gegen die Fremdlinge entbrannten vor Lust. Erst trieb sie es mit den Phönikern, dann mit den Karthagern, dann mit den Römern; so lernte sie die Liebe Asiens, Afrikas, Europas kennen und bereitete sich vor, in ihrem Schoße Goten, Byzantiner, Sarazenen, Normannen zu empfangen, bis sie deutsche Hohenstaufenkaiser zu Buhlen bekam, die es ingrimmig gut mit ihr meinten und an ihrer Liebe zugrunde gingen. Dagegen ließ sie sich die Zärtlichkeiten der Franzosen nicht gefallen, sondern läutete ihnen eine Vesper ein, während der die »goldene Muschel« rot von Franzosenblut wurde. Drauf lag sie lange im Arm von Arragon und Spanien, und erst nach einem nicht immer ganz zärtlichen Verhältnis mit den Bourbonen wurde sie moralisch und italiänisch. Wahrlich, diese schöne Dame hat eine Vergangenheit. Aber ihre Schönheit hat nicht darunter gelitten.

Wir suchten von dieser zu erhaschen, was sich in zwölf Stunden erhaschen läßt. Wir standen im gedämpften Goldlichte der palatinischen Kapelle des königlichen Palastes, den noch die Sarazenen angelegt haben, und ich dachte mir: so etwas schwebte dem bayerischen Könige vor, als er die Residenzkapelle in München erbauen ließ. Aber die Münchener Kapelle (die doch gewiß schön ist) verhält sich zu der von Palermo wie eine mit Goldpapier ausgeschlagene Pappschachtel zu einer alten byzantinischen Schatulle aus Goldbronze. Hier ist gleichsam wohnliche Pracht für einen Gott, der sich auf sein Altenteil zurückgezogen hat, und bei dem es, soweit das einem Gotte möglich ist, gemütlich zugeht, obwohl, versteht sich, das Dekorum streng gewahrt wird. Wer hier das Beten nicht lernt, lernt's nie. – Wir spazierten auch durch die Räume des königlichen Schlosses. Sie sind schön. Aber schöner noch ist die Aussicht, die man durch die Fenster genießt. (Bei dieser Gelegenheit: Der König von Italien ist als Schloßbesitzer wirklich zu beneiden. Alle die prachtvollen Paläste und Villen, die die früheren Beherrscher der verschiedenen italiänischen Länder errichtet haben, gehören jetzt ihm. Oder darf er sie nur bewohnen? Gehören sie als monumenti nazionali dem Staate? Das wäre den praktischen Italiänern wohl zuzutrauen, und ich bin sehr geneigt, anzunehmen, daß es so und nicht anders ist. Denn es entspräche dem Geiste der italiänischen Verfassung, die zwar eine erbliche Monarchie konstituiert hat, aber auf sehr demokratischer Grundlage. Indessen wäre der Rè darum nicht weniger zu beneiden um seine herrlichen Absteigquartiere. Ich habe von denen den Palazzo Pitti, das Schloß Strà, die Medici Villa in Poggio a Caiano und nun also auch den Palazzo reale in Palermo gesehen. Überall fällt angenehm auf, daß das Alte gewahrt bleibt und nur die wenigen Gemächer, die dem persönlichen Gebrauche des Herrschers dienen nach seinem Geschmacke ausgestattet sind.) – Wir waren im Giardino publico, wir waren im Garten der Villa Tasca. Wir waren auch in der alten, moscheeartig überkuppelten Kapelle, von deren Turm das erste Zeichen zur sizilianischen Vesper geläutet worden ist. Diese Kapelle hat einen kleinen, ganz kleinen Garten, der mir noch besser gefiel, als der Giardino publico und der von der Villa Tasca. Ich liebe diese winzigen Gärtchen mit Stufen, Terrassen, Mauern, Hecken, Winkeln, Rondells, die ganz auf Kunst reduzierte Natur sind.

Zwei Besuche aber waren Erlebnisse: der von Monreale und der der Katakomben der Kapuziner.

Wie ich in Fiesole wohne, wenn ich nach Florenz ziehe, so würde ich nach Palermo nur zu dem Zwecke ziehen, in Monreale zu wohnen. Denn, wie man Florenz erst dann richtig sieht, wenn man in Fiesole wohnt, so sieht Palermo nur der richtig, der eine Wohnung in Monreale hat. Diese kleine Stadt liegt etwa 300 Meter über ihrer großen Nachbarin. Soll ich ihre Aussicht beschreiben? Ich begnüge mich, zu zitieren: »Weit. hoch, herrlich der Blick.« Denn ich könnte nur Worte machen, deren ich mich vor jedem schämen müßte, der diesen Überschwang des Schauens genossen hat, – zuerst also vor mir selber. Es ist in begnadeten Momenten möglich, überwältigend große Eindrücke des Auges dichterisch gleichsam visionär noch einmal zu haben: in Worten, die man nicht sucht, sondern die, ungerufen, dem inneren Blicke auf ihre Weise nochmals zutragen, was der äußere einmal in der Seele niedergelegt hat. Aber diese Gnade wird von der Lust eines schöpferischen Momentes geboren, der sich nicht bewußter Erinnerung verdankt, sondern poetischer Erregung, die in freier Gestaltung am Werke ist. Das ergibt dann keine Beschreibung irgend einer Wirklichkeit, sondern eben eine Vision, ein seelisches Nachgesicht, das verschiedene dem Auge einmal gewordene Wonnen zu einem neuen Bilde verdichtet. Gott steh mir bei, daß ich auf diese Weise Palermo, die goldene Muschel und das Meer einmal wieder sehe vom Monreale meiner Seele aus. Das Bild, das ich jetzt in Worten malen könnte, wäre purer Dilettantismus, und wenn ich gleich das ganze (nicht sehr reiche) Lexikon der preziösen Lyrikülen dafür plünderte.

Auch drängt sich ein anderes nicht minder mächtig in meine Erinnerung: das Bild des Normannendoms von Monreale. Hier genoß mein Auge wieder einmal das Schauspiel von Glanz und Farbe, wie es vom Mosaik gespendet wird.

Mit dem Mosaik hat das Christentum Farbe und Glanz erhalten: seine Farbe, seinen Glanz. Denn die antiken Mosaiken, von denen wir freilich nur wenig Reste besitzen, sprechen eine ganz andre Sprache, als die christlichen, und sie hat nicht entfernt die Eindruckskraft, mit der diese zu uns reden. Die antiken Mosaiken haben Grazie, haben Eleganz: die christlichen haben Majestät, Inbrunst, Tiefe. Kein Dichter, kein Heiliger, kein Prophet hat die Macht und Herrlichkeit des Kirche gewordenen Evangeliums so verkündet, wie es die Mosaiken tun: diese Hunderttausende von bunten, glänzenden Steinchen, die sich, goldumrändert, zu Bildern zusammenfügen, wie von einer Hand erschaffen. Es ist wie der Dank der Sklaven an ihren Heiland. Stellt man im Geiste einen hellenischen Tempel vor sich auf, der marmorn in der Sonne leuchtet, hell bemalt und vergoldet, überall dem Lichte Zugang gewährend, nackte Götter von edelster, einfachster Schönheit zwischen Säulen, die aufstrebende, ruhig tragende Kraft versinnbildlichen und gleichsam blühend bekrönt sind mit Ornamenten, die der Schönheit der Pflanze huldigen: alles eine große, einfache Einheit, aber graziös und geistreich gegliedert: und denkt man sich daneben etwa die Rotunde von Ravenna, die zwar noch die Form des alten Tempels hat, aber gleichsam eingepackt, versteckt, bemäntelt; die das Licht nur als Dämmer duldet, die Farbe nur als dunkle Glut: aber ringsherum mit dieser dunkelglühenden Farbe glänzend überkrustet ist in einer unerhörten mystischen Pracht und Märchenbuntheit: so mag diese christliche Kirche etwas Barbarisches haben, aber es ist sublimierte Barbarei, die den Willen und die Kraft hat, den übermütigen, hochmütigen, kaltmütigen Geist zu verschatten, der sich dort edel und nackt in der Sonne brüstet. Man kann auch sagen: hier Gefühl, dort Leidenschaft, oder: hier Lyrik, dort Dramatik.

Dennoch ist die musivische Kunst ein Erbteil der Antike, und nur die altchristlichen Mosaiken, die mit der antiken Tradition noch zusammenhängen, haben die ganze Größe der Linie, die volle Wucht der Beredsamkeit, die echte Tiefe, den klaren Glanz der Farbe.

Schon die Mosaiken von Monreale sind Epigonenkunst. Es fehlt ihnen die seelische Unmittelbarkeit und der urvolkstümliche Stil derer von Ravenna, in denen Byzanz leuchtet. Und doch war es Wonne und Wollust, in ihrem Glanze zu stehen. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, so wog bei ihnen ein bräunliches Violett vor, während ich von den Mosaiken Ravennas besonders ein tiefes Blau in der Erinnerung habe.

*

Indem wir von Monreale zurückfuhren, sagte ich zu meiner Frau: »Und nun, meine Liebe, erwartest du mich in einer Konditorei. Ich habe einen Besuch zu machen.«

»Ohne mich?« fragte sie mißbilligend.

»Jawohl, ohne dich. Es handelt sich um einen Ort, der sich für dich nicht schickt.«

»Erlaube mal!!«

»Du bist nicht vorurteilsfrei genug dazu.«

»Das scheint mir ja ein recht sauberer Ort zu sein.«

»Sauber oder nicht: du paßt nicht dorthin. Ich gehe allein. Aber ich werde dir alles erzählen.«

»Du und erzählen? Ich kenne dich. Nichts wirst du erzählen.«

Sie war ärgerlich. Ich suchte zu begütigen.

»Es geschieht aus Rücksicht auf deine Nerven, daß ich dich nicht mitnehme.«

»Seit wann sind meine Nerven nicht vorurteilsfrei?«

»Deine Nerven haben das Vorurteil, daß Leichen Persönlichkeiten sind, die nachts an dein Bett treten.«

»Du willst also Leichen besuchen?«

»Was dachtest du denn?«

Sie ging natürlich erst recht mit.

Und gruselt sich noch heute, wenn sie an die Katakomben der Kapuziner von Palermo denkt.

Aber, sagt sie, um alles in der Welt möchte ich das nicht versäumt haben. Denn (lassen wir sie erzählen!) –:

»Denke dir! Kaum waren wir mit dem Pater die Treppe heruntergegangen, so befanden wir uns zwischen hunderten und hunderten von mumifizierten Leichen. Agnes! Ich schob mich sofort zwischen Giulio und den Kapuziner. Und wagte kaum mich umzugucken. Habe aber doch alles gesehen. Alles! Ah, diese stillen Gestalten! Vielleicht hätten sie dir keinen Eindruck gemacht. Aber mir! Zum Glück gab es welche, die komisch aussahen. Das heißt: gerade die waren manchmal besonders zum Fürchten. Einer grinste mich direkt schamlos an, wie manche Signori auf der Straße, und verfolgte mich mit seinem frechen Grinsen. Das war gewiß ein alter Sünder. Was aber mag der alte Canonico mit seiner Zunge gesündigt haben, der an einer Ecke hängt, das beretto noch auf dem Kopfe, und der Führer zeigt allen Leuten, daß in diesem Schädel (Agnes! Wie gräßlich!) noch die Zunge übrig geblieben ist? Denke dir: der Führer fährt mit seinem Finger über diese Zunge, die wie ein brauner Lederzipfel aussieht und krk, krk! macht. Unglücklicher Canonico! Er war gewiß ein Lügner oder Verleumder. Aber daß er nun noch nach mehr als hundert Jahren vor jedem Touristen mit der Zunge schnalzen muß, das ist zu grausam. (Weißt du, an wen ich dachte, Agnes, der es verdiente, hier hundert Jahre nach seinem Tode an der Zunge gezupft zu werden? Du kennst den braven Herrn mit dem Spitzbarte.) – Giulio durfte ein paar Bilder machen, und ich mußte mich natürlich nun auch noch mit Leichen photographieren lassen, aber zum Glück hat er die Maschine falsch gerichtet, und so bin ich nicht mit auf die Leichenplatte gekommen, grazie al Dio! Ich hätte neben einem Herren erscheinen sollen, der in einem Glassarge liegt (seit 1848) mit einer Hauskappe auf dem Kopfe, und hat noch seinen roten Bart. Agnes! Scheußlich! Aber noch gräßlicher sind Kinder mit eingesetzten Glasaugen. Die Lippen sind noch rot! Auch die Haut ist noch da, aber natürlich wie Leder. Und ein Mädchen hatte baumwollne weiße Handschuhe an und stand in einem Glassarge. Unten hing ein Cartello mit ihrem Namen, Geburtstag und Todesjahr. Sie wäre jetzt so alt wie ich. Und, denke dir, immer an ihrem Geburtstage kommt ihre alte Mutter und besucht sie und sagt: mia bella bambina! mia bella bambina! und weint. Wie ist das möglich! Aber gerade deshalb haben die Leute hier fast rivoluzione gemacht, wie es in den achtziger Jahren verboten wurde, sich bei den Kapuzinern an der Luft trocknen zu lassen! Sie wollen durchaus ihre Verstorbenen sehen dürfen! (Jetzt dürfen es nur noch die Kapuziner. Erst hängt man die Leichen nackt in einem besonderen Zimmer auf. Dort trocknen sie ein Jahr lang aus. Dann werden sie angezogen und in den Gängen aufgehängt oder in Glassärge gelegt.) Das Schauderhafteste ist, daß die Leichen sich bewegen, wenn anderes Wetter wird. Früher, wo sie nur am Kragen (Agnes!) aufgehängt waren, drehten sie sich manchmal ganz um. Ein Engländer wurde verrückt, wie er das sah, denn er stand gerade vor einer Leiche, als die sich förmlich über ihn hinwarf. Seitdem sind alle auch an der Taille fest gebunden. Aber mit den Armen schlenkern sie doch noch zuweilen. Gott sei Dank, daß sich das Wetter nicht änderte, wie ich da unten war!«


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