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Die Bombe platzt!

Der Verhandlungsbeginn war wieder auf zehn Uhr festgesetzt, aber schon eine Stunde vorher umstand eine unübersehbare Menschenmenge das Gerichtsgebäude. Konnte man schon nicht in den Saal hinein, so wollte man doch durch die ein und aus gehenden Berichterstatter und durch Gerichtsdiener, die Zigarren nicht unzugänglich waren, allemal erfahren, was vor sich ging. Ganz Berlin fieberte ja in Aufregung, es gab keinen anderen Gesprächsstoff, sogar in den Schulen wirkte die Spannung unter den Schülern und Lehrern störend auf den Unterricht.

Würde Hartwig ein glattes Geständnis ablegen? Vielleicht sogar ein Geständnis von mehr Morden, als ihm nachgewiesen worden waren? Oder würde es zu einer ungeheuren Überraschung kommen, sich herausstellen, daß nicht Hartwig der Mörder ist, sondern ein anderer, den er retten will? Wüste Gerüchte begannen sich zu verbreiten. Hartwig hat in seiner Zelle Selbstmord begangen! Nein, er lebt, aber ist in Tobsucht verfallen! Plötzlich von Mund zu Mund: Der Reichskanzler kommt, um der Verhandlung beizuwohnen und den Mörder gleich nach dem Urteilsspruch zu begnadigen!

Die Automobile und Droschken rollten mit den glücklichen Besitzern von Einlaßkarten vor. Und immer neue Persönlichkeiten kamen, die man nicht abweisen konnte, so daß hinter den Sitzreihen im Schwurgerichtssaal ein Stehparterre entstand. Hohe Generäle, bedeutende Parlamentarier, berühmte Dichter und Publizisten. Im letzten Augenblick, Punkt zehn Uhr, wurde wirklich gemeldet, daß der Reichskanzler in Gesellschaft des Reichstagspräsidenten erschienen sei. Für die beiden Herren wurden Stühle dicht neben die Bank des Angeklagten eingeschoben.

Nun betrat der Gerichtshof den Saal, sammelten sich die Geschwornen, wurde der Angeklagte hereingeführt. Alle waren blaß, übernächtig erregt. Hartwig, nicht weniger als der Präsident, der Staatsanwalt und sein Verteidiger. Sogar der Entenschnabel zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe und ließ kein Auge vom Reichskanzler. Welche Ehre, welch ereignisreicher Tag für den Stammtisch!

In dem Augenblick, als der Präsident die Verhandlung für eröffnet erklärte, sprang Joachim von Dengern vor. Der Präsident gab ihm das Wort.

Joachim von Dengern stand starr und unbeweglich da, hielt die Augen halb geschlossen und begann mit lauter, aber eintöniger Stimme, als wurde es sich um Gleichgültiges und Selbstverständliches handeln:

»Ich habe gestern gesagt, daß ich noch einige wichtige Erhebungen vorhabe. Diese Erhebungen sind mir voll und ganz geglückt und ich bedauere nur, daß ich zu der abschließenden Erkenntnis, die ich jetzt besitze, nicht schon früher gekommen bin, weil ich dann dem hohen Gerichtshof und den Herren Geschwornen sowie den Zeugen diesen Prozeß hätte ersparen können.«

Hört!-Hört!-Rufe, Unruhe, der Präsident schlägt auf den Tisch und bittet die Anwesenden, sich jeder Störung zu enthalten. Dengern aber fährt fort:

»Herr Präsident werden mir wohl gestatten, ein wenig ausführlich zu sein und in großen Zügen das Ergebnis meiner Nachforschungen, die ich seit Monaten unter stetem Zweifel und schweren Bedenken betrieben habe, zu rekapitulieren. Vorweg möchte ich nur betonen, daß wir alle leider von allem Anfang an von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Die Polizei, der Untersuchungsrichter, die Staatsanwaltschaft und nun dieses Gericht haben die Überzeugung gehabt und haben sie zum Teile noch, daß fünf Frauen verschwunden sind, die von einem Unhold ermordet wurden. Dem ist aber nicht so. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um fünf Mädchen, sondern immer um ein und dasselbe, und dieses eine Mädchen ist gar nicht verschwunden, wurde nicht ermordet, sondern lebt und befindet sich in diesem Augenblick draußen auf dem Korridor, wo es seiner Vernehmung harrt.«

Der Tumult, der nach diesen Worten ausbrach, läßt sich nicht schildern. Die Richter, die Geschwornen, die Zuhörer sprangen auf, ein wüstes Durcheinander entstand, Rufe wie »Unerhört!«, »Der Kerl ist wahnsinnig geworden!« wurden laut, der Präsident mußte sich heiser schreien, um endlich die Ruhe und Ordnung halbwegs wieder herzustellen. Und nun richteten sich sämtliche Blicke Hartwig zu, der mit gekreuzten Armen und von Purpurröte übergossenem Gesicht dasaß und hilflos verlegen lächelte. Der Präsident: »Ich begreife die Erregung aller Anwesenden, muß aber nun denn doch um volle Ruhe bitten, da ich sonst gezwungen wäre, den Saal räumen zu lassen.« Der Staatsanwalt hielt nicht länger an sich, er fühlte das dringende Bedürfnis, ebenfalls seinen Senf dazuzugeben, und sagte mit knarrender Stimme:

»Herr Kriminalkommissär, Ich muß Sie wohl nicht nachdrücklich daran erinnern, daß jedes Ihrer Worte unter Eid steht!«

»Nein, das müssen Sie nicht, Herr Staatsanwalt.« Stille Heiterkeit flog durch den Raum. Dengern sprach weiter:

»Ich möchte jetzt feststellen, daß ich von dem Augenblick an, da mir die Polizei die Nachforschung nach dem vermutlichen Frauenmörder übertrug, von starken Bedenken gequält wurde. Gestatten Sie, daß ich zurückgreife. Fünf Berliner Vermieterinnen zeigten das Verschwinden ihrer Mieterinnen an. Die Namen der fünf sind von einer lächerlichen Häufigkeit. Namen, die in Berlin zu vielen Hunderten, im kleinsten deutschen Städtchen aber dutzendweise vorkommen. Gut, Zufall oder System des Mörders, sich Opfer mit solchen häufigen Namen auszusuchen. Wir ließen uns von den Frauen die verschwundenen Mädchen beschreiben. Es kam nicht viel dabei heraus. Braun, schwarz, rötlich, Zwicker – aber kein besonderes Merkmal. Vergebens wartete ich auf ein erlösendes Wort, auf eine greifbare Sonderheit, auf schielende Augen, ein Hinken, eine auffällige Nase, einen Mund, den man sich merkt. Die Größe, die Figur? fragten wir ungeduldig. Wieder farblose Antworten. Schlank, mittelschlank, das Fräulein Cohen sogar üppig. Alles schließlich Ansichtssache und veränderlich. Aber mittelgroß! Dieses Wort kam von jeder der fünf Vermieterinnen, jede war sich auch auf eindringliches Befragen darüber klar, daß die Verschwundene nicht besonders groß, nicht besonders klein, sondern mittelgroß gewesen sei.

Das gab mir zu denken, erweckte zuerst unklare, kaum die Schwelle des Bewußtseins erreichende Zweifel in mir. Ich stellte mich an einem der nächsten Tage an der Ecke der Linden- und der Friedrichstraße auf und ließ eine volle Stunde hindurch die Menschen an mir vorbeigehen. Teilte immer je fünf vorbeieilende Frauen in eine Gruppe ein und kam zu folgendem Resultat: Hundert Fünfergruppen zogen an mir vorbei und nicht ein einziges Mal kam es vor, daß jede Gruppe aus mittelgroßen Frauen bestanden hätte. Immer mindestens eine Frau war sehr groß oder sehr klein. Immerhin – ich zerstreute gewaltsam meine Bedenken, ließ die Zweifel nicht aufkommen, gab dem Zufall, dieser bequemsten aller Ausreden, schuld.

Noch etwas hatte mich stutzig gemacht. Die eine der Frauen betonte, daß ihre Mieterin auffallend kleine Füße gehabt habe, so kleine, daß das Dienstmädchen seine Verwunderung über die Kleinheit der Schuhe aussprach. Während dieser Erklärung lagen die zurückgebliebenen Gegenstände der Verschwundenen vor uns. Ich durchforschte rasch die Sachen des Mädchens mit den kleinen Fußen und stieß auf zerrissene Strümpfe Nummer zwei und auf elende, zertretene Halbschuhe, die mir sehr groß erschienen und nachher von einem Schuhmacher als Nummer einundvierzig erkannt wurden. Wie kam ein Mädchen mit auffallend kleinen Füßen zu solch auffallend großem Schuhwerk? Leider entwickelte ich meine Bedenken nicht logisch fort, sondern irrte ab und sagte mir: Diese Grete Möller ist ein armes Ding, das froh war, wenn ihm bei diesen teuren Zeiten einmal eine Dame ein Paar Schuhe schenkte. Heute sehe ich ein, daß die Schlußfolgerung leichtfertig und ein arger Verstoß gegen die Erkenntnis der weiblichen Mentalität war. Ich hätte mir sagen müssen, daß ein Mädchen mit kleinen Füßen eher hungern wird, als plumpe, große Schuhe tragen.«

Vereinzeltes Lachen unterbrach die Totenstille. Der Reichskanzler aber murmelte in tiefem Baß dem Reichstagspräsidenten zu: »Der reinste Sherlock Holmes.«

Dengern sprach ruhig weiter.

»Und noch etwas: Der trostlose Zustand der hinterlassenen Kleidungsstücke aller Verschwundenen war ein unantastbarer Beweis für ihre Armut. Und doch hatte jede für längere Zeit die Miete vorausbezahlt. Auch das war auffällig und erweckte ein unbehagliches, unsicheres Gefühl in mir. Da ich aber um jeden Preis an einen Frauenmörder glauben wollte, unterdrückte ich dieses wie jedes andere Bedenken und begann nach einer Fährte zu suchen. Was weiter geschah, habe ich bei meiner gestrigen Vernehmung ausführlich geschildert. Mit unerhörter Ungeschicklichkeit lief mir der, Mann in die Arme, der die Heiratsannonce unter der Chiffre »Idylle an der Havel« aufgegeben hatte. Mit einer Unvorsichtigkeit, die mir wieder verdächtig erschien. Aber Beweis reihte sich an Beweis, alles stimmte und klappte, das Material war erdrückend, so sehr, daß es jeden Zweifel in mir erstickte. Auf dem Umweg über eine junge Dame, Redaktionssekretärin des »Herold«, machte ich die Bekanntschaft des Thomas Hartwig. Diese junge Dame, Fräulein Lotte Fröhlich, wurde von mir in den Fall Hartwig nicht verwickelt. Einerseits, weil ich dies Hartwig bei seiner Verhaftung versprochen, andererseits, weil ich sie für absolut unbeteiligt an den Verbrechen Hartwigs gehalten hatte. Tatsachlich würde sich nicht das geringste geändert haben, wenn ich sie als Zeugin vorgeführt hätte.

Nachdem ich mit Thomas Hartwig eingehend unter falscher Flagge gesprochen und ihn dann verhaftet hatte, waren mir die Motive seines entsetzlichen Handelns ziemlich klar. Ein sentimentaler Mensch, Schwärmer, romantisch veranlagt. Solche Leute sind leicht geneigt, das Unwahrscheinlichste zu tun, Heldentaten ebensogut wie Verbrechen. Sie lassen sich kreuzigen, aber sie sind auch fähig, Bomben zu werfen. Das Besondere an Hartwig aber: Er weiß, daß er ein großer Könner, ein genialer Dichter ist, und sieht dabei keine Möglichkeit, den Wall von Hindernissen, die sich ihm entgegenstellen, zu übersteigen. Sein Buch wird nicht gelesen, sein Stück nicht aufgeführt, er hat kein Geld, oft nicht satt zu essen, ist schwächlich, fühlt, daß er das elende Leben nicht lange ertragen kann, wird von dem Gedanken geschreckt, das Erbteil seiner Mutter, Lungentuberkulose, könnte auch ihn erfassen, wenn er nicht in die Lage kommt, sich kräftig zu nähren, gut zu leben. Dazu kommt noch sein Verhältnis zu Lotte Fröhlich, einem schönen, alle Sinne reizenden, klugen Geschöpf, das er ebenso liebt wie es ihn. Er wird immer verzagter, aber auch seine Entschlossenheit wächst, durch eine Gewalttat seine Lage zu verbessern, so daß er ausharren, seinen Roman und das Drama durchsetzen Lotte heiraten kann. Und da er, wie er mir ja auch im Gespräch sagte, seinen eigenen Wert hoch über den anderer Menschen stellte, war er schließlich zu jedem Verbrechen bereit.

Zu jedem, aber zu welchem Verbrechen? Einen Raubmord begehen – das ist leicht gesagt, aber schwer getan! Zu jedem erträgnisreichen Verbrechen gehören Genossen, Vorschule, besondere verbrecherische Eigenschaften. Nichts von dem hat Hartwig. Und er mag lange genug gegrübelt und nachgedacht haben, bis er auf die entsetzliche Idee kam, sich die leichtesten Opfer, heiratstolle, alleinstehende Mädchen auszusuchen.«

Eine Atempause, in der sich auch die Erregung der Zuhörer Luft machte. Wohinaus wollte dieser unheimliche Dengern? War nun Hartwig der Mörder oder nicht? Fragend sah der Reichskanzler den Präsidenten an, dieser zuckte die Achseln. Hartwig aber war jetzt ganz blaß und hielt den Kopf so gebeugt, daß man sein Gesicht nicht sah. Dengern sprach weiter.

»Trotz dieser logischen Kette packten mich immer wieder neue Zweifel, schrie immer wieder eine innere Stimme mir zu: Thomas Hartwig ist kein Mörder! Schlimme Tage und schlaflose Nächte kamen für mich, ich begann tastende Versuche nach anderen Richtungen zu machen, forschte abermals auf eigene Faust nach Spuren der Verschwundenen – alles vergebens, alles wies auf Hartwig hin, der nicht sprechen wollte, nicht leugnete und nicht gestand.

Eines Tages kam ich dem Rätsel gewaltig näher, nur daß ich leider die Lösung mißverstand. Ich schlich mich in das Zimmer, das Fräulein Lotte bewohnt, hatte aber wenig mehr als drei oder vier Minuten Gelegenheit, mich in ihm allein aufzuhalten. Es fiel mir nichts Besonderes auf: fast instinktiv griff ich nach Büchern, die auf einem kleinen Ständer lagen und bekam zufällig einen alten französischen Roman in die Hand, den, wie ich aus dem Exlibris ersah, Hartwig seiner Geliebten geborgt haben mochte. Ich schlug ohne Zweck und Ziel das Buch auf, stieß an eine Stelle, die mit Bleifeder angestrichen und an der Seite mit einem Ausrufungszeichen versehen war. Blitzschnell las ich den Satz. Er lautete:

'Damals war ich so weit, daß ich einen Mord hätte begehen können, nur um aus dem Dunkel emporzusteigen.'

An der Seite aber stand neben dem Ausrufungszeichen mit Bleifeder geschrieben: ›Vielleicht eine Lösung auch für uns!‹

Nun aber muß ich mich selbst sträflichen Leichtsinnes beschuldigen. Es wäre meine Pflicht gewesen, das Buch einzustecken und auf seinen Inhalt sowohl als auf die Autorschaft der Randbemerkung zu untersuchen. Ich tat dies nicht, weil ich keinen Grund zu haben glaubte, Lotte Fröhlich hereinzuziehen und die Bemerkung, die ich ohne weiteres Hartwig zuschob, nur als kleines Glied in meiner Beweiskette einschätzte. Vielleicht daß er durch dieses Buch auf die Idee, Frauen zu ermorden, gekommen war. Aber wie belanglos wäre dies schließlich der nüchternen Justiz gegenüber gewesen!

Die Untersuchung gegen Hartwig ging ihrem Ende entgegen, die Staatsanwaltschaft erhob die Anklage, der Prozeßtermin wurde festgesetzt. Mir war während dieser ganzen Zeit recht übel zumute, und je öfters mir der Herr Staatsanwalt versicherte, daß das Beweismaterial gegen Hartwig erdrückend sei, desto schwerer wurden meine Bedenken. Immer sah ich die blauen, gütigen Knabenaugen Hartwigs auf mich gerichtet, die mir zu sagen schienen: Du Narr, du, glaubst du wirklich, daß ein Mensch wie ich die Fähigkeit hat, armselige Frauen, die ihm kein Leid getan, zu erwürgen, in den Fluß zu werfen, zu vergraben? Wo bleibt deine Menschenkenntnis? Sagst du dir nicht, daß ein Mann wie ich vielleicht einem Impuls folgend ein großes Verbrechen begehen kann, nicht aber fünf überlegte Morde hintereinander?

Einen Tag vor dem Beginn des Prozesses war ich so weit, daß ich aus dem Polizeidienst austreten und öffentlich meine Überzeugung von der Unschuld Hartwigs erklären wollte. In dieser Stimmung begab ich mich hieher, ließ mir nochmals die Briefe der Verschwundenen geben, um sie Buchstaben auf Buchstaben zu prüfen. Es fiel mir wieder nichts an ihnen auf und gegen meine Überzeugung brachte ich sie einem bekannten Graphologen, der auch vor Gericht oft als Sachverständiger erscheint. Ich halte von Graphologie nicht so viel wie die meisten meiner Berufsgenossen, bin überzeugt davon, daß in zahllosen Fällen die Art der Handschrift viel mehr von dem Schreiblehrer beeinflußt ist als vom Charakter, und weiß, daß mancher Justizirrtum auf graphologische Urteile zurückzuführen ist. Auch Professor Hennes, der Graphologe, den ich aufsuchte, konnte mir nichts Wesentliches sagen. ›Es sind die manierierten, affektierten Schriftzüge von Frauen, die sorgfältig schreiben, um auch mit ihrer Schrift einen guten Eindruck zu erwecken,‹ sagte Professor Hennes. ›Würde es sich um Tagebuchblätter, die nicht für eine zweite Person bestimmt sind, handeln, so ließe sich allerlei herauslesen. Immerhin – etwas fällt mir auf: In allen fünf Briefen liegt der Schlußpunkt nach jedem Satz nicht so tief, wie er sollte, sondern um etwa einen Millimeter zu hoch. Aber das ist nicht so selten und gestattet keine weitgehenden Schlüsse.‹

So der Graphologe. Mir aber kamen allerlei seltsame Gedanken, ich ahnte neue Möglichkeiten. Die fünf Briefe waren vom dritten Juni datiert, dem Tag, an dem die Anzeige im ›Generalanzeiger‹ erschienen war. Die Poststempel hatte ich kaum beachtet, da sie überaus verwaschen und undeutlich waren. Allerdings hatte ich aus drei der Poststempel ersehen, daß die Briefe von dem Postamt Berlin SW 8 behandelt und abgestempelt worden waren, was aber schließlich ganz bedeutungslos ist. Nunmehr aber, durch die Worte des Graphologen auf eine neue Möglichkeit gebracht, nahm ich bei mir zu Hause ein Vergrößerungsglas zur Hand und konnte feststellen, daß alle fünf Briefe Berlin SW 8 aufgegeben waren. Bei drei Briefen konnte ich auch den Datumstempel 3. VI. entziffern, also dritter Juni. Bei den restlichen zwei Briefen war der Datumstempel so undeutlich, daß ich keine genaue Feststellung machen konnte. Je länger ich aber durch mein Vergrößerungsglas auf die blassen, kaum angedeuteten Zeichen sah, desto stärker wurde in mir die Überzeugung, daß es auf diesen zwei Briefen nicht 3. VI., sondern 2. VI. hieß.

Fiebernd vor Erregung, fuhr ich zur Postdirektion, um dort die Stempel untersuchen zu lassen. Die Postdirektion hat für solche Zwecke außerordentlich feine, scharfe Vergrößerungsapparate und andere Vorrichtungen. Herr Oberpostrat Wüllner nahm sich der Sache an und untersuchte die Briefumschläge bei scharfer Beleuchtung unter dem Vergrößerungsapparat. Um ihn nicht zu beeinflussen, hatte ich ihm nicht gesagt, um was es sich handle. Nach wenigen Minuten teilte er mir mit, daß die beiden strittigen Briefe ganz zweifellos am zweiten Juni innerhalb des Postdistriktes SW 8 aufgegeben worden seien. Mich ergriff ein Schwindel, ich mußte mich an einen Stuhl anhalten, um nicht zu taumeln. Bat, mich selbst überzeugen zu dürfen, und sah alsbald im grellen Licht und unter dreißigfacher Vergrößerung deutlich und klar die durch den Stempelaufdruck hervorgerufene Trübung und Vertiefung im Papier der Marke, deren Konturen einen 2. VI. darstellten.

Es war also absolut jedem Zweifel entzogen, daß zwei der fünf Briefe am zweiten Juni, am Tage vor dem Erscheinen der Annonce, aufgegeben worden waren!«

Dengern stieß diese Worte laut hervor, seine Ruhe schien ihn verlassen zu haben, und das Publikum war nicht mehr zu halten, brüllte auf, schrie, gestikulierte. Minuten vergingen, bevor Joachim von Dengern weitersprechen konnte.

»Was bedeutete es, daß zwei der Verschwundenen die Annonce hatten beantworten können, bevor sie erschienen war? Einfach, daß sie im vollen Einverständnis mit dem angeblichen Mörder handelten, daß sie späterhin verschwinden wollten, daß die Briefe gefunden werden sollten und Hartwig als mutmaßlicher Mörder verhaftet werden mußte! Mit einem Schlag, blitzartig, im Bruchteil einer Sekunde stand nun alles weitere in mir fest:

Nicht um einen fünffachen Mord handelte es sich, sondern um eine fünffache Komödie, zu dem Zweck gespielt, Thomas Hartwig aus dem Dunkel emporzureißen, ihn zum Mittelpunkt einer ungeheuren Sensation zu machen, die logischerweise bewirken mußte, daß sein Roman gelesen, sein Drama aufgeführt werde! Und nun verstand ich es, warum sich niemand von den Angehörigen der angeblichen Müller, Möller, Jensen, Pfeiffer und Cohen melden wollte, warum Hartwig weder gestand noch leugnete, warum er die Erstaufführung seines Dramas mit dem Prozeß zusammenfallen ließ, warum das Mädchen mit den kleinen Füßen große Schuhe zurückließ, warum alle fünf mittelgroß waren. Diese fünf waren eben ein und dieselbe Person und diese eine Person konnte niemand anderer sein als die Braut und Geliebte Hartwigs, Fräulein Lotte Fröhlich.«

Dengern wischte sich den Schweiß von der Stirn, ließ die Aufregung verebben, bevor er weitersprach.

»Es wäre nun vielleicht meine Pflicht gewesen, alles dies der Staatsanwaltschaft mitzuteilen und den Prozeß zu verhindern. Da ich aber meine Pflicht nicht mechanisch auffasse, tat ich dies nicht, sondern wartete die Entwicklung des ersten Prozeßtages ab, weil dadurch die Affäre viel rascher zum Abschluß kommen konnte als durch eine Wiederaufnahme der Untersuchung und Vertagung des Prozesses. Und außerdem wollte ich mir nun auch die exakten Beweise für das, was ich wußte, verschaffen. Dazu benützte ich den gestrigen Abend. Mit Recht nahm ich an, daß Fräulein Fröhlich mit ihrer Wirtin der Erstaufführung des Dramas im Kleist-Theater beiwohnen würde. Kaum hatten sie sich vom Hause entfernt, als ich in die Wohnung eindrang und das Zimmer der jungen Dame gründlich untersuchte. Das ging rascher, als ich gehofft. In einem Schubfach fand ich braune, rötliche, tiefschwarze Chignons, einen Zwicker mit Fensterglas und Geflechte aus Fischbein und Stoff, die ersichtlicherweise einen üppigen Busen vortäuschen sollten, wie ihn die angebliche Selma Cohen gehabt hatte. Zwischen den Löschblättern der Schreibunterlage auf dem Schreibtisch aber lag eine ausgeschnittene Anzeige, in der der Trödler Goldlust in der Chausseestraße seinen Vorrat an Frauenkleidung, Wäsche, Schuhen und so weiter anpries. Ich steckte noch ein vorgefundenes Lichtbild des Fräuleins Fröhlich ein, sowie das französische Buch und fuhr zu dem Trödler. Auch hier klappte alles. Der Trödler erkannte nach dem Bilde sofort die auffallend schöne, junge Dame, die vor etlichen Monaten wahllos die schäbigsten alten Sachen sowie etliche alte, defekte Handkoffer und Taschen bei ihm gekauft und sich alles nach ihrer Wohnung am Lützow-Ufer hatte bringen lassen. In seinen Büchern fand er auch ohne weiters den Namen und die Adresse des Fräuleins Lotte Fröhlich.

Ich wohnte der Premiere im Kleist-Theater bei, überzeugte mich in den Pausen, daß die Randbemerkung in dem französischen Roman nicht die Handschrift Hartwigs, sondern die einer Frau sei und sagte nach Schluß der Vorstellung Fräulein Fröhlich auf den Kopf zu, daß sie mit den verschwundenen Mädchen identisch und die Mitspielerin bei einer beispiellosen Komödie sei. Fräulein Fröhlich lachte hell auf, versuchte gar nicht zu leugnen, folgte mir in ein Weinrestaurant und erzählte mir dort frisch und frei die ganze Geschichte. Die junge Dame befindet sich im Gerichtsgebäude und wird ihre Aussagen vor dem hohen Gerichtshof wiederholen. Und auch Herr Hartwig wird ja nun wohl sprechen und es mir nicht übel nehmen, wenn ich ihm mit den Enthüllungen, die er machen wollte, zuvorgekommen bin!«


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