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Selma Cohen als Fünfte

Der Chef der Kriminalpolizei hatte mit seiner Vermutung nur zu recht gehabt. Das Aufsehen, das die Mitteilungen der Polizei über das spurlose Verschwinden von vier Mädchen machten, war enorm. Die Tatsache, daß man von den Mädchen selbst nicht das geringste wußte, das Geheimnis, das den blonden Mann mit dem Kneifer umhüllte, die Möglichkeit, daß sich noch andere Frauen unter seinen Opfern befänden, das alles wirkte aufregend, entzündete die Phantasie, war Lesestoff, den die Berliner mit Gier verschlangen. Und die Zeitungen taten das ihrige, um den Fall auszuschlachten, überboten einander in schreienden Überschriften, machten, je nachdem, aus dem blonden Mann einen Blaubart, einen Aufschlitzer, einen perversen Wüstling. Aber sie unterstützten auch die Polizei nach besten Kräften, indem sie ihre Korrespondenten in Hamburg und München alarmierten und Berichterstatter nach Ketzin schickten, um dort Nachforschungen anzustellen. Über Nacht wurde aus dem freundlichen, aber verschlafenen Städtchen eine Weltberühmtheit, die Berichterstatter schilderten das Rathaus, den Marktplatz, die Kirchen, die Gasthöfe mit allen Details, nur von dem blonden Mann und seinen Bräuten konnten sie nichts melden. Wohl war im Laufe der letzten Wochen im Gasthof »Zum Löwen« oder im Hotel Bismarck hier und da ein Liebespärchen eingekehrt, das die Aufmerksamkeit der guten Ketziner erregt hatte, wohl wollten die Klatschbasen von Ketzin einmal ein fremdes Mädchen mit einem blonden Herrn gesehen haben, der einen unheimlichen Blick an sich hatte, aber bei näherer Nachforschung stellte sich alles als Phantasie oder Harmlosigkeit heraus.

Auch die Polizei war durchaus nicht müßig. Sie forschte in Hamburg und in allen bayerischen Städten, sie blätterte sämtliche Schiffslisten des letzten Jahres durch, sie schrieb enorme Belohnungen aus, sie ließ ihre tüchtigsten Detektive in Begleitung glänzend dressierter Polizeihunde die ganze Umgebung von Ketzin, die Auen längs der Havel, die Wälder, den Strom selbst durchsuchen – alles vergebens! Niemand meldete sich, der eines der Mädchen gekannt hätte, nirgends wurde eine Spur gefunden, man tappte völlig im Dunkeln.

Nur, daß sich sehr bald den vier Fällen ein fünfter zugesellte. Wenige Tage nach dem Erscheinen der ersten Zeitungsberichte meldete sich bei Dr. Clusius eine Frau Rosenbaum, die unweit des Nollendorfplatzes wohnte und Zimmer vermietete. Sie gab an, daß am 8. Juli bei ihr eine junge Dame gemietet habe, die Selma Cohen hieß und laut Meldeschein 24 Jahre alt und in Berlin geboren war. Fräulein Cohen hatte erzählt, daß sie sich seit Jahren mit einer leidenden Dame auf Reisen befunden habe und nun in Berlin bis zu ihrer Verheiratung bleiben wolle. Sie sei nämlich mit einem Herrn verlobt, der im Begriff sei, unweit von Berlin an der Havel ein kleines Landgut zu kaufen. Frau Rosenbaum hatte ihre Mieterin nur einmal gesehen und schilderte sie als auffällig üppig und wahrscheinlich schwarzhaarig. Mehr wußte sie nicht, da Fräulein Cohen einen dichten Schleier trug. Die Mieterin, die mit unverkennbar jüdischem Jargon sprach, habe die Miete für einen Monat gezahlt und sei am anderen Tag zeitlich morgens mit einer Handtasche eingezogen, ohne von jemandem gesehen worden zu sein, da sie gleich nach der Bezahlung der Miete den Schlüssel bekommen habe. Am selben Vormittag habe sich Fräulein Cohen mit der Handtasche wieder entfernt und ihr, Frau Rosenbaum, die sich gerade im Badezimmer aufgehalten, durch die Tür mitgeteilt, daß sie mit ihrem Bräutigam verreise, aber unbedingt am nächsten Tag wieder zurück sein werde. Sie kam nicht mehr, aber da sie ihr Gepäck mitgenommen hatte, habe sie keinen Anlaß zu Befürchtungen gehabt, sondern geglaubt, daß das Fräulein sich die Sache überlegt und unter Verzicht auf die Zimmermiete irgendwo anders eingezogen sei. Erst die alarmierenden Zeitungsartikel hatten sie veranlaßt, die Anzeige zu erstatten. Nunmehr war allerdings kaum ein Zweifel vorhanden, daß auch Fräulein Selma Cohen von dem blonden Ungeheuer verschleppt worden war.

Nachdem Dr. Clusius dem Krause das Protokoll vorgelesen hatte, pfiff dieser vor sich hin und fuhr sich mit der schlanken, mageren Hand nervös durch das angegraute Haar.

»Nun beginnt die Geschichte grotesk zu werden. Ein fünftes Frauenzimmer und diesmal gar eines, das ausgerechnet Cohen heißt! Ebensogut konnte sie gar keinen Namen haben! Andererseits gibt es in ganz Deutschland kein jüdisches Mädchen ohne Verwandte, und es müßte doch der Teufel seine Hand im Spiel haben, wenn sich nach Veröffentlichung dieses neuen Falles nicht irgend ein Onkel oder Vetter oder Schwager melden würde!«

Aber der Teufel hatte wohl seine Hand im Spiel, denn der Fall Selma Cohen erregte zwar abermals gewaltiges Aufsehen, aber niemand aus dem Kreise des Mädchens meldete sich.

Krause hatte indessen, während die Zeitungen nachgerade ungeduldig wurden und mit Sticheleien gegen die Polizei begannen, durchaus nicht die Hände in den Schoß gelegt. Nachdem alle Nachforschungen nach Verwandten oder Bekannten der fünf verschwundenen Mädchen erfolglos geblieben waren, schien es ihm klar, daß in dieser Richtung vorläufig nichts zu tun sei. Und er sagte sich während eines stundenlangen Morgenspazierganges im Tiergarten:

»Es ist ersichtlich, daß der blonde Kerl in geradezu genialer Weise sich solche Mädchen als Opfer ausgesucht hat, die keinen Anhang, keine feste Heimat, keine Bodenständigkeit haben, sondern wie die Spreu im Winde durch Not oder Schicksal irgendwo zufällig sind. Ich kann also nicht nach den Mädchen suchen, sondern nur nach dem Mann, und das nur dadurch, daß ich ergründe, wie und auf welchen Wegen er zu seinen Bräuten gekommen ist. Da gäbe es nun allerlei Möglichkeiten. Er kann sie in Konditoreien, Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Tanzsälen kennen gelernt haben. Unwahrscheinlich, erstens, weil nach den Schilderungen der Vermieterinnen alle diese Mädchen einen durchaus soliden Eindruck machten, zweitens, weil der Kerl ja mit zehntausend Weibern hätte anbandeln müssen, um gerade jene herauszufinden, die Geld haben, vollständig allein stehen und geeignet sind, ihm ins Garn zu laufen. Nein, der Mann muß sozusagen unbeschränkte Wahl gehabt haben, er muß in der Lage gewesen sein, ganz unpersönlich und sachlich Mädchen herauszusuchen, die für ihn passen. Also schränken sich die weiteren Möglichkeiten auf zwei ein: Erstens auf berufsmäßige Heiratsvermittler, zweitens auf die Zeitungsannonce. Da ich aber nicht, um mich wie jener bekannte Bankier auszudrücken, ein Vogel bin, der auf zwei Stellen gleichzeitig sein kann, will ich zunächst der einen Möglichkeit nachgehen.«

Die nächsten Tage verbrachte Krause restlos bei Berliner Heiratsvermittlern. Die Frau Buchholz und die Frau Schulz, der Herr Dattelbaum und die Frau Pfefferminz, die Grün und die Blau und wie sie alle heißen, wurden von ihm als Heiratskandidat besucht. Er stellte sich immer als Ingenieur vor und erzählte immer dieselbe Geschichte. Er sei auf der Eisenbahn mit einem Herrn bekannt geworden, dessen Namen er sich leider nicht mehr entsinne. Dieser Herr habe sich eben durch Vermittlung der verehrten Madame verlobt, und zwar mit einem reizenden Mädchen, das nicht nur etwas Geld, sondern auch den besonderen Vorzug habe, ganz allein, ohne Anhang dazustehen. Er selbst möchte auf dieselbe Art sein Glück machen und spreche eben deshalb vor.

Auf diese Art und in längerem Gespräch erfuhr Krause dann fast immer die Namen der Glücklichen, die durch die Vermittlerin in der letzten Zeit »zusammengebracht« worden waren; er bekam Personsbeschreibungen der Freier und der Bräute, aber immer wieder mußte er sich enttäuscht entfernen. Es kam unter den Mädchen keine vor, die eine der Verschwundenen hätte sein können, unter den Bräutigamen war keiner, den man für einen Mörder halten konnte.

Nach acht Tagen war Krause überzeugt, daß er auf diese Art zu keinem Resultat kommen würde, und schließlich schien es ihm auch höchst unwahrscheinlich zu sein, daß der Blaubart unvorsichtig genug gewesen sein konnte, sich durch eine geschwätzige Heiratsvermittlerin gefährden zu lassen. Und so entschloß er sich, die zweite und letzte Möglichkeit zu ergründen. Gleich der erste Schritt sollte ihm einen entscheidenden Erfolg bringen.


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