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Das große Rätsel

Der vom Gericht zum Verteidiger Hartwigs bestimmte Rechtsanwalt Fritz Nagelstock nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er war jung, erst seit zwei Jahren Anwalt, kämpfte mit materiellen Schwierigkeiten, glaubte aber an sich und hatte längst auf einen Fall gewartet, der ihn berühmt machen könnte. Dieser Fall war nun da, einen stärkeren Sensationsprozeß hätte sich auch der bedeutendste Anwalt nicht wünschen können. Allerdings brachte ihn das Verhalten Hartwigs zur hellen Verzweiflung.

»Mensch,« sagte er ihm immer wieder, »spielen Sie doch nicht um Ihren Kopf! Sie haben nur den einen und der ist sehr wertvoll! Wenn Sie schon dem Untersuchungsrichter gegenüber nicht reden wollen, so müssen Sie doch mir alles beichten, damit ich meine Verteidigung aufbauen kann. Ganz Berlin, nein, ganz Europa interessiert sich für Sie, die Zeitungen veröffentlichen täglich seitenlange Artikel über Ihren Roman, über das Stück, Sie werden ja schon bei lebendigem Leib seziert. Nutzen Sie das, geben Sie mir die Möglichkeit, die Geschwornen von Ihrer abnormen Geistesbeschaffenheit zu überzeugen, und wir haben gewonnenes Spiel. Herr Hartwig, tatsächlich liegt bei Ihnen ja auch ganz zweifellos eine schwere Nervenstörung vor, ein psychischer und physischer Riß. Man ermordet doch nicht wegen lumpiger dreißig- oder vierzigtausend Mark fünf Frauenzimmer, wie man Hühner umbringt, um ihre Leber als Ragout zu genießen! Sagen Sie mir, was in Ihnen vorgegangen ist, erklären Sie mir die mystischen Triebe, unter denen Sie leiden, beschreiben Sie die Willenslähmung, von der Sie befallen worden sind, und lassen Sie das andere meine Sache sein. Kenne ich erst Ihr Geheimnis, so werde ich es zu werten wissen! Willenslähmung, Suggestion durch eine mystische Macht, Trübung des Bewußtseins, unwiderstehlicher Trieb – das sind wunderbare Sachen, Herr Hartwig! Man wird Sie nicht verurteilen, sondern nach Dalldorf bringen und dann nach einem Jahr als geheilt entlassen. Nun, in Dalldorf können Sie mit dem Vermögen, das Ihr Buch trägt und Ihr Drama einbringen wird, wie ein Fürst leben und zwei neue Stücke schreiben. Aber reden müssen Sie, Mensch, mir müssen Sie alles sagen!«

Auf welche Ergüsse Hartwig jedesmal ruhig lächelnd erwiderte:

»Ich werde Ihnen gar nichts sagen, lieber Herr Rechtsanwalt! Zunächst wünsche ich, daß die Staatsanwaltschaft mir meine Schuld beweist. Hat Sie dies getan, so werde ich vielleicht sprechen.«

Und dabei blieb es, und Nagelstock mußte sich sagen, daß diese Taktik gar nicht die dümmste sei. Denn in noch größerer Verlegenheit als er befand sich der erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin I, Hellmut Röhrich, der die Anklage vertreten mußte.

Ja, welche Anklage denn eigentlich? Zweifellos hatte Hartwig die Müller, die Möller, die Jensen, die Pfeiffer und die Cohen ermordet und beraubt. Also fünffacher Raubmord. Wo aber waren die »Corpora delicti«, wo die Leichen oder wenigstens Teile von ihnen oder zumindestens Gegenstände aus dem Besitz der Weiber, aus deren Beschaffenheit man auf Mord hätte schließen können? Vergebens hatte man wieder und immer wieder die ganze weitere Umgebung Berlins in einem Umkreis von hundert Kilometern, die Gehölze, die Seen und Flüsse abgesucht. Nichts hatte man gefunden. Auch die verschiedenen Haussuchungen im Zimmer Hartwigs und in der ganzen Wohnung der Frau Armbruster waren ergebnislos verlaufen. Nicht ein Band, nicht ein Schmuckstück, nichts fand sich vor, was einer der Ermordeten hätte gehören können. Und dazu kam noch, daß dieser Krause, seit er wieder Joachim von Dengern war, die Behörden vollständig im Stich ließ. Wohl blieb der Kriminalkommissär Dr. von Dengern des öfteren seinem Bureau ferne, weil er angeblich in Sachen Hartwigs Nachforschungen anstellte, in Wirklichkeit aber hatte man von ihm keine Hilfe mehr gefunden, der Fall Hartwig schien für ihn erledigt, er hüllte sich in eisiges Schweigen, und so oft der Staatsanwalt ihn zu sich bat, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, erklärte er immer wieder achselzuckend:

»Ich habe meine Schuldigkeit getan, tun Sie nun die Ihrige und erheben Sie getrost die Anklage.«

Bis eines Tages im Oktober der Staatsanwalt sich wirklich entschloß, die Anklage gegen Thomas Hartwig wegen Meuchelmord, begangen an Trude Müller, Grete Möller, Annemarie Jensen, Käte Pfeiffer und Selma Cohen zu erheben. Eine rein auf Indizien gestützte Anklage, wie sie eigenartiger, bedenklicher und doch schließlich begründeter kaum jemals in den Annalen der deutschen Rechtsgeschichte erhoben worden war.

Nagelstock aber rieb sich vergnügt die Hände. Er wußte ganz gut, daß er von vornherein Einspruch gegen die Klageerhebung hätte einlegen können, daß es schließlich nicht so unmöglich wäre, den Prozeß, wenn schon nicht zu verhindern, doch auf Monate hinaus vertagen zu lassen. Aber darum war es ihm nicht zu tun; er brauchte und wollte diesen Prozeß und je kühner die Anklage, desto größer die Möglichkeit eines Erfolges vor den Geschwornen. Nagelstock kannte den Roman Hartwigs schon fast auswendig; er besuchte nun auch noch alle Proben des Stückes »Drei Menschen«, er studierte Mantegazza und Lombroso und Krafft-Ebing, er korrespondierte mit Freud in Wien, konsultierte die bedeutendsten Psychoanalytiker der Welt, bewog Gelehrte aus Paris, London und Rom, sich als Sachverständige anzubieten, kurzum, er bereitete einen Prozeß vor, wie ihn die Welt noch nicht erlebt haben sollte.

Interessierte sich aber Dengern, seitdem er in Amt und Würden war, wirklich nicht mehr für den Fall Hartwig? Ließ er absichtlich die Anklagebehörde in Stich? Keineswegs! Ohne davon Aufhebens zu machen, forschte er weiter, tat das Möglichste, um die grauenhaften Verbrechen des Romanschriftstellers aufzuklären. Allerdings – er benahm sich nicht wie die Detektivhelden in den Romanen, er untersuchte nicht die Stiefelsohlen Hartwigs, um aus Erdklümpchen auf die Gegend zu schließen, in die der Mörder vielleicht Ausflüge gemacht hatte, er glaubte nicht an Wunder und geheime Spuren bildete sich nicht ein, auf eigene Faust Dinge zu entdecken, die Hunderten von braven, im Dienst erprobten Polizeibeamten und Gendarmen entgangen wären. Aber um so intensiver forschte er der Vergangenheit Hartwigs nach, fuhr nach Köln, um die Jugend des Mannes zu ergründen, nahm immer wieder die fünf Briefe der fünf verschwundenen Mädchen vor, konnte stundenlang ihre hinterlassenen Habseligkeiten betrachten und mustern.

In Köln machte Dengern unschwer Jugendgefährten Hartwigs ausfindig, die mit ihm dort das Gymnasium besucht hatten. Und nach vielen Besprechungen mit ehrsamen Kaufleuten, einem Apotheker, einem Rechtsanwalt, einem Arzt und einem Bummler, der sich als Versicherungsagent durchschlug, entwickelte der Kriminalkommissär folgendes Bild von dem Knaben Hartwig:

Ein wenig zaghaft und zurückhaltend, aber nie Spielverderber. Hilfsbereit den weniger begabten Kameraden gegenüber, für die er, wenn es sein mußte, bis in die Nacht hinein Aufsätze verfaßte. Hartwig was als Knabe und Jüngling jeder Roheit unfähig gewesen, hatte bei ernsten Prügeleien stets vermittelnd eingegriffen, konnte aber jähzornig werden, wenn er Tierquälereien beiwohnte. Den Verkehr mit seinem besten Freund hatte er aufgegeben, weil dieser nicht davon ablassen wollte, Käfer und Schmetterlinge für seine Sammlung zu fangen und zu präparieren.

Dengern bekam vom Rektor des Wilhelm-Gymnasiums in Köln die Erlaubnis, die zu Bündeln verpackten, verstaubten und vermoderten Schulhefte der früheren Jahrgänge zu durchstöbern, um deutsche Schulaufsätze Hartwigs zu finden. Stundenlang suchte er auf dem Dachboden des Gymnasiums in Staub und Spinnetzen, bis er die Hefte fand, in die vor fünfzehn, sechzehn Jahren Thomas Hartwig seine deutschen Arbeiten geschrieben hatte. Mit ihnen eilte er in sein Hotelzimmer und las alle diese gequälten, unnatürlichen und lebensfremden Stilübungen durch, die die Schule unter den Devisen »Schuld und Sühne der Jungfrau von Orleans«, »Das Leben ist kurz, spricht der Weise, spricht der Tor«, »Wie verbrachte ich meine Osterferien?« und so weiter verlangt. Immerhin – manch kühner, origineller Gedanke fiel ihm auf, vor allem aber die meisterhafte Beherrschung der Sprache und das peinliche Bestreben, unpathetisch zu bleiben und der Phrase aus dem Weg zu gehen.

Die glanzlosen, gleichgültigen Augen Dengerns belebten sich. »Was ist das größte Verbrechen, das der Mensch begehen kann?« lautete ein Thema in der Unterprima und Hartwig hatte es präzise, klar und logisch dahin bearbeitet, daß das verdammenswerteste Verbrechen die Vernichtung eines Lebens, der Mord sei. Durch den Mord, zu selbstsüchtigen Zwecken begangen, vernichtet man die ungeahntesten Möglichkeiten, begeht man ein Verbrechen gegen die ewige Harmonie der Natur, vergewaltigt man das Unverletzlichste. Jedes Verbrechen kann gesühnt und verziehen werden, nur der Mord nicht, weil der, der getötet wurde, nicht mehr Verzeihung gewähren kann. Man tötet einen Menschen und vernichtet dadurch nicht nur ihn selbst, sondern vielleicht auch eine große Idee, die dieser Mensch zum Segen der Welt entwickelt und ausgeführt hatte. Wehe der Mutter, die, um Not und Schande zu entgehen, ihr eben geborenes Knäblein tötet. Denn wer weiß, ob sie nicht in ihm einen neuen Heiland, nach dem die Welt lechzt, ermordet hat. Verzeihung allen armen Sündern, allen Gestrauchelten, allen Opfern eines unsinnigen sozialen Kampfes! Nur dem Mörder darf keine Verzeihung gegeben werden, weil fremdes Leben auslöschen, eine Welt vernichten heißt.«

Da der Unterprimaner Hartwig im weiteren Verlaufe des Aufsatzes auch den Krieg als Massenmord verdammt hatte, bekam er ein »Ungenügend« mit dem Zusatz »Wenig patriotisch gedacht!«

Dengern aber war tief ergriffen, steckte das Heft ein, schnitt sein unergründlichstes Gesicht und machte einen ausgedehnten Spaziergang den Rhein entlang, um allerlei Gedanken zu ordnen, Mit Lotte Fröhlich hatte Dengern wieder Verbindung gesucht, aber nicht gefunden. Er hatte ihr auf der Straße aufgelauert und sie angesprochen. Lotte, schön und lieblich wie nur je, wenn auch ein wenig blaß, pfauchte ihn wie eine Wildkatze an:

»Gehen Sie mir aus dem Weg, Sie abscheulicher Mensch! Sie haben sich an mich wie ein Dieb herangeschlichen, um mich auszuforschen. Das ist niedrig und gemein!«

Dengern lächelte müde.

»Sie haben so unrecht nicht, Fräulein Fröhlich, es ist wirklich kein schöner Beruf, Jagd auf Menschen machen zu müssen. Immerhin, es kann das auch seine guten Seiten haben, mein verehrtes, gnädiges Fräulein!«

Mit diesen Worten war Dengern davongeeilt und Lotte blieb ein wenig beschämt und verdutzt stehen.

Dengern machte dann die Bekanntschaft der Frau Lämmlein, bei der Lotte Fröhlich am Lützow-Ufer wohnte, und es gelang ihm, das Vertrauen der alten Dame zu erwerben, um so mehr, als er sich als Wein- und Likörreisender eingeführt hatte, der nie auf Aufträge drängte, aber immer nette, kleine Musterflaschen zur Verfügung stellte. Frau Lämmlein liebte ihre junge, schone Mieterin aufrichtig, fast mütterlich, aber in letzter Zeit nicht mehr so sehr wie einstens.

»Nein, diese jungen Mädchen von heute,« klagte sie. »Früher hieß es immer Hartwig hin und Hartwig her und wenn er mittags anrief, ließ sie den Suppenlöffel vor Eile fallen und ich dachte an eine große Liebe, die sicher früher oder später zur Ehe führen würde. Und nun, als dieser Unglücksmensch, der Hartwig, verhaftet wurde – glauben Sie, das Mädel wäre zusammen-gebrochen? Keine Spur, nicht einmal geweint hat es! ›Reden wir nicht davon,‹ sagte sie jedesmal abweisend, wenn ich sie trösten wollte! Herzlos, einfach herzlos, sage ich Ihnen!«

Dengern stellte noch andere Fragen, sprach bei jedem Besuch immer wieder über Fräulein Fröhlich, so daß Frau Lämmlein schließlich die Überzeugung gewann, der Weinagent liebe das Mädchen selbst. Um so mehr, als er sie einmal gebeten hatte, das Zimmer des Fräulein Fröhlich zu betreten, da er als Junggeselle noch nie Gelegenheit gehabt, so ein »Jungesmädelzimmer« zu sehen. Frau Lämmlein tat ihm den Gefallen, schon deshalb, weil sie diesmal eine Flasche Eierkognak als Muster erhalten hatte. Und da sie gerade in diesem Augenblick zum Fernsprecher gerufen wurde, hatte Dengern Gelegenheit, einige Minuten in Lottes Zimmer allein zu bleiben.


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